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Alt 30-11-2007, 14:43   #1
Auf Wunsch gelöscht
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Putins gelenkte Wahl

30. November 2007 „Ich und Einiges Russland oder das Chaos.“ Das war der Kern der letzten Botschaft vor der Wahl, die Präsident Putin am Donnerstag an die Bevölkerung richtete. Am Sonntag wird in Russland das Unterhaus, die Duma, neu gewählt, und Putin ist Spitzenkandidat der Kreml-Partei „Einiges Russland“, der er aber - noch - nicht als Mitglied angehört.

Putin forderte die Bürger auf, ihre Stimme dieser Partei zu geben, um zu verhindern, dass die dunklen Kräfte der jüngsten Vergangenheit wieder an die Macht gelangen und alles zerstören, was in Russland aufgebaut wurde. Doch nach Auffassung politischer Beobachter haben die Polittechnologen des Kremls und die Bürokratie alles fest im Griff.

Die Landeswahlleitung hat eine Arbeitsgruppe gebildet, die die Wahlergebnisse, die aus den Regionen gemeldet werden, begutachtet und die Beschwerden wegen möglicher Unregelmäßigkeiten prüft. Sie besteht ausschließlich aus „Einheitsrussen“.

Elf Parteien haben sich zur Wahl gestellt, aber nur vier haben laut Umfragen Aussicht, Abgeordnetenmandate zu erringen. Nach Ansicht der meisten Beobachter im In- und Ausland wird die Kreml-Partei „Einiges Russland“ unangefochten den Sieg davontragen und die Mehrheit der 450 Mandate gewinnen. In der vergangenen Legislaturperiode verfügte die Partei über zwei Drittel der Parlamentssitze.

Vor allem Staatsbeamte gehören der Partei an, und das nicht immer freiwillig. „Einiges Russland“ war auch dazu gedacht, die Provinzen enger an das Zentrum zu binden, weshalb auf die Gouverneure, deren Wahl durch das Volk Putin zuvor abgeschafft hatte, Druck ausgeübt wurde, der Partei beizutreten.

Als Befehlsempfänger Putins und der Partei sollen sie nach Berichten aus der Provinz nun dafür sorgen, dass die „Einheitsrussen“ ein möglichst gutes Wahlergebnis erzielen und die Wahlbeteiligung hoch ausfällt. Die Opposition sieht schon eine neue Einheitspartei nach dem Vorbild der sowjetischen KPdSU im Entstehen. Der Oppositionspolitiker und frühere Schachweltmeister Garri Kasparow warnte am Donnerstag nach Verbüßung von fünf Tagen Haft vor einem Abgleiten Russlands in die Diktatur.

Sieg der „Einheitsrussen“ nicht gefährdet

Aussichten, mindestens sieben Prozent der Wählerstimmen auf sich zu vereinigen und ebenfalls ins Parlament einzuziehen, haben laut den letzten Umfragen vor allem die russischen Kommunisten von Gennadij Sjuganow, die Ultranationalisten der Liberal-Demokratischen Partei von Wladimir Schirinowskij und womöglich die Partei „Gerechtes Russland“, die vom Präsidenten des Oberhauses, des Föderationsrates, Sergej Mironow, geführt wird.

In politischen Kernfragen haben sich diese drei Parteien, die auch in der alten Duma vertreten waren, Putin meist gefügt. Das galt auch für die Außenpolitik des Kremls, die immer deutlicher einen antiwestlichen Anstrich erhielt. Den beiden Parteien, die die demokratische Mitte verkörpern und bereits in den neunziger Jahren die Politik mitgeprägt haben, der liberalen Jabloko-Partei von Grigorij Jawlinskij und dem Bündnis der rechten Kräfte (SPS) mit den Führungsfiguren Nikita Belych und Boris Nemzow, wird der Einzug ins Parlament den Umfragen zufolge kaum gelingen.

Seit Präsident Putin auf dem Wahlparteitag der „Einheitsrussen“ bekanntgab, dass er deren Liste in der Duma-Wahl anführen werde, scheint der Sieg der „Einheitsrussen“ durch nichts mehr gefährdet. „Einiges Russland“ lehnte es im Hochgefühl des sicheren Sieges sogar ab