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Alt 10-04-2005, 11:30   #66
621Paul
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Vom Lob des Stillstandes

Von Dr. Bernd Niquet

Ich danke sehr herzlich fuer die vielen Zuschriften, die ich
zu meinen Kolumnen der letzten Wochen zum Zustand der Wirt-
schaft und der Wirtschaftspolitik bekommen habe. Die meisten
Leser meinten, dass wichtige Punkte hier ausgespart wurden:
die ungeheure Buerokratie, die Angstmacherei bei der Gentech-
nik, die Abneigung vieler Menschen, tatsaechlich eine neue
Arbeit annehmen zu wollen, um nur einige zu nennen. Ich will
dem gar nicht widersprechen, interessant daran ist jedoch,
dass sie sich alle letztlich auf den gleichen Punkt beziehen.

Und dieser Punkt ist das herrschende neoklassische oder neo-
liberale Denken, das sich mittlerweile anscheinend so fest
eingegraben hat in unser Denken, dass es von kaum jemandem
mehr hinterfragt wird. Neoklassik und Neoliberalismus behaup-
ten:

(1) Der Markt wird alles richten. (Bei freien Maerkten und
flexiblen Preisen findet jeder eine Beschaeftigung und
jedes Produkt einen Abnehmer.)

(2) Wenn etwas nicht funktioniert, muss es daran liegen,
dass der Markt in seiner Aufgabe behindert wird.

(3) Arbeitslosigkeit hat also stets ihre Gruende in Markt-
behinderungen und daraus folgenden Marktineffizienzen.

Konkret: An der Arbeitslosigkeit sind schuld: starre Tarif-
vertraege, nach unten inflexible Loehne, teure Lohnneben-
kosten, zu hohe Sozialhilfesaetze, Immobilitaet, Drueckeber-
gertum - also alles Dinge, die das freie Walten der Maerkte
behindert. Folglich muss hier angesetzt werden, so die herr-
schende Lehre. Dem Markt muss zum vollen Durchbruch verholfen
werden. Hartz IV ist ein Paradebeispiel dieses Denkens.

Wir muessen also reformieren, reformieren, reformieren - und
dann werden wir aus der Talsohle schon wieder heraus kommen.
Doch ist das eigentlich wirklich wahr? Liegen wir hier nicht
vielleicht einem Zerrbild auf? Kann es nicht sein, dass der
Markt es gar nicht schafft, alles zu richten? Dass wir mit
dem Makel von Unterbeschaeftigung und Unterauslastung auch
weiterhin werden leben muessen? Und dass das zwar unbefriedi-
gend ist, aber immer noch besser, als wenn man jetzt ein gan-
zes Land durch den Fleischwolf dreht?

In der oeffentlichen Diskussion werden Idealvorstellungen
produziert, die fast schon etwas Religioeses an sich haben.
Die Reformwut zeigt durchaus Aehnlichkeiten mit der Spekula-
tionswut am Neuen Markt vor einigen Jahren. Ob das Resultat
letztlich vielleicht das Gleiche sein wird? Was wuerde denn
passieren, wenn wir ploetzlich alle arbeitsrechtlichen Rege-
lungen streichen, die Buerokraten rausschmeissen, alle Inves-
titionen sofort genehmigen, Tarifvertraege abschaffen? Es
gaebe sicherlich sofort eine neue Gruenderzeit - und an-
schliessend eine grosse Gruenderkrise. Und dann? Dann koennen
wir unsere Demokratie wahrscheinlich gleich irgendwelchen
Extremisten uebereignen.

Nein, nein, ich habe hier ein ganz anderes Bild. Natuerlich
ist vieles hierzulande ein Aergernis. Doch die Unbeweglich-
keit hat auch ihr Gutes. Gerade dass bei uns vieles nicht
geht, macht unser Land so erfolgreich. Etwas pointiert aus-
gedrueckt: In einem in vieler Hinsicht unbeweglichen Sozial-
wesen, findet jedes Toepfchen irgendwie sein Deckelchen, auch
wenn das vielleicht nicht unbedingt geil, schrill oder bunt
ist. In einer voellig freien Gesellschaft hingegen finden
viele Toepfchen gleich mehrere blitzend-glaenzende Deckel-
chen. Wie das jedoch insgesamt aufgehen soll, das weiss kei-
ner so recht. Da bleibt allein der Glaube an die Kraft der
Religion. Ein schoenes Begraebnis wuensche ich! "A nette
Leich'", wie der Wiener sagt, haben wir ja (fast) schon.


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Bernd Niquet ist Boersenkolumnist und Buchautor.
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Wenn viele Anleger dasselbe glauben, dann muss dies noch lange nicht bedeuten, dass es stimmt oder wahrscheinlich ist. Das Gegenteil ist oft der Fall.
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