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Alt 04-06-2006, 13:38   #133
621Paul
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Sigmund Freud und der Aktienmarkt

von Dr. Bernd Niquet

Aus gegebenem Anlass zu Sigmund Freuds 150. Geburtsjahr
moechte ich heute einmal auf eine regelrecht gespenstische
Parallele zwischen unserer zeitgenoessischen Betrachtung des
Werkes von Sigmund Freud und unserem aktuellen Verstaendnis
des Aktienmarktes hinweisen. Interessant ist dies besonders
in Hinsicht auf unseren Fortschrittsglauben, auf unseren
Glauben, mit unseren Theorien und Erklaerungen uns immer wei-
ter der "Wirklichkeit" anzunaehern, also immer klueger zu
werden, denn an diesem Glauben kann und darf man durchaus
Zweifeln.

Lassen Sie mich zur Vereinfachung einerseits von "frueheren
Zeiten" andererseits vom "Heute" reden. Machen Sie sich ein-
mal den Spass und nehmen Sie einen Boersenbericht aus einer
Zeitung des Jahres 1926 zur Hand und vergleichen Sie ihn mit
demjenigen des Jahres 2006. Was sind die Unterschiede? Im
Jahre 1926 taucht in jedem Boersenbericht auf, dass sich an
der Boerse immer zwei Parteien gegenueber stehen, die Haus-
siers und die Baissiers. Dadurch wird verstaendlich, dass die
Boerse stets ein Gleichgewicht bildet zwischen den Erwartun-
gen beider Parteien. Heute hingegen lesen Sie stets ueber
"die Anleger". "Die Anleger kaufen wieder Aktien" oder "Die
Anleger kehren dem Markt den Ruecken". Gegen die Marktberich-
te von frueher muten die heutigen steinzeitlich an. Oder le-
sen Sie das aelteste Buch ueber die Boerse, "Die Verwirrung
der Verwirrungen" aus dem Jahr 1688, das von André Kostolany
1994 neu herausgegeben worden ist. Es bestaetigt diesen Be-
fund sehr deutlich.

Frueher haette zudem niemand gewagt, die Boerse oeffentlich
prognostizieren zu wollen, wie das heute tagtaeglich pas-
siert. Hier wurden die Argumente beider Seiten dargestellt
und das Urteil dem jeweiligen Leser ueberlassen. Man war sich
einfach der Schwierigkeiten besser bewusst. Heute hingegen
wird mit den ausgefeiltesten mathematischen Modellen noncha-
lant die Kursentwicklung prognostiziert, womit allerdings
kaum ein Erkenntnisgewinn, sondern nur das Erezeugen einer
Illusion verbunden ist.

Das bringt uns zu Sigmund Freud. Freuds bahnbrechende Er-
kenntnisse waren unter anderem, dass der Mensch in weiten
Teilen von Unbewusstem und Verdraengtem gesteuert wird, dass
diese Verdraengungen aus der fruehesten Kindheit resultieren
und im Rahmen einer psychoanalytischen Behandlung aufgedeckt
und beseitigt werden koennen. Heute hingegen ist man der Mei-
nung, dass das alles gar nicht mehr notwendig ist, weil es zu
lange dauert, zu teuer ist und der Erfolg nicht durch eine
naturwissenschaftliche Theorie garantiert ist.

Heute misst man Hirnstroeme und untersucht Nervenzellen. Da-
mit wird der Mensch nahtlos in die naturwissenschaftliche
Theorie eingemeindet. Alles, was nicht in naturwissenschaft-
lichen Gesetzmaessigkeiten fassbar wird, ist ploetzlich un-
wissenschaftlich oder bestenfalls halbwissenschaftlich. Der
Mensch wird nicht mehr als ein Wesen verstanden, dass durch
die Innerlichkeit seiner Erlebnisse und Erfahrungen determi-
niert ist, sondern wird dem rein aeusserlichen Messen, Zaeh-
len und Wiegen preisgegeben. Die Analogie zur oekonomischen
Theorie und zur heutigen Analyse und Prognose der Boerse
koennte nicht deutlicher zu Tage treten.

Was dabei schliesslich konkret heraus kommt, ist in der Psy-
chologie teilweise noch haarstraeubender als an den Maerkten.
So haben Psychologen beispielsweise Messungen durchgefuehrt,
dass bereits eine halbe Sekunde bevor ein Mensch den Ent-
schluss fasst, seinen Arm zu heben, Nervenzellen aktiv wer-
den, die den Arm steuern. Daraus wird geschlossen, dass es
nicht der Wille sein kann, der uns Menschen steuert, sondern
wir voellig unserer Hirnchemie und unserer Hirnstroeme unter-
worfen sind, die es noch zu untersuchen gilt. Der autonome
und eigenstaendig entscheidende Mensch verschwindet damit aus
der Psychologie ebenso wie aus der Theorie der Maerkte. Und
der Triumph der Naturwissenschaft ist vollkommen, die Natur-
wissenschaft hat den Menschen abgeschafft.

Doch dann ploetzlich krachen die Maerkte zusammen und Men-
schen laufen Amok. Und die Naturwissenschaft mit ihren mathe-
matischen Modellen, Hirnchemie und Hirnstroemen bleibt ratlos
zurueck.
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Wenn viele Anleger dasselbe glauben, dann muss dies noch lange nicht bedeuten, dass es stimmt oder wahrscheinlich ist. Das Gegenteil ist oft der Fall.
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