Einzelnen Beitrag anzeigen
Alt 27-03-2005, 15:06   #63
621Paul
TBB Family
 
Benutzerbild von 621Paul
 
Registriert seit: Jan 2004
Ort: Bayern
Beiträge: 10.299
27.03.05
Die Entmythologisierung von Ludwig Erhard

Von Dr. Bernd Niquet

Es ist schon erstaunlich: Selbst diejenigen, die uns oeffent-
lich immer vorbeten, dass wir uns schleunigst von den Mythen
und der Romantik der Vergangenheit verabschieden muessen,
sind fest in den Mythen und in der Romantik der Vergangenheit
verankert. Nur sind es eben andere weltfremde Idealvorstel-
lungen, die hier vertreten werden. Was allerdings nichts
daran aendert, dass anscheinend ein ganzes Land starr und
fest in der Vergangenheit gefesselt ist. Und selbst der
Bundespraesident macht keine Ausnahme, ja, er ist sogar ein
Vorreiter der Bewegung "Zurueck in eine goldene Vergangen-
heit".

Dort der Mythos der allumfassenden sozialen Sicherung. Und
hier der Mythos von Ludwig Erhard. Wir muessten uns nur wie-
der auf den Geist von Ludwig Erhard besinnen, so toent es
heute von ueberall her, dann wuerde schon alles gut werden.
Ja, mein Gott, haben wir denn alle voellig den Verstand ver-
loren?

Als Ludwig Erhard sein Regime begann, war Deutschland ein
zerstoertes Land mit Preiskontrollen und einem immensen wirt-
schaftlichen Nachholbedarf. Und was hat Erhard gemacht? Er
hat auf den Markt gesetzt und die Preise frei gegeben. Das
war es! Angebot und Nachfrage konnten sich jetzt frei entfal-
ten. Es wurde produziert auf Teufel komm raus, weil es ge-
winntraechtig und die Nachfrage grenzenlos war. Die Loehne
stiegen proportional zur Produktivitaet - und sie mussten es
auch tun, da ansonsten niemand das Angebot haette kaufen
koennen.

Zusaetzlich realisierte die Bundesbank eine Unterbewertungs-
strategie der D-Mark, indem sie die Aufwertungen nur bedingt
zuliess, fachte durch die damit verbundene expansive Geld-
politik die Wirtschaft noch weiter an - und fuehrte das
rekonvaleszente Land sukzessive vom Import- zum Exportwelt-
meister.

Was hat das nun mit dem Heute zu tun? Nichts, aber auch gar
nichts! Heute gibt es (gluecklicherweise) kein zerstoertes
Land, keinen Nachholbedarf, keine Preiskontrollen - man muss
also nicht nur oekonomisch voellig unbelesen sein, um heutzu-
tage nach Ludwig Erhard zu rufen. Das soll Erhards Taten
nicht schmaelern, sie waren grossartig, doch sie haben mit
der Gegenwart nichts zu tun. Jetzt Erhards Wirtschaftskonzept
anwenden zu wollen, waere, als ob man zum Mond fliegen und
vorher zum vor-kopernikanischen geozentrischen Weltbild zu-
rueckkehren wuerde. Wie hat Rocko Schamoni in seinem genialen
Lied "Der Mond" so schoen singen lassen: "Die Sonne geht auf
- und die Erde geht unter ..."

Die ganze Krise unserer Wirtschaft ist damit zum grossen Teil
auch eine Krise der Wirtschaftstheorie. Das ganze neoklassi-
sche Paradigma, auf dem der Liberalismus fusst, kennt naem-
lich nur eine Art von Arbeitslosigkeit - und dies sind Frik-
tionen auf dem Arbeitsmarkt. Mit der Gegenwart hat das na-
tuerlich nichts zu tun, denn laengst gibt es auf den Arbeits-
maerkten all das, was die Unternehmen immer gefordert haben:
sinkende Loehne, befristete Arbeitsverhaeltnisse, kostenlose
Praktikantenjobs ... Kein Wunder, dass alle so ratlos sind.
Sie denken in Theorien, die Arbeitslosigkeit gar nicht thema-
tisieren kann.

Keynes, der seine Werke unter dem Einfluss der Deflation und
der Depression der Dreissiger Jahre geschrieben hat, hat uns
hingegen gelehrt, dass Arbeitslosigkeit nichts mit dem Ar-
beitsmarkt zu tun hat - und dass die Investitionen der Unter-
nehmen von der Ertragserwartungen abhaengig sind, die sich
wiederum hauptsaechlich nach den erwarteten Nachfragekompo-
nenten richten. Erstaunlich, dass sich niemand bei uns damit
beschaeftigt, sondern alle nur mit ihren Erhardschen Hirnge-
spinsten im Kopf durch die Gegend lustwandeln. Vielleicht
sollten wir lieber den Osterhasen um Rat fragen.

In diesem Sinne wuensche ich ihnen ein frohes Fest!
__________________
Wenn viele Anleger dasselbe glauben, dann muss dies noch lange nicht bedeuten, dass es stimmt oder wahrscheinlich ist. Das Gegenteil ist oft der Fall.
621Paul ist offline   Mit Zitat antworten