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Alt 12-06-2006, 08:03   #141
Benjamin
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Stagflation voraus?
Geschrieben von TimePatternAnalysis
11.06.2006



Zur Monatswende bestand an den Aktienmärkten eine gute Chance, dass die Bullen das Ruder herumreißen können. Daraus wurde nichts. Im Dow, im SPX und auch im DAX liegen die Kurse mittlerweile unter der EMA200. Im NDX ist das schon länger der Fall. Zusätzlich ist hier nun die EMA50 auf die EMA200 getroffen. Ein signifikanter Fall der ersten, von institutionellen Anlegern viel beachteten Durchschnittslinie unter die als langfristige Scheidelinie zwischen Bullen und Bären angesehene 200-Tage-Linie gilt üblicherweise als Bestätigung für einen Bärenmarkt. Jetzt gilt es!

Stephen Roach von Morgan Stanley erklärt den Kursrutsch mit der Sorge der Aktionäre, dass sich schrumpfendes Wachstum und steigende Preise zur Stagflation verbinden. Auch Fed-Chef Bernanke hatte am Pfingstmontag indirekt auf ein solches Szenario hingewiesen: Er hatte überraschend deutlich Inflationsgefahren aufgezeigt, gleichzeitig aber Erlahmungstendenzen in der amerikanischen Konjunktur ausgemacht.

Stagflation bezeichnet den Teufelskreis zwischen steigenden Preisen, die die Zentralbanken veranlasst, die Zinsen zu erhöhen, wodurch den Unternehmen ihr Finanzierungsspielraum eingeschränkt wird. Sie investieren nicht mehr ausreichend, um steigende Kosten durch höhere Produktivität zu kompensieren, schaffen es aber immerhin noch, diese (zum Teil) an die Verbraucher weiterzugeben.

Es dürfte sicher zutreffen, dass die US-Konjunktur aktuell erlahmt , was natürlich auch Auswirkungen auf die Weltkonjunktur hat. Ob sie in der Perspektive dann auch schrumpft, wie es die im ersten Quartal teilweise inverse Zinsstruktur indiziert, muss sich noch zeigen. Mit diesem Teil seiner Einschätzung steht Roach auch nicht alleine. U.a. zeigt die sich abkühlende Immobilienkonjunktur in den USA Wirkung. Also – Stagnation? Gut möglich, wenn nicht mehr.

Aber wie sieht es mit der zweiten Stichwort aus, das Roach gegeben hat, der Inflation? Angesichts des ungebrochenen Trends zur Globalisierung, sprich der Verlagerung der Produktion in Billiglohnländer geht von der Kostenseite kein übermäßiger Preisdruck aus. Die teilweise enorme Verteuerung von Rohstoffen wird bisher recht gut kompensiert. Wie die jüngsten Zahlen belegen, ist zudem die Zunahme der Arbeitsproduktivität in den USA weiterhin ungebrochen; gleichzeitig bleibt die Entwicklung der Lohnstückkosten klar hinter der Steigerung der Arbeitsproduktivität zurück.

Von der Angebotsseite kommt also gegenwärtig kein besonderer Preisdruck auf. Dies könnte sich ändern, wenn es den Produzentenländern China & Co. gelänge, künftig deutlich höhere Preise durchzusetzen. Aber die Wahrscheinlichkeit hierfür ist aktuell nicht besonders groß, und sie wird es erst recht dann nicht, wenn die wirtschaftlichen Wachstumsraten zu erlahmen beginnen.

Zu einem nachhaltigen Szenario der Preissteigerung gehört auch die kaufkräftige Nachfrage auf Seiten der Konsumenten. Hierzu aber sind steigende Löhne und zunehmende Beschäftigung nötig. Ob sich der Arbeitsmarkt in den entwickelten Industrieländer wirklich deutlich belebt, muss aber bezweifelt werden. Die Zahlen über die neu geschaffenen Stellen in den USA lassen da erhebliche Zweifel aufkommen. Auch die Entwicklung der Arbeitsproduktivität spricht nicht dafür. In einem solchen Umfeld aber ist die kaufkräftige Nachfrage gering, und damit auch die Preismacht der Unternehmen.

Die aktuellen, offiziellen Preissteigerungsraten spiegeln aus meiner Sicht hauptsächlich die steigenden Energiekosten wider, sei es direkt oder sei es in der Kernrate indirekt durch Überwälzung der Kosten auf der Anbieterseite. Rechnet man diese Effekte heraus, landen wir wahrscheinlich eher im Reich der Deflation. Wenn sich die Anzeichen einer Wachstumsdelle verstärken, dürfte den Energiepreisen alsbald die spekulative Luft entweichen, was sich (mit Verzögerung) in den Inflationsdaten niederschlägt. Dann müsste Bernanke alsbald die Anti-Deflations-Geldabwurf-Hubschrauber Milton Friedmans starten, die ihm hartnäckig fälschlicherweise zugeschrieben werden.

