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Alt 29-04-2004, 23:03   #1
Switch
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Aufklärung über die amerikanische Wirtschaft

Der erfundene "Boom" der 90er Jahre


US-Wirtschaft. Dr. Kurt Richebächer ist Herausgeber des in den Vereinigten Staaten erscheinenden Wirtschaftsbriefes "Richebaecher Letter". In den 70er Jahren war er Generalbevollmächtigter der Dresdner Bank. Den folgenden Redetext legte er einer Konferenz des Zayed-Zentrums für Koordination und Abverfolgung vom 19.-20. August 2002 in Abu Dhabi vor, die unter dem Thema "Neuer Wirtschaftsliberalismus" stand.
Zum ersten Mal in den 50 Jahren seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs ist die ganze Welt zeitgleich von einem wirtschaftlichen Niedergang erfaßt. Dafür gibt es in der Geschichte nur einen Präzedenzfall: die Weltdepression der 30er Jahre. Die auffälligste Gemeinsamkeit beider Perioden ist die vorherrschende Rolle der Vereinigten Staaten. Nachdem die USA an der Spitze eines synchronen weltweiten Booms gestanden hatten, stehen sie nun entsprechend an der Spitze des synchronen Abschwungs.

Zwischen den beiden Fällen amerikanischer wirtschaftlicher Vorherrschaft existieren jedoch auffällige Unterschiede. In den 20er Jahren überschüttete Amerika als "Kreditgeber der letzten Instanz" die Welt mit exzessivem Kredit, in den 90er Jahren hingegen wurde es zum "Verbraucher der letzten Instanz" und überschüttete den Rest der Welt mit einem ungekannten Übermaß an Konsumausgaben. In der zweiten Hälfte der 90er Jahre lag der Anteil der Verbraucherausgaben am Wachstum des Bruttoinlandsprodukts (BIP) in den USA bei 82%, während es normalerweise zwei Drittel sind.

Tatsächlich handelte es sich bei dem Wirtschaftsboom der 20er Jahre in ganz ähnlicher Weise hauptsächlich um einen Kredit- und Kaufrausch der Verbraucher, ausgelöst durch die Erfindung der Teilzahlung. Aber verbliebene Sparguthaben und schwache Investitionen sorgten für einen chronischen Überschuß der Leistungsbilanz. Die jüngsten Exzesse überstiegen die der 20er Jahre um ein Vielfaches und trieben die Leistungsbilanz in ein massives Defizit.

Die Frage, wann die [amerikanische Notenbank] Federal Reserve ihre entscheidenden politischen Fehler beging, die eine lange Depression auslösten, ist ein alter Zankapfel zwischen amerikanischen und europäischen Ökonomen. War es die übermäßige monetäre Lockerung Ende der 20er Jahre, vor dem Aktienkrach? Diese Meinung herrscht in Europa vor und ist stark von der österreichischen Theorie beeinflußt. Oder war es die übermäßige Geldverknappung nach dem Crash, Anfang der 30er Jahre? Das ist die vorherrschende amerikanische Meinung, wie sie seit den 60er Jahren von Prof. Milton Friedman gelehrt wird.

Ich bin ein großer Anhänger der Logik der österreichischen Theorie. Sie besagt, daß die Schwere und Dauer jeder Depression oder Rezession entscheidend von zwei Bedingungen abhängt: erstens dem Ausmaß der strukturellen Fehlanpassung, die sich in der Wirtschaft während des Booms entwickelt hat, und zweitens der Anspannung und Belastung des Finanzsystems.

Das erscheint mir eine geradlinige Logik. Darüber hinaus spricht die historische Erfahrung für sie. Meiner Auffassung nach ist der Schlüssel zur Beurteilung der amerikanischen Wirtschaft darin zu sehen, daß sie Jahre des maßlosesten Kreditexzesses der Geschichte hinter sich hat. Und wichtig ist, daß dieser Kreditexzeß sich lange genug auswirken konnte, um bei der Verteilung der Mittel schwere Störungen hervorzurufen.


Widerspruch zwischen Wahrnehmung und Wirklichkeit

Das Schicksal der amerikanischen Wirtschaft ist definitiv die Schlüsselfrage für die Weltwirtschaft und für die Aussichten auf den globalen Aktienmärkten. Früher in diesem Jahr herrschte die Konsensmeinung, die US-Wirtschaft habe die Flaute des vorangegangenen Jahres gut gemeistert, und sie werde in diesem Jahr mit einer Wachstumsrate von weit über 3% einen Aufschwung der Weltwirtschaft anführen und entsprechend starke Gewinne an den weltweiten Aktienmärkten anstoßen.

Die große Überraschung der letzten Monate war das Gemetzel an der Wall Street, von dem alle Nationen der Welt betroffen waren, welches in einem unheilvollen Gegensatz zu den optimistischen wirtschaftlichen Prognosen und Erwartungen stand. Diese dramatische Diskrepanz zwischen dem kläglichen Verhalten der Börsen und der optimistischen Wahrnehmung der Wirtschaftsaussichten erklärte man allgemein wegwerfend mit einer irrationalen Verschlechterung der Marktpsychologie wegen der verbreiteten betrügerischen Praktiken bei den Unternehmensbilanzen. Diese Sicht schloß die tröstliche Schlußfolgerung ein, alles werde bald wieder gut werden, sobald die Regierungen ausreichenden Reformwillen beweisen.

