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Alt 11-03-2007, 08:49   #119
621Paul
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Unser Gesundheitssystem wie Guantanamo Bay

von Dr. Bernd Niquet

Der alte Mann traegt ein doppeltes Schicksal. Und unsere Ge-
sellschaft auch. Vor kurzem ist der alte Mann in ein Pflege-
heim gekommen. Der Platz dort kostet 3.390 Euro im Monat.
Davon zahlt die Pflegeversicherung 1.279 Euro und den Rest in
Hoehe von monatlich 1.731 Euro die Familie.

Der Mann hat den Russland-Feldzug mitgemacht, ist aber
glimpflich davon gekommen, hat ueberlebt und nur wenige Mona-
te Kriegsgefangenschaft erleiden muessen. Nach dem Krieg dann
schnell die Beendigung der Schulausbildung, einen Beruf er-
lernt, ein Geschaeft gefuehrt. Das ganze Leben ueber von nie-
mandem Hilfe erwartet und das ganze Leben ueber niemals krank
gewesen. Die letzte Erkaeltung liegt bestimmt zwanzig Jahre
zurueck. Doch jetzt versagen die Beine, versagt der Kopf, ist
der Mann nur noch ein Schatten seiner selbst. Und hat auch
keine Lust mehr, weiter zu leben. Hat alles erreicht in sei-
nem Leben, Geschaeft, Familie, Kinder, Enkelkinder.

Es ist nur noch die Hoffnung auf ein wuerdiges Ende, die
jetzt bleibt. Ein Pflegeheim ist wie ein umgedrehter Kinder-
garten. Hier wird nicht fuer das Leben gelernt, hier wird
fuer das Ende entlernt. Unser Mann hat sein ganzes Leben zu-
rueckgezogen gelebt. Jetzt findet er sich in einer Spielgrup-
pe wieder. Doch die Pflegerinnen sind liebevoll und er ge-
woehnt sich daran. Dann jedoch geht der Grippevirus um. Keine
schlimme Influenza, ein harmloserer Virus genuegt, um unseren
Mann ins Bett zu bringen. Bei 39 Grad Fieber sichert sich das
verantwortungsvolle Management des Pflegeheimes gegen moegli-
che Folgen ab. Und weist unseren Mann ins Krankenhaus ein.

Zwei Tage spaeter finden die Angehoerigen im Krankenbett nur
noch ein Haeuflein wieder. Auf den ersten Blick sieht alles
wunderbar aus. Ein schoenes Einzelzimmer mit Blick in die
Natur. Ein kleiner heller und ruhiger Raum. Es riecht nach
bluetenweisser Waesche. Nette Schwestern. Ein Bild wie aus
dem Bilderbuch. Die beiden Arme des alten Mannes sind am Bett
festgebunden, damit er sich die Kanuele fuer die Infusion des
Medikaments nicht aus der Hand zieht. Unten aus der Bettdecke
ragt ein duenner Schlauch, der in einen Beutel mit gelber
Fluessigkeit muendet. Ein Blasenkatheter, um die Muehen des
Aufstehens und des Toilettenganges zu ersparen. Um sie dem
alten Mann zu ersparen? Oder um sie dem Betreuungspersonal zu
ersparen? Um die Kostenrechnung zu entlasten.

Jedes Mal, wenn der alte und an beiden Armen festgebundene
und mit einem Blasenanker gesicherte Mann versucht, seine
Liegeposition zu aendern, ruft er vor Schmerzen laut "ah".
Medizinisch wird er auf hohem Niveau versorgt, doch wer hier
versorgt wird, ist nur noch ein Objekt, ein Ding und kein
Mensch. Festgebunden, mit Schlaeuchen versorgt und durch
Schlaeuche entsorgt. Bald wird der Mann 85 Jahre alt. Unsere
Medizin wird es schaffen, diesen amorphen Haufen, dieses
Ding, das einmal ein Mensch war, hundert Jahre alt werden zu
lassen.

In seinem Inneren erlebt der alte Mann in diesen Kranken-
haustagen seine Kriegsgefangenschaft noch einmal. So festge-
bunden und verankert ist ploetzlich alles wieder praesent.
Was hat der arme alte Mann nur verbrochen, das man ihm das
antut? Gefesselt im Bett und ueberall Schlaeuche hineinge-
schoben. Wie human geht es dagegen in Guantanamo Bay zu.

Doch das Menschenopfer hat wenigstens einen Sinn. Denn die
Einnahmen des Krankenhauses von vielleicht 4.000 bis 6.000
Euro im Monat addieren sich zu den Einnahmen des Pflegeheimes
in Hoehe von 3.390 Euro und lassen unser Bruttosozialprodukt
wunderbar ansteigen. Und das zeigt, dass unsere Wirtschaft
kerngesund ist. Und man sich wirklich keine Sorgen machen
muss.


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Bernd Niquet ist Boersenkolumnist und Buchautor.
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Wenn viele Anleger dasselbe glauben, dann muss dies noch lange nicht bedeuten, dass es stimmt oder wahrscheinlich ist. Das Gegenteil ist oft der Fall.
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