Makroökonomisch steht die Sache „Spitz auf Knopf“. Kann die Wirtschaft (nach einer Pause) wieder auf den Wachstumspfad zurückkehren, verschwinden Stichworte wie Stagflation alsbald wieder von der Bildfläche. Und angesichts des horrenden Verschuldungsgrads kann ein wenig Inflation sowieso nicht schaden. Dabei kommt dem Dollar und der Tatsache, dass die Rohstoffe in Dollar notieren, eine wichtige Rolle zu. Wertet er weiter ab, wäre alles wie gehabt.

Die (kontrollierte) Schwächung des Dollar erscheint als der leichteste Weg, um die Ungleichgewichte in der Wirtschaftswelt zu lösen. Roach hatte in einem früheren Kommentar unterstellt, dass die wichtigsten Zentralbanken einen abgestimmten Kurs in diese Richtung fahren. Und dass den Finanzmärkten dies ebenfalls genehm ist, ist in den vergangenen Jahren vielfach deutlich geworden.

Vielleicht ist es etwas zu mechanisch und einfach, aber mir scheint Dollarschwäche und Hausse bei den Finanzmarkt-Assets genauso eng miteinander verbunden, wie Dollarstärke und Baisse. Und mit der ersten Alternative gehen auf den Gütermärkten preissteigernde, mit der zweiten deflationäre Tendenzen einher.

Offenbar bestand aber beim Greenback zuletzt die Gefahr, dass er nach Durchbruch durch die Marke von 1,30 gegen Euro unkontrolliert abrutscht. Möglicherweise spielen hier die Pläne einer iranischen, in Euro notierenden Ölbörse eine wichtige symbolische Rolle.

So sieht William Clark von der Johns Hopkins University, dass sich eine Spirale zu drehen beginnt. Zahlreiche Staaten würden ihre Devisenreserven vom geschwächten Dollar in Euro umschichten. Das Potenzial wird deutlich, wenn man bedenkt, dass alleine in Asien 2600 Milliarden Dollar als Reservewährung gehalten werden. Rutschte der Dollar unkontrolliert ab, so würde das eine panikartige Flucht in den Euro auslösen, meint Hopkins. Das ließe schließlich die US-Wirtschaft kollabieren. Er sieht daher den Streit um das iranische Atomprogramm nur vorgeschoben, in Wahrheit gehe es um die mit dem Thema Ölbörse verbundenen Effekte.

So gesehen, hat das Stagflations-Stichwort vorerst seinen Zweck erfüllt. Erwartungen über ein baldiges Ende des Zinszyklus der Fed sind erst einmal aus dem Markt, wenn auch nicht unbedingt am langen Ende, wie die TBond-Kurse zeigen. Der Dollar wertete auf, insbesondere nachdem die EZB die Leitzinsen heraufgesetzt hat, und ist jetzt auf deutlicher Distanz zur Marke von 1,30 gegen Euro.

Der Grund für die scharfe Korrektur an den Aktienmärkten dürfte damit weniger in der Vorwegnahme von Stagflation, sondern eher in einer Kombination aus Wachstumssorgen und Angst vor einer Eskalation des Irankonflikts liegen. Wobei hier beides mitspielt, die militärische Komponente und die Auswirkungen auf das Währungsgefüge.

Nachdem um Pfingsten herum die erste Stabilisierung an den Aktienmärkten scheiterte, dürfte es in Kürze eine zweite Chance geben. Der S&P 500 hat am 24. Mai und am 8. Juni die Zone von1245 intraday getestet. Hier verläuft das 62er Retracement des Bärenmarktes zwischen 2000 und 2002. Da der zweite Test zu einem tieferen Tief führte, ist wahrscheinlich ein dritter erforderlich. Die beim zweiten Mal besonders heftige Gegenreaktion zeigt die Bedeutung dieser Marke an.

Die Indikatoren legen nahe, dass auch zuletzt wieder zahlreiche Akteure in fallende Kurse hinein gekauft haben. Das ist natürlich Wasser auf die Mühlen der Bären. Der VIX hat in den vergangenen vier Wochen drei Hochpunkte oberhalb von 18 fabriziert. MACD und Stochastik zeigen jedoch erste positive Divergenzen. Der häufig beachtete Quotient aus Indexstand und VIX weist zwar noch abwärts, erreicht jedoch auch nicht mehr das Niveau von Ende Mai. Der die Marktbreite messende TRIN-Index hatte Ende Mai Ansätze einer Stabilisierung gezeigt und ist dann weiter abgerutscht. Seine Auswertung zeigt aktuell noch keine neuen. Das Indikatorgerüst ist damit insgesamt weiterhin keineswegs bullisch, es gibt aber einige zarte Wendezeichen.

Am Dienstag und Mittwoch bekommen wir neue Daten über die Entwicklung der Erzeuger- und der Verbraucherpreise. Am Donnerstag dann Informationen über die internationalen Kapitalströme. Ein Umfeld wie „gemalt“ zum Nachdenken über die bisherige Richtung.

Die Gefahr bleibt klar die: Wenn die 200-Tage-Linien nicht zügig zurückerobert werden können, kommen immer mehr Akteure zu der Überzeugung, dass die Aktienmärkte auf mittelfristige Tauchstation gehen. Dann folgt der nächste Rutsch. Und umgekehrt: Angesichts der überverkauften Lage und der hohen Short-Ausrichtung hat sich Potenzial für eine ordentliche Gegenreaktion aufgebaut.

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