Das ist barer Unsinn. Mein eigener Eindruck der Beziehung zwischen wirtschaftlicher Wahrnehmung und wirtschaftlicher Realität in den USA ist das genaue Gegenteil. Die immer noch vorherrschende Wahrnehmung, die Wirtschaft sei im Kern stark und gesund, ist viel besser als die sehr häßliche Wirklichkeit. Der maßlose Kreditexzeß der vergangenen Jahre hat die ganze Struktur schwer geschädigt und veformt.

Der Versuch einer Einschätzung der Aussichten der US-Wirtschaft muß mit der Erkenntnis beginnen, daß der gegenwärtige Niedergang radikal anders ist als jeder andere, den man in der Nachkriegszeit erfahren hat. Diese hatten alle ein und denselben Auslöser oder Grund: Alle früheren Rezessionen wurden durch Geldverknappung ausgelöst, mit der die Federal Reserve auf steigende Inflation reagierte. Sobald die Fed die Geldschraube wieder lockerte, lief die Wirtschaft prompt wieder.

Der derzeitige Niedergang der amerikanischen Wirtschaft ist in der Geschichte insofern einzigartig, als er sich vor dem Hintergrund einer zügellosen Geld- und Kreditschöpfung vollzog. Als im Jahr 2000 der Wirtschaftsboom und die Wirtschaft plötzlich einbrachen, wuchs das Kreditvolumen um 1700 Mrd. Dollar, gegenüber einem realen Wachstum des BIP um 332 Mrd. Dollar. Doch dies stand für eine ziemlich ausgeprägte Schwächung.

2001 war es noch seltsamer. Während die US-Notenbank ihre Zinsen im beispiellosen Tempo senkte, ging es mit der Wirtschaft und den Börsen weiter dramatisch abwärts. Die Fed konnte zwar das bereits hemmungslose Geld- und Kreditwachstum noch erfolgreich beschleunigen, aber dieser monetäre Effekt half der Wirtschaft und den Aktienmärkten überhaupt nicht.

Noch bis vor recht kurzer Zeit schien es, als sei die amerikanische Wirtschaft nur von einer milden Rezession betroffen. Das war aber, bevor das US-Handelsministerium kürzlich eine drastische Abwärtsrevidierung seiner Wirtschaftsdaten für die vergangenen drei Jahre bekanntgab. Die neuen Zahlen zeigten, daß die Wirtschaft im vergangenen Jahr nicht nur in einem Quartal, sondern in allen drei letzten Quartalen geschrumpft war. Die Rezession war nicht nur schwerer als früher angenommen, auch die erwartete Erholung fiel deutlich schwächer aus, als man erhofft hatte.

Eine ähnlich drastische Abwärtskorrektur für frühere Jahre hatte es bereits im Juli des Vorjahres gegeben. Den ursprünglichen Berechnungen zufolge hatte das reale jährliche Wachstum des amerikanischen BIP seit 1995 im Durchnitt bei 4% gelegen. Mit der letzten Berichtigung war dieser Durchschnitt auf 2,4% gefallen. Im Vergleich dazu gab es in den 80er Jahren ein Durchschnittswachstum von 2,7%, in den 70er Jahren 3,2% und in den 60er Jahren 4,9%. Das Wachstumswunder der 90er Jahre hat nie stattgefunden.


"Gewinnwunder" wird zur Gewinnkatastrophe

Die schlimmsten Abwärtskorrekturen gab es jedoch bei den Unternehmensgewinnen. Das ehemalige Gewinnwunder des neuen Paradigmas erwies sich am Ende als eine für eine boomende Wirtschaft beispiellose Gewinnkatastrophe. Bei der Beurteilung von Unternehmensgewinnen in den USA mußte und muß man immer zwischen zwei Maßen unterscheiden. Das eine sind die von den Unternehmen berichteten Gewinne, und das andere sind die Gewinne, welche die Regierungsstatistiker aus ihren makroökonomischen Berechnungen herauslesen.

Das angebliche Gewinnwunder, das von der Wall Street mit astronomisch steigenden Aktienkursen gefeiert wurde, fand ausschließlich in den massiv manipulierten Profitzahlen der Unternehmen statt. Im krassen Gegensatz zu diesen Zahlen zeigen die offiziellen Statistiken seit Jahren Gewinne, die gegenüber früheren Geschäftszyklen sehr schlecht aussehen. Diesen Zahlen zufolge sind die Unternehmensgewinne schon seit 1997 nicht mehr angestiegen

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Grüsse Switch

„Es ist oft produktiver, einen Tag lang über sein Geld nachzudenken, als einen ganzen Monat für Geld zu arbeiten.“ (Heinz Brestel, dt. Finanzpublizist)
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