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Alt 14-04-2005, 23:49   #199
Starlight
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Reality-Check für den Visionär Bill Gates

Manch ein Unternehmen blickt dieser Tage auf ein starkes Quartal zurück und sieht die eigene Aktie dennoch fallen, nur weil Analysten mit den Aussichten nicht zufrieden sind. Andere Aktien klettern, weil der Optimismus des Managements die schlechten Umsätze der letzten drei Monate übertrahlt. An der Börse wird eben die Zukunft gehandelt.

Umso erstaunlicher, wie eng die Zukunft manchmal definiert ist. Gerade einmal die Aussichten für die nächsten drei Monate sollen Anlegern als Kauf- oder Verkaufssignal gelten. In einem volatilen Markt mit sinkenden Verbraucherausgaben und hohen Rohstoffpreisen traut sich mancher CEO auch gar nicht, weiter nach vorne zu blicken.

Das war einmal anders. Genau zehn Jahre ist es her, dass Microsoft-Chef Bill Gates einen Bestseller auf den Markt geworfen hat. „The Road Ahead“ hieß das Werk, das heute noch im Buchhandel ist, und das nach einer Dekade zum Reality-Check geradezu einlädt. Gates, ganz Visionär, hat sich seinerzeit mit optimistischen bis futuristischen Ideen nicht zurückgehalten. Heute erscheint manche Idee ein wenig spinnert, die meisten sind jedoch weitgehend eingetroffen.

Doch zunächst zu den Ideen, die sich – Gott sei Dank! – nicht erfüllt haben: „Sie werden ,Vom Winde verweht’ ganz neu ansehen können: Mit ihrem eigenen Gesicht und ihrer eigenen Stimme statt der von Clark Gable oder Vivian Leigh“, mutmaßte der Visionär über eine neue Filmkultur. Ein solches Film-Karaoke ist bis heute nicht auf dem Markt und scheint auch nirgends entwickelt zu werden. Das kommerzielle Potenzial ist wohl zu gering.

„Ihre verlorene oder gestohlene Kamera wird Ihnen eine Nachricht schicken und ihren aktuellen Aufenthaltsort aufzeigen“, phantasierte Gates vor zehn Jahren über Anwendungen im GPS- und E-Mail-Bereich. Ganz so ist es nicht gekommen, doch wird andersrum ein Schuh daraus: Wenngleich nämlich nicht das Handy zur Kamera gekommen ist, dann ist doch die Digitalkamera ins Handy gekommen. Und satellitengesteuerte Ortsbestimmung ist so weit verbreitet, dass mancherorts Neuwagen gar nicht mehr ohne GPS ausgeliefert werden.

Auch andere Visionen sind nicht eingetroffen, liegen aber nahe: Der Geldtransfer von einem Taschencomputer zum nächsten – etwa zehn Dollar von Vaters Börse in des Sohnemanns Portemonnaie – klappt nicht, doch ist „electronic banking“ immer mehr Anwendern vertraut. Lesegeräte am Flughafen, die per Mikrochip überprüfen, ob ein Flugticket bezahlt wurde, gibt es auch nicht. Doch arbeiten Einzelhändler schon seit zwei Jahren mit RFID-Technik, die nach einem ganz ähnlichen Prinzip einen ganzen Einkaufswagen erfasst und vom Kundenkonto abbucht.

Sehr futuristisch klang auch Gates Idee, dass Computerprogramme dem User erlauben würden, in eine Landkarte zu springen und durch fremde Straßen zu navigieren. Kartendienste wie Mapquest.com oder andere Anbieter wie Google beamen den Orientierungslosen heute zwar nicht ins Bild, bieten aber außer detaillierten Karten und Wegbeschreibungen auch Satellitenfotos, auf denen einzelne Häuser und Hinterhöfe klar erkennbar sind.

Punktgenau sagte Gates vor zehn Jahren voraus, dass Kunden vor dem Einkauf Produktbeschreibungen und Kundenrezensionen aus dem Internet holen können: Einkaufsseiten wie Amazon.com oder Shopping.com bieten alle Informationen und offenbaren alle Mängel über Bücher, Fernseher, Kühlschränke und Babybetten. Einen Preisvergleich samt Link zum günstigsten Anbieter gibt es dazu.

Dass sich ein Einkauf trotzdem einmal verzögern und Kunden später als erwartet nach Hause kommen würden, war Gates klar. Dass man deshalb in der Zukunft sein Fernsehprogramm nach eigenem Zeitplan und unabhängig vom TV-Heft genießen könnte, schien ihm ebenso logisch. Jahre später hatte sich diese Idee erfüllt: Über Bezahldienste wie TiVo laufen Filme längst zu jedem denkbaren Zeitpunkt – und werbefrei dazu.

Was den Leser rückblickend wundert, ist allerdings nicht die hohe Trefferquote von Bill Gates. Im Gegenteil: Erstaunlich ist, dass viele Visionen in den letzten zehn Jahren nicht von Microsoft umgesetzt worden sind, sondern von Konkurrenten. Darunter diese letzte: Musik, so Gates anno 1995, komme bald nicht mehr von der CD, sondern könne als elektronische Datei aus dem Internet geladen und in speziellen Geräten überall abgespielt werden. Nach genau diesem Prinzip macht dieser Tage ausgerechnet Microsofts Hauptkonkurrent Apple sein Geld – aus Gates’ Vision wurde der iPod, der ironischerweise immer mehr Microsoftkunden ins Apple-Lager führt.

Das wiederum konnte Bill Gates seinerzeit nun wirklich nicht voraussehen.

Markus Koch - © Wall Street Correspondents Inc.
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