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Alt 18-04-2005, 13:54   #69
621Paul
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18.04.2005
und Blindgänger in den Chefetagen

Der SPD-Vorsitzende hat ganz schön auf den Putz gehauen. Natürlich ist das Wahlkampftaktik. Doch ich glaube, jeder reflektierte Mensch wird sehen, dass Müntefering mit seinen Thesen nicht völlig daneben liegt. Wir Börsianer wissen sicherlich viel zu gut, dass wir wie Heuschreckenschwärme über Unternehmen und ganze Volkswirtschaften herfallen, unsere Ernte einfahren und hinterher wieder abziehen. Niemand von uns wird behaupten können, dass Müntefering hier nicht Recht hat mit seiner Analyse.

Die Frage ist nur, ob es eine Alternative zum gegenwärtigen Stand der Dinge gibt. Merkwürdigerweise wird diese Frage in den Medien nicht einmal andiskutiert. Es werden überall schwere Geschütze aufgefahren und der Gegner mit Glaubensbekenntnissen bombardiert. Was der Chefredakteur der „Welt am Sonntag“ hierzu geschrieben hat, ist ein Paradebeispiel dafür. Er zeigt sehr deutlich, dass unsere Medien-Elite nichts taugt.

Keese wirft Müntefering vor, zum Klassenkampf zurückkehren zu wollen und zum Antikapitalismus aufzurufen. Müntefering hat den völligen Laissez-faire-Kapitalismus kritisiert, doch Derartiges habe ich nicht aus seinen Äußerungen heraus gelesen. Wer sich mit Freud beschäftigt hat, erkennt im ausschließlichen Denken in Extremen ein neurotisches Phänomen, eine Unreflektiertheit, die einen realistischen Blick auf die Realität verstellt.

Keeses ganzer Kommentar erinnert mich an den Nachbarjungen, der brav beim Essen sitzt und das Einzige, was von ihm zu hören ist, ist „Ja Pappi, du hast Recht!“ An der freien Marktwirtschaft, so führt Keese anhand von acht Thesen aus, ist alles gut und richtig. Eine Kritik daran darf es folglich nicht geben. Ja Pappi, du hast Recht! So ein Maß an Unterwürfigkeit hätte ich in den Chefetagen nicht vermutet. Und so viel Unreflektiertheit auch nicht. Denn es ist schon rein logisch völlig unmöglich, dass ein System nur Gutes beinhaltet und die Kritik daran nur Schlechtes. Wer so etwas behauptet, ist genauso totalitär wie sein Pendant auf Seiten des Kommunismus.

Und wo bleibt eigentlich das Demokratieverständnis? 70 Prozent der Deutschen, zitiert Keese eine Forsa-Umfrage, glauben, dass der Kapitalismus außer Kontrolle gerät, wenn der Staat ihn nicht bändigt. Zählt das etwa nicht? Leben wir nicht in einer Demokratie? Nein, natürlich nicht, denn Pappi hat immer Recht. Und jeder Widerspruch ist verboten.

Ich hoffe inständig, dass es in den Führungsetagen auch innergesteuerte Menschen gibt, die sich eine eigene Meinung gebildet haben, die sich von den Dogmen befreit haben und nicht mehr gebetsmühlenartig das nachbeten müssen, was Pappi ihnen gesagt hat.

Es hat aber auch sein Lustiges. „Es ist menschlich, Geldgebern einen fairen Zins für ihr riskiertes Kapital zu gewähren“, schreibt Keese. Ist es etwa unmenschlich, das nicht zu tun? „15 Prozent nach Steuern auf das Eigenkapital wie die Deutsche Bank das anstrebt, sind angemessen, denn das hohe Risiko einer Aktie muss mit höherem Zins entgegolten werden als das niedrige Risiko eine sicheren Staatsanleihe.“ Ein Glück, dass wir jetzt jemanden haben, der das beurteilen kann.

Und: „Menschlich ist es auch, Geld zu investieren, denn das schafft Arbeitsplätze.“ An dieser Stelle muss ich jedoch alles Vorherige sofort zurücknehmen. Denn eine schärfere Kritik an den Unternehmen habe ich noch niemals vorher gehört. Nicht zu investieren, ist also unmenschlich. Das ist wirklich starker Tobak. Schade nur, dass diese Erkenntnis ausschließlich im Zuge einer Freudschen Fehlleistung das Licht der Welt erblickt hat.

berndniquet@t-online.de
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Wenn viele Anleger dasselbe glauben, dann muss dies noch lange nicht bedeuten, dass es stimmt oder wahrscheinlich ist. Das Gegenteil ist oft der Fall.
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