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Alt 20-03-2005, 17:26   #60
621Paul
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Das Wort zum Sonntag, den 20.3.2005

Es bleiben nur noch Illusionen

Von Dr. Bernd Niquet

Die Medizin hat in den letzten Jahrzehnten unglaubliche Fort-
schritte gemacht. Heute sind Krankheiten in den Griff zu be-
kommen, an deren Heilung man vor einiger Zeit nicht zu denken
gewagt hat. Und was heute noch nicht heilbar ist, das ist
sicherlich morgen heilbar. Der Fortschrittsglaube ist nahezu
ungebrochen.

Ganz aehnlich sieht es auch in der Geldpolitik aus. An Fi-
nanzmarktkrisen wie 1998 und 2000 ff. waeren wir vor einigen
Jahrzehnten noch elendig verreckt - ganz aehnlich wie in den
Dreissiger Jahren. Doch heute haben wir das Wissen und die
Strukturen, ihren entgegen zu wirken.

Betrachten wir hingegen die Wirtschaftspolitik im engeren
Sinne, dann sieht es ploetzlich voellig anders aus. Hier wird
zwar munter darueber gestritten, wie man die Arbeitslosigkeit
am besten bekaempfen kann, doch dieser Streit vernebelt, dass
er letztlich voellig substanzlos ist. Es ist eine reine Spie-
gelfechterei, eine gigantische Taeuschung. Es wird so getan,
als ob es verschiedene Wege gaebe, unsere Volkswirtschaft
durch aktives Handeln wieder aus der Talsohle zu holen.

Es wird von beiden Seiten des politischen Lagers so getan,
als ob jetzt an aktivem Management mangele, als ob es mehrere
Wege gaebe, einen erfolgreichen und einen weniger erfolgrei-
chen - wobei man sich gegenseitig vorwirft, dass die andere
Seite den falschen und nur man selbst den richtigen Weg ver-
folgt. Ein nuechterner Blick auf die nackten Tatsachen hinge-
gen zeigt, dass es gar keinen Weg gibt, etwas gegen die ge-
genwaertige Malaise zu tun. Die Wirtschaftspolitik ist ausge-
reizt. Sie ist am Ende. Und das Einzige, was jetzt noch
uebrig bleibt, ist, sich zurueckzulehnen und zu sehen, was
passiert.

Was soll man auch tun? Die deutsche Volkswirtschaft hat kein
Kostenproblem, sondern ein Nachfrageproblem. Doch wie soll
man die Nachfrage stimulieren? Der Staat faellt aus, er ist
ueber beide Ohren verschuldet. Mehr Staatsnachfrage gaebe es
nur in Verbindung mit hoeheren Steuern, doch das bringt gar
nichts. Es bleiben also nur die Privaten. Doch angesichts der
Arbeitsplatzrisiken und der demografischen Katastrophe, die
uns erwartet, tun die Konsumenten gut daran, ihr Vermoegen zu
horten und nicht zu verausgaben. Wer soll also einspringen?
Die Unternehmen koennten es tun, doch die streichen die Sub-
ventionen und Steuervorteile ein, lachen sich ins Faeustchen
und gehen woanders hin.

Was soll man also tun? Man kann nichts mehr tun. Es muss auch
ohne ein Tun gehen. Es muss so gehen, und es wird auch so ge-
hen. Ausser Reden kann man nichts mehr tun. Aber das koennen
wir natuerlich sehr gut, ganz besonders in den politischen
Kreisen. Hier muss die Illusion aufrechterhalten werden, dass
man etwas tun kann, weil man selbst ja ansonsten keine Exis-
tenzberechtigung mehr vorweisen koennte. Und so streitet man
dann um jedes Zehntel Prozent Sozialabgabenveraenderung als
ob davon das Schicksal unseres Landes abhaengen wuerde.

Alexander von Schoenburg hat gerade ein bemerkenswertes Buch
veroeffentlicht mit dem Titel "Die Kunst des stilvollen Ver-
armens". Besser kann man den Zeitgeist gar nicht treffen,
denke ich. Nach dem Sozialismus ist fuer Schoenburg nun auch
Ludwig Erhards "Wohlstand fuer alle"-Ideologie gescheitert:
"Wir alle werden lernen muessen, in Zukunft mit weniger aus-
zukommen. Wer heute verarmt, muss sich nicht laenger als per-
soenlich Scheiternder fuehlen - er verarmt als Teil eines
uebermaechtigen Prozesses. Damit bekommt sein Schicksal eine
historische Dimension."

Wir muessen endlich von dem Ludwig Erhard-Mythos herunter
kommen, sagte auch mein alter Professor Riese neulich zu mir.
Wir muessen die Erhard-Zeit entmythologisieren. Ich werde in
der naechsten Woche ausfuehrlicher darauf zurueckkommen.

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Bernd Niquet ist Boersenkolumnist und Buchautor.
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Wenn viele Anleger dasselbe glauben, dann muss dies noch lange nicht bedeuten, dass es stimmt oder wahrscheinlich ist. Das Gegenteil ist oft der Fall.
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