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Alt 25-09-2005, 22:20   #672
Benjamin
TBB Family
 
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Rita war weniger schlimm als befürchtet. Das wird kurzfristig u. a. zwei Auswirkungen haben:
1. Der Ölpreis wird (wieder) weiter fallen für eine Weile.
2. Der Dollar wird weiter steigen.

Mittelfristig wird das u. a. zwei weitere Folgen haben:
1. Die Inflation in den USA wird weiter steigen, erkennbar am steigenden Goldpreis.
2. Die Zinsen in den USA werden weiter steigen müssen, evtl. sogar kräftiger als die bisherigen 0,25%-Schritte/Sitzung, um die Inflation im Zaum zu halten.

Damit entbrennt ein Wettstreit zwischen zwei Entwicklungen:
1. US-Anlagen ziehen Geld an: Die steigenden Zinsen machen/machten es attraktiv, Geld in USA-Anleihen anzulegen und damit den Produktivitätssteigerungsprozess + den Konsum in den USA zu unterstützen. Das Leistungs- und Handelbilanzdefizit der USA ist in Folge immer weiter gestiegen.
2. US-Anlagen präsentieren ein immer höheres Risiko: Die hohen Zinsen werden es allmählich immer schwerer machen, profitable Investitionen über geborgtes Geld zur Produktivitätssteigerung zu tätigen; die Aktienkurse werden daher irgendwann ganz sicher anfangen zu sinken. Die 12 Monate seit Beginn des Zinsanhebungszyklus sind jetzt um; historische Daten zeigen, dass dann die Aktien beginnen zu kippen.

Die Frage ist, wann genau der Zeitpunkt erreicht sein wird, an dem beide o. g. Entwicklungen gleich stark sind: Wann sind die Zinsen so hoch, dass Produktivitätssteigerungen (und gewöhnlicher Konsum) über geborgtes Geld zu teuer werden?

Neben Zinskosten sind Energiekosten ein wichtiger Faktor, letzterer evtl. eher psychologisch als betriebswirtschaftlich wichtig.

Wenn Öl nun für einige Wochen/Monate billiger wird, weil alle Produzenten bis zum Anschlag die Hähne aufgerissen haben und weil gleichzeitig der Wirtschaftswachstumprozess sich beginnt zu verlangsamen (und damit weniger Öl nachfragt), dann scheint mir die Zeit gekommen zu sein, dass ein letzter Anstieg bei den Aktien und Anleihen zu beobachten sein wird. Die Entlastung bei Energie kompensiert die gestiegene Belastung bei den Zinsen. So bis Ende erstes Quartal 2006 könnte dieser Kompensationsprozess andauern und die sogenannte "Vermögensinflation" am laufen halten, d. h. die laufende Höherbewertung von US-Vermögenswerten (wie Immobilien, Aktien), gemessen in US-$.

Aber dann sollten die Zinsen siegen und den Wachstumsprozess allmählich abwürgen. Ab dann werden US-Vermögenswerte - gemessen in US-$ - im Wert fallen. Dann wird man weniger borgen und das geborgte wird immer mehr weh tun, weil die Tilgung immer teurer wird. Das wird in den USA eine allgemine Verwirrung, Unzufriedenheit und Frustration auslösen, später eine erhebliche Kritik an der Regierung. Außerhalb der USA dürfte ein einsetzender Wertverlust des Dollar ebenfalls für Verdruss sorgen: Der Wertverlust im Dollar wirkt auf den internationalen Anleger ebenso wie die Preisinflation auf den Bürger innerhalb der USA: Ihr Geld-Besitz verliert an Wert. Was - nebenbei bemerkt - ja auch Ziel der Übung ist: Die aufgelaufenen Schulden werden beim US-Bürger durch Inflation, beim internationalen Anleger durch Dollar-Wertverlust immer weniger wert.

