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Alt 08-05-2005, 12:37   #74
621Paul
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Sonntag, der 8. Mai. 2005
Die entscheidende Unterscheidung

Von Dr. Bernd Niquet

Deutschland zerfleischt sich derzeit in einer Diskussion
ueber unser Wirtschafts- und Finanzmarktsystem. Ich habe den
Eindruck, dass hier vieles durcheinander geworfen wird. Ich
denke, die entscheidende Unterscheidung, die zu treffen ist,
muss die zwischen Unternehmern und Kapitalanbietern sein.
Letztere nenne ich in Tradition der Berliner Schule der Geld-
wirtschaft am liebsten "Vermoegensbesitzer".

Die Vermoegensbesitzer sind die Eigentuemer oder Verwalter
aller angesparten Vermoegen. Ihr Ziel ist es, weltweit anzu-
legen und dadurch eine Vermoegenssicherung und Vermoegens-
mehrung zu erzielen. Sie sind diejenigen, die die Bedingungen
setzen nach denen ein Engagement entweder lukrativ oder das
eben nicht ist. Sie sind diejenigen, die die Renditeanforde-
rungen stellen. Sie sind die Maechtigen. Sie sind die Bestim-
mer. Sie sind die Treiber der Meute.

Die Unternehmer sind hingegen eher arme Schweine. Sie sind
die Getriebenen. Sie brauchen das Kapital. Sie sind Kapital-
nachfrager. Und um das Kapital zu bekommen, muessen sie Leis-
tung zeigen. Wenn sie Arbeitsplaetze abbauen und/oder die
Rendite erhoehen, dann machen sie dies nicht, weil sie es
wollen, sondern weil sie es muessen, um wirtschaftlich ueber-
leben zu koennen. Weil die Bestimmer ihnen sonst das Kapital
entziehen, sie aufkaufen oder ansonsten durch den Fleischwolf
drehen.

Die Reizfigur Josef Ackermann, an deren Verhalten sich letzt-
lich die ganze Debatte entzuendet hat, ist aus dieser Sicht-
weise sicherlich eher ein Getriebener als ein Treiber. Er
ist, pointiert ausgedrueckt, eher ein Opfer als ein Taeter.
Dass die Deutsche Bank eine derartig hohe Rendite erwirt-
schaften muss, hat weniger mit den nationalen Unternehmens-
bedingungen zu tun als mit den weltweit liberalisierten
Finanzmaerkten. Schafft es Ackermann nicht, die Rendite zu
steigern, dann wird dem Unternehmen zuerst das Kapital entzo-
gen und der Aktienkurs in den Keller getrieben. Anschliessend
wird es dann aufgekauft und verliert seine Selbstaendigkeit.
Und ob damit den Arbeitnehmern der Deutschen Bank geholfen
ist, das sollten alle Ackermann-Kritiker durchaus einmal ganz
genau bedenken.

Die wirklichen Verursacher der gegenwaertigen Krise - also
sozusagen "die Schuldigen" - sind daher keinesfalls die Un-
ternehmen. Und schon gar nicht die vielen kleinen und mit-
telstaendigen Unternehmer in unserem Land. Sie muessen viel-
mehr knueppeln und buckeln, um im dem ungeheuren Konkurrenz-
kampf bestehen zu koennen.

Das wirkliche Problem liegt in den voellig liberalisierten
Finanzmaerkten. Die voellige Freiheit aller Kapitalbewegungen
treibt nicht nur die Nationalstaaten in einen gnadenlosen
Konkurrenzwettbewerb um Niedrigsteuern, sondern eben auch die
Unternehmen in eine Spirale aus immer niedrigeren Kosten und
immer hoeherer Rendite. Sie alle werden ausgepresst wie die
Zitronen (um einmal einen pflanzlichen und keinen tierischen
Vergleich zu bringen). Und wenn der Saft versiegt ist - dann
tschuess. Hopp uff, abgespritzt - und ab zur naechsten.

In all dem gibt es natuerlich Unschaerfen. Es gibt Unterneh-
mer, die ausschliesslich mit Eigenkapital arbeiten, und es
gibt Vermoegensbesitzer, die selbst zu Unternehmern werden -
wie beispielsweise die Private-Equity-Gesellschaften. Sie je-
doch alleine an den Pranger zu stellen, ist unfair und
falsch. Das wirkliche Problem liegt woanders. Und es ist
nicht nationalstaatlich, sondern nur international zu loesen.
Das ist das Schlimme, und das macht es fast unloesbar -
momentan jedenfalls.

Wir brauchen in Europa dringend eine in allen Staaten iden-
tische Steuerlast. Und wir werden auch nicht umhin kommen,
die internationalen Kapitalbewegungen auf irgendeine Art wie-
der einzufangen und zu kontrollieren. Das ist meine feste
Ueberzeugung. Das klingt natuerlich nach den Rezepten von
Gestern. Doch nicht alles, was neu ist, ist auch gut. Der
Neoliberalismus hat den Zauberbesen befreit. Und derzeit
erleben wir voellig machtlos, wie er uns alle heftig ab-
buerstet.


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Bernd Niquet ist Boersenkolumnist und Buchautor.
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Wenn viele Anleger dasselbe glauben, dann muss dies noch lange nicht bedeuten, dass es stimmt oder wahrscheinlich ist. Das Gegenteil ist oft der Fall.
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