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Alt 30-10-2006, 18:45   #119
Auf Wunsch gelöscht
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Wenn nicht alle Stricke reissen, wird Ehud Olmert schon nächste Woche mit einer bequemen Mehrheit von 78 Mandaten in der Knesset regieren können. Bewirkt hat dies Avigdor Liebermans Eintritt in die Koalition. Der Arbeitspartei unter Amir Peretz bleibt wahrscheinlich nichts anderes übrig, als in den bitteren Apfel zu beissen und in der Regierung zu bleiben.

Von Jacques Ungar

Die Arbeitspartei droht: Wir werden Lieberman nicht akzeptieren» – «Aus der Umgebung von Amir Peretz: Lieberman kommt rein, wir gehen raus» – «Peretz: Njet zu Lieberman». Das sind nur drei Beispiele von Schlagzeilen der letzten Wochen aus israelischen Zeitungen, die sich mit dem «unbeugsamen und lautstarken» Widerstand der Israelischen Arbeitspartei (IAP, 19 Mandate) und ihres Chefs, des Verteidigungsministers Amir Peretz, gegen den Zuzug von Avigdor Lieberman mit seiner Partei Israel Beiteinu elf Mandate) zur Koalition von Premierminister Ehud Olmert befassten.

Kompromisse werden gesucht

Das löwenstarke Gebrüll der IAP und ihres Chefs gegen den Eintritt Liebermans in die Regierung scheint sich jetzt zu einem kläglichen Miauen zu reduziert zu haben. Angesichts seiner prekären parteiinternen Lage – Umfragen dieser Tage unter IAP-Mitgliedern sehen in der Frage nach dem idealen Parteichef erstmals seit langer Zeit Ehud Barak vor Peretz – sucht Peretz ganz offensichtlich nach einer Leiter, auf welcher er nun von dem hohen Ast wieder hinabklettern kann, auf den er sich in einem Moment hinaufgeschwungen hatte, in dem der Koalitionsbeitritt Liebermans noch nicht viel mehr als einer der vielen politischen Versuchsballone Ehud Olmerts war. In seinem offenbar unbändigen Bestreben, die Koalitionsbasis zu verbreitern, offerierte der Premierminister seinem Verteidigungsminister einige Bonbons, um die bittere Pille des Wechsels Liebermans von der Oppositionsbank in die Regierungsrunde zu versüssen. So soll die gesellschaftlich orientierte IAP die Verantwortung für den arabischen Sektor Israels erhalten, und Amir Peretz wird endlich einen Vizeverteidigungsminister ernennen dürfen. Diesem wird es in erster Linie obliegen, seinem in militärischen Angelegenheiten unerfahrenen Chef fachlich unter die Arme zu greifen.

Peretz seinerseits geizte auch nicht mit grosszügigen Gesten, liess er doch durchblicken, dass er vorerst von seiner Absicht abrücken wolle, unbewilligte Aussenposten in der Westbank räumen zu lassen. Das Einzige, was von diesem vor einiger Zeit mit Pauken und Trompeten verkündeten Plan jetzt noch übrig bleibt, ist die Fortsetzung des Dialogs mit den Siedlern und das Einreissen von einer paar Häusern, die in Aussenposten auf privatem palästinensischen Boden errichtet worden sind. Mit diesem Krebsgang erleichtert Peretz seinem baldigen Ministerkollegen Lieberman den Eintritt in die Koalition, will Israel Beiteinu doch nichts von der Räumung von Aussenposten wissen, die für Lieberman und seine Leute alle legal und rechtens sind. Der noch zu Zeiten Ariel Sharons erarbeitete Sasson-Bericht, der von über hundert unbewilligten Aussenposten spricht, die es zu räumen gelte, setzt immer mehr Staub an.

Und wenn wir schon bei den Siedlungen sind: Laut «Haaretz» enthüllt eine innerhalb von zwei Jahren vom israelischen Verteidigungsestablishment durchgeführte geheime Untersuchung, dass in Dutzenden von Siedlungen die illegale Bautätigkeit systematisch vorangetrieben wird und in vielen Fällen auch palästinensischen Privatbesitz involviert. Sowohl der jetzige Verteidigungsminister Peretz als auch sein Vorgänger Shaul Mofaz sind mit der Studie konfrontiert worden, zogen es jedoch vor, die betreffende Information nicht zu veröffentlichen. Laut «Haaretz» mussten verschiedene an der Untersuchung beteiligte Personen eine Geheimhaltungsverpflichtung unterschreiben. Mit der Studie vertraute Kreise sprechen von «politischem und diplomatischem Dynamit». Dabei denken sie in erster Linie wohl an die zu erwartenden kritischen Reaktionen aus den USA, hat Sharon vor über drei Jahren George W. Bush doch die Einfrierung der Bautätigkeit in den Gebieten in die Hand versprochen.

Konflikte sind vorprogrammiert

Kehren wir zurück zum politischen Stehaufmännchen Avigdor Lieberman. Wenn das Kabinett, was zu erwarten ist, am Sonntag oder Montag dem Eintritt des rechtsnationalen, ausgesprochen antiarabisch eingestellten Liebermans in die Regierung zustimmt, wird der altneue Minister nicht nur stellvertretender Premier werden, sondern auch für die «Behandlung der strategi-schen Bedrohungen Israels» verantwortlich zeichnen. Dieser Job, in dessen Zentrum die Ausarbeitung möglicher Antworten Israels auf die iranische Atomrüstung steht, passt zwar bestens zum martialischen Gehabe dieses Mannes, doch beschneidet sie gleichzeitig den Aktionsradius von Amir Peretz, aber auch von Aussenministerin Tzippi Livni, die sich in einem Radiointerview am Mittwoch klar zugunsten der Einsitznahme Liebermans in der Kabinettsrunde aussprach. Obwohl Olmert sich mit diesem Schachzug eine auf dem Papier solide Mehrheit von 78 der insgesamt 120 Mandate schafft, sind Unruhen in der IAP ebenso vorprogrammiert wie ständiges Gezanke in der Regierung. Der erste Test wird die Sitzung der IAP-Zentrale vom Sonntag sein, die unter Umständen den Wunsch der Parteispitze nicht absegnen wird, Lieberman zum Minister zu krönen.

Man muss sich also fragen, warum Olmert zum Schluss gelangt ist, ohne Israel Beiteinu nicht regieren zu können. Im Vordergrund stehen offenbar weniger langfristige Überlegungen als so prosaische Dinge wie die Sicherung einer Mehrheit für die Abstimmung über den Staatshaushalt 2007, die bei der jetzigen Konstellation in der Knesset angesichts der Opposition nicht weniger IAP-Abgeordneter gegen das ihrer Meinung nach antisoziale Budget nicht unbedingt gesichert wäre. Dann kann Olmert bei dem klaren politischen Rechtsrutsch, den der Beitritt Liebermans darstellt, die im Wahlkampf und nach seinem Amtsantritt prahlerisch verkündeten Pläne für einen Rückzug aus Teilen der Westbank «mit Rücksicht auf den Koalitionsfrieden» in eine noch tiefere Schublade verstauen und auf eine noch längere Bank schieben, als er das ohnehin schon tut. Schliesslich würde es Ehud Olmert mit dem Koalitionsbeitritt von Israel Beiteinu gelingen, Binyamin Netanyahu und den Likud mit seinen kümmerlichen zwölf Knessetsitzen auf absehbare Zeit zum einflusslosen Oppositionsdasein zu degradieren. Medienberichten zufolge hatte Netanyahu in den letzten Wochen Fühler in Richtung Olmert ausgestreckt, um die Möglichkeiten und Bedingungen für einen Koalitionsbeitritt auszuloten. Wenn sich nicht im letzten Moment noch Unvorhergesehenes ereignet, wird Ehud Olmert schon nächste Woche mit 78 Mandaten im Rücken regieren können. Dass ausgerechnet ein Avigdor Lieberman ihm dies ermöglicht, hat unter israelischen Arabern, aber auch in der arabischen Nachbarschaft, zynische bis feindselige Reaktionen ausgelöst, doch das kümmert Olmert kaum.

Erneute Unruhen in Gaza?

Dabei sollte Israel sich sehr wohl über die Entwicklung im Gazastreifen Gedanken machen. An dieser Stelle wurde bereits mehrere Male darauf aufmerksam gemacht, dass Israel und die Palästinenser ohne drastische Änderung der Situation im Eilzugstempo auf eine grosse Militärkonfrontation hinmarschieren. Immer noch beschiessen Terroristen fast täglich die Stadt Sderot und den westlichen Negev mit Kassem-Raketen, und nach Angaben von Generalstabschef Dan Halutz haben die Palästinenser in der Gegend von Rafah an der Grenze zu Ägypten «Hunderte von je rund anderthalb Kilometern langen Tunnels» gegraben, um den Waffenschmuggel auch dann fortsetzen zu können, wenn die ägyptischen Sicherheitskräfte versuchen sollten, diesen an der Oberfläche einzudämmen. Sollten die Ägypter den Schmuggel nicht unter Kontrolle bringen, würde sich Israel laut Halutz ernsthaft mit dem Gedanken tragen, in dem nach dem Abzug aus dem Gazastreifen geräumten sogenannten Philadelphi-Streifens entlang der Grenze wieder eine militärische Präsenz einzurichten. Verteidigungsminister Amir Peretz beschwichtige nach dieser Äusserung und meinte, Israel denke nicht daran, den Gazastreifen wieder zu besetzen. Zwei Bemerkungen, die einander, wenn man es genau nimmt, nicht widersprechen müssen. Es wäre daher zu empfehlen, sich auf eher unruhige Zeiten rund um den Gazastreifen einzurichten.
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