Und genau das ist der Punkt, der mir immer klarer geworden ist:
Die USA steuern in 2006 in eine Phase der zunehmenden inneren Verdrossenheit hinein, die ganz viele Teilbereiche des privaten und öffentlichen Lebens erfassen wird:
- Die Jobsteigerungsraten dürften dann abflachen und schließlich negativ werden. Denn die einzige Art, weiteres Produktivitätswachstum zu erzeugen dürfte der Personalabbau sein.
- Weder die Republikaner noch die Demokraten in den USA bieten irgendeine Vision, deren Umsetzung in der Praxis auch durchgängig beobachtet werden könnte. Stattdessen bietet die US-Regierung von Bush ein Bild mangelnder Kompetenz: Irak kostet Unsummen und Menschenleben ohne absehbares Ende und ohne durchgreifenden Erfolg, Notfallreaktion bei Katrina ein einziges Desaster, steigende (Energie-)Preise ohne Gegenkonzept der Regierung, keine wirkliche Kooperation mit dem Rest der Welt bei so wichtigen Fragen wie Iran und Naher Osten insgesamt, Klimaschutz, etc. Bei Katrina bieten selbst Entwicklungsländer den USA Hilfe an - und sie wird angenommen, als sei man selbst plötzlich ein Entwicklungsland wie Indonesien nach der dortigen Flutwelle. Und in der Tat: Die Bilder gleichen sich in jeder Beziehung! Die nachträglichen Trips von Bush wirken doch eher wie simple "Photo-Ops" für die Medien. Zusammengefaßt: Keine überzeugende Führung, weder nach innen noch nach außen. Übrigens auch keine Alternative bei der Partei der Demokraten in den USA, die haben den Bush-Unsinn ja im wesentlichen mitgetragen und bieten auf die wichtigen konzeptionellen Fragen heute ebenfalls keine wirkliche Antwort. Folge: Enttäuschung und Skepsis hinsichtlich der künftig erwartbaren Entwicklungsrichtung und den Maßnahmen der US-Regierung zu den wirklich wichtigen Problemen der USA.

So, und in diese Stimmung zunehmender Politik-Skepsis gesellt sich demnächst der Erkenntnis, dass es wirtschaftlich bergab geht. Und die Beobachtung, dass die Schere immer weiter aufgeht: Auf der einen Seite dürfte der Konflikt im Nahen Osten an Schärfe zunehmen (Iran wegen der Atombombenpläne und der Eskalation im UN-Sicherheitsrat, Irak wegen zunehmenden bürgerkriegsähnlichen Zuständen, Saudi Arabien wegen zunehmender interner Unruhen). Das bedeutet nicht nur, dass Öl dann wieder beginnen wird zu steigen (trotz der abnehmenden Wirtschaftsaktivitäten) und auf die 100$ zusteuern dürfte, es bedeutet auch andererseits, dass die USA durch eine Politikkaste in einen Schlamassel gezogen werden könnte, der ihre Möglichkeiten und Politikerkompetenzen erkennbar übersteigt. Das werden die Leute merken - und noch verdrossener werden. Denn auf der anderen Seite wird gleichzeitig ihre ganz persönliche Situation schwieriger werden: Jobangst, Kürzungen bei allen steuerfinanzierten Leistungen, zunehmender Wertverlust bei Vermögenswerten (Preisinflation). Es geht ihnen allmählich schlechter, sie haben zunehmend Zukunftsangst und können keine moralisch-politisch glaubwürdige Führung im Lande erkennen, die die Dinge noch unter Kontrolle hat. Verdrossenheit!

Ich stelle mir das als bedeutende emotionale, wirtschaftliche und politische Kriese vor. Und genau dann, wenn man sie braucht, die Politiker, sind sie nicht da und helfen, sondern verkaufen die Leute für dumm. Ich stelle mir diese Entwicklung der US-Bevölkerung in 2006 und folgende Jahre als sehr schwerzlich vor. Vertrauensverlust. Visionsverlust. Selbstzweifel über die künftige Rolle der USA, der Regierung und einem ganz persönlich in der Gesellschft.

Nebenbei: Irgendwann in dieser Phase wird natürlich der US-Dollar seinen Anstieg seit Jahresbeginn 2005 beenden und seinen langfristigen Abwertungsprozess wieder aufnehmen.

Warum all das hier in einem Öl-Thread? Weil Öl nur ein Teilelement des Ganzen ist.
Verengt auf dieses Teilelement Öl meine ich, dass jener Peak im Ölpreis kurz vor Katrina für eine ganze Weile (Monate) ungeschlagen bleiben dürfte, verursacht durch sehr hohe Öl-Produktion bei konstantem und dann allmählich abnehmendem Bedarf. Etwa 1. Quartal (2. Quartal?) 2006 dürften die Spannungen speziell um den Iran den Ölpreis wieder deutlich anheben. Eine Spannungsausweitung im Nahen Osten (und ein inzwischen einsetzender Wertverlust des Dollar) dürfte den Ölpreis dann allmählich über die 100 $-Marke bringen.

Genießen wir also die Zeit bis etwa April 2006 (Größenordnung). Was danach kommt, droht wenig erfreulich zu werden.

Geändert von Benjamin (25-09-2005 um 22:42 Uhr)
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