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Alt 01-02-2006, 20:39   #411
Starlight
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Bush beeindruckt die Wall Street nicht

Wenngleich man an der Wall Street tagtäglich vor allem auf den Gesundheitszustand von Corporate America achtet, ist auch allgemein die Lage der Nation von Bedeutung. Das Land bietet schließlich den Nährboden für die Unternehmen, stellt Infrastruktur, Nachfrage und kassiert Steuern. Die Lage der Nation ist wichtig, der Bericht zur selbigen hingegen nicht. Die lange erwartete Rede von George W. Bush am Dienstagabend geht im Mittwochshandel weitgehend unter.

Wirklich überraschend ist es nicht, dass sich auf dem Parkett kaum einer um die Worte des Präsidenten schert. Der Bericht zur Lage der Nation, einst eingeführt als kritisches Update für den interessierten Bürger, ist in den letzten Jahren immer mehr zu einem Werbeinstrument verkommen und ist unter George W. Bush ein rein parteipolitisches Instrument, das eher Propaganda- als Aufklärungscharakter hat.

Das ist nicht zuletzt an der Reaktion des Publikums zu erkennen. Statt dem Präsidenten zuzuhören und nur hin und wieder einmal zu applaudieren, springen die Zuhörer alle zwei, drei Sätze lang von den Stühlen aus und geben stehende Ovationen – jedenfalls genau die Häfte der Zuhörer. Die rechte Saalhälfte, in der die republikanischen Abgeordneten und ihre Gäste sitzen, jubeln, die linke Hälfte mit den Demokraten bleibt regungslos sitzen und blickt trotzig auf einen Staatschef, der Wahrheit, Wunsch und Vision munter vermengt.

Nehmen wir die Abhängigkeit der Amerikaner vom Öl: Dass die USA ohne das schwarze Gold keinen Schritt tun können, ist ebenso bekannt wie die Tatsache, dass die zunehmenden Importe aus instabilen Ländern ein Versorgungsrisiko darstellen. Beides weiß man aber nicht erst seit gestern, und dass der Öl-Millionär Bush nun eindringlich mahnt, die USA müsse verstärkt an alternativen Energien forschen, ist alles andere als glaubwürdig. Bis vor wenigen Wochen hatten die Republikaner noch daran festgehalten, dass der Weg aus der Öl-Krise vor allem über Bohrungen im Naturschutzgebiet in Alaska führen müsse.

Ein wirkliches Umdenken hat auch im Zusammenhang mit der Krankenversicherung nicht stattgefunden. Bush spricht weiterhin von Reformen, will kleine und mittlere Unternehmen Policen im pool und damit günstiger kaufen lassen. Zudem sollen Versicherungskonten privatisiert werden und damit besser Renditen schaffen. Das alles klingt schön und gut, hält einer näheren Betrachtung aber nicht stand: Weder sinken die Kosten noch steigt der Versicherungsschutz, kritisiert der zuständige demokratische Experte Max Baucus, zudem würden unter dem aktuellen Plan der Regierung ausgerechnet für die ärmeren Amerikaner erneut die Beiträge steigen.

Überhaupt dürften auch in den letzten drei Bush-Jahren vor allem die oberen Zehntausend profitieren. Der Präsident hält weiter an seinen Steuersenkungen fest und begründet seine Euphorie mit dem Wirtschaftswachstum der vergangenen Jahre. Dies ist zwar nicht von der Hand zu weisen, muss aber gegen Verbraucherverschuldung, Immobilienblase, Energiekrise und das Haushalts- und Handelsdefizit aufgerechnet werden.

Apropos Defizit: Das dürfte durch die geplanten Steuersenkungen weiter ansteigen, zumal Amerika weiterhin mit hohen Militärausgaben zu kämpfen hat. Die Lage im Irak ist äußerst kritisch, doch nicht einmal das wollte Bush in seiner Rede zugeben. Man sei in diesem Konflikt, um zu gewinnen, so Bush, „und wir werden gewinnen“.

Solche Durchhalteparolen mögen beim Volk ankommen und könnten Bush vielleicht sogar kurzfristig aus dem allertiefsten Umfrage-Loch heraushelfen. Experten sind nach dem Bericht zur Lage der Nation aber nicht beeindruckt, und entsprechend gleichgültig geht man an der Wall Street damit um.

Markus Koch © Wall Street Correspondents Inc
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