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Alt 27-02-2005, 12:46   #53
621Paul
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Das Wort zum Sonntag , den 27.02.2005

Das Psychogramm eines erfolgreichen Pessimisten

Von Dr. Bernd Niquet

Als der Boersianer noch ein kleiner Junge war, stritten die
Eltern oft. Er zog sich dann in sein Zimmer zurueck und ord-
nete seine Spielsachen. Angstvoll fragte er sich: "Was
passiert nur Schlimmes als naechstes?" Dann war wieder alles
gut. Fuer eine gewisse Zeit. Doch der naechste Streit wurde
noch heftiger, denn jetzt stritten die Eltern sogar ueber ihn
selbst. Er rannte in sein Zimmer, zog sich die Bettdecke
ueber den Kopf und ueberlegte: "Was passiert nur Schlimmes
als naechstes?"

Heute weiss er von all dem ueberhaupt nichts mehr. Man muss
es ihm sagen, denn die Erinnerung daran ist verschuettet. Und
waere sie nicht verschuettet, dann waere sie verblasst. Denn
die Zeit, die vergeht, neigt dazu, das Schlechte verschwinden
und das Gute bestehen zu lassen. Laengst vergangene Zeiten
sind immer gute Zeiten. Angst und Sorge liegen immer nur in
der Zukunft: "Was passiert nur Schlimmes als naechstes?"

Nur in seinem Zimmer war der Boersianer als Junge ungestoert.
Was fuer ein Glueck, dass er wenigstens diese Zuflucht hatte.
In seinem Zimmer entwickelte er alternative Welten, Welten,
in denen die Zukunft berechenbar war, in der nicht dauernd
Schlimmes befuerchtet werden musste. Denn das Schlimme war ja
bereits eingetreten, warum sich davor also noch fuerchten?
Wenn das Eintreffen des Allerschlimmsten bereits als Tatsache
behandelt wird, dann hat die Angst keine Grundlage mehr, dann
kann die Angst nicht mehr bohren und nicht mehr nagen. Der
Boersianer hat dieses Refugium zeitlebens nicht verlassen. Es
war ihm immer Stuetze und Halt.

Schon in fruehester Jugend hat der Boersianer jedem anerkann-
ten Wissen misstraut. "Hinter jeder Lektion steht ein per-
soenliches Interesse von jemandem", hat er schon zur Schul-
zeit gesagt. Er hat immer alles anders gesehen als alle sei-
ner Mitschueler. Darueber ist zum Aussenseiter geworden mit
dem man ueber nichts mehr reden konnte, weil er ueberall nur
boese Absichten gesehen hat. Selbst bei den Maedchen.

Dann kam irgendwann die grosse Krise. Er ist schlichtweg aus-
gerast bei der kleinsten Kleinigkeit. Am liebsten haette er
jeden, der ihn nur im Entferntesten stoerte, umgebracht. Die
ganze Welt haette er jetzt in die Luft sprengen koennen. Und
dann ist er krank geworden. Schwindelgefuehle, dauernde ra-
sende Kopfschmerzen. Sein Arzt riet ihm zu psychologischer
Hilfe. Doch so etwas haette der Boersianer niemals in An-
spruch genommen. Er war doch kein Schlappschwanz. Und an
diesem psychologischen Mist ist doch sowieso nichts dran,
dass wusste er eh.

Der Boersianer meisterte die Krise, in dem er sich ganz in
die Arbeit stuerzte. Morgens war er der erste im Buero und
abends sass er noch bis in die Nacht. Heute ist er der Leiter
der Handelsabteilung eines grossen Wertpapierhauses, hat eine
bildhuebsche Frau und zwei wohlerzogene Kinder. Seine drei
Autos sind allesamt schwarz, tragen seine Initialen im Kenn-
zeichen und sind stets blitzblank gewaschen. Seine Freunde
meinen, dass er seine damalige Krise blendend ueberstanden
hat.

In das Innere des Boersianers koennen wir nicht hinein
schauen. Doch wenn es die Boerse nicht gegeben haette, dann
waere er ganz sicher zum Terroristen geworden. So ist er aber
auch zum Terroristen geworden. Denn jede Marktwirtschaft, in
der Gutes getan wird, braucht dazu auch das Boese. Fuer je-
den, der an die Prosperitaet und an den Wohlstand glaubt,
braucht man ein Spiegelbild, der dem allem misstraut und ver-
kauft.

Nachts liegt der Boersianer oft wach im Bett. "Was passiert
nur Schlimmes als naechstes?" Das, was frueher eine existen-
tielle Bedrohung war, ist heute seine Existenz. So koennen
sich die Dinge im Leben umdrehen. Der Boersianer fuerchtet
das Schlimme nicht mehr. Das war einmal so. Heute hingegen
wettet er aggressiv und mit viel Geld auf sein Eintreffen.
"Was passiert nur Schlimmes als naechstes?" Morgens ist er
schon frueh aus dem Haus. Seine Kinder muessen heute zum
Schulpsychologen, weil sie ihre Fingernaegel bis zu den
Fingerkuppen abgenagt haben.

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Bernd Niquet ist Boersenkolumnist und Buchautor.
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Wenn viele Anleger dasselbe glauben, dann muss dies noch lange nicht bedeuten, dass es stimmt oder wahrscheinlich ist. Das Gegenteil ist oft der Fall.
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