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Alt 15-05-2005, 13:02   #75
621Paul
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Pfingsten, den 15.05.2005
Sich taeglich in den Staub werfen

Von Dr. Bernd Niquet

60 Jahre ist das Ende des Zweiten Weltkriegs her. Die Wunden
sind noch nicht verheilt. Es kann keinen Schlussstrich geben.
Es ist richtig, denke ich, dass wir Deutschen den Kopf senken
und demuetig bleiben.

Betrachtet man unser Wirtschaftsleben moeglichst unvoreinge-
nommen, dann sieht man hier erstaunlicherweise ganz aehnliche
Mechanismen. Mir faellt das ganz besonders auf, wenn ich den
Chefredakteur der Welt am Sonntag lese. Und die Dame, die an
jedem zweiten Montag ihren Kommentar in der Financial Times
Deutschland abgibt. Oder die Lobbyisten der Industrie und der
Kapitaleigner: Hier werfen sich Menschen vor aller Augen
staendig in den Staub. Wenn wir nicht machen, was die Inves-
toren wollen, sagen sie uns, dann wird es bald aus sein mit
uns.

Jetzt haben wir einen deutschen Papst und es ist spannend, ob
das hierzulande zu einem verstaerkten Zulauf zu den Kirchen
fuehrt. Haben wir eine neue Religiositaet zu erwarten?

Alles sieht danach aus, als ob das, was wir gemeinhin als
"Kapitalismus" bezeichnen, zur neuen Religion geworden ist.
Die Gleichheit des Denkens ist jedenfalls ins Auge springend:
Das Dasein und die guetige Regentschaft Gottes laesst sich
nicht beweisen. Man kann nur daran glauben - oder eben nicht.
Ein Aufbegehren gegen Gott wird jedoch unter die groesst-
moegliche Strafe gestellt. Es wird zwar Kreativitaet und
Eigensinn gefordert, doch nur in dem Rahmen, sich selbst-
staendig zu Gott zu bekennen. Ansonsten wird voellige Demut
gefordert. Wir sollen zu Kreuze kriechen, uns in den Staub
werfen und allen eigenstaendigen Gedanken abschwoeren. Wir
sollen keine anderen Goetter haben neben dem einzigen und
wirklichen Gott.

Es ist die Erkenntnis, die uns aus dem Paradies vertreiben
hat. In diesem und in jenem Falle. Deswegen sind wir Busse
schuldig. Das ganze Leben muessen wir Abbitte leisten. Das
ganze Leben ist eine grosse Prozession. Es reicht jedoch
nicht, sich selbst zu kasteien, nein, wir muessen bei unserer
Prozession mit der Zunge den Boden ablecken, um den Vertre-
tern Gottes in unserem Land einen wuerdigen Empfang zu bie-
ten.

Und wir muessen aufblicken zu den selbsternannten Maertyrern,
die sich, wie die Obengenannten, frisch aus dem Staub gekro-
chen, oeffentlich ans Kreuz schlagen, um fuer uns alle das
Leiden auf sich zu nehmen. Sie sind die wirklichen Helden un-
serer Zeit. Ihr Glaube ist so stark und so ueberirdisch, dass
er von keiner Logik dieser kleinen Welt erreicht werden kann.
Und sie predigen die Unterwerfung, doch schaffen es genau da-
durch, sich ueber die anderen zu erheben.

Sie haengen am Kreuz und halten uns ihre Predigt. Das ist
auch gut und richtig so. Denn von der selbstbewussten und
freien Politikerkaste wollen wir uns doch alle schon laengst
nichts mehr sagen lassen.

In diesem Sinne wuensche ich ein schoenes Pfingstfest. Welche
religioese Bedeutung hat eigentlich Pfingsten? Ich habe gera-
de einmal nachgeschlagen: Pfingsten gilt als Fest der Herab-
sendung des Heiligen Geistes. Besser kann man die aktuelle
Gegenwart in unserem Land sicherlich nicht beschreiben.

In diesem Sinne wuensche ich ein schoenes Pfingstfest. Und:
Ducken Sie sich, damit Sie nicht allzu viel abbekommen!


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Bernd Niquet ist Boersenkolumnist und Buchautor.
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Wenn viele Anleger dasselbe glauben, dann muss dies noch lange nicht bedeuten, dass es stimmt oder wahrscheinlich ist. Das Gegenteil ist oft der Fall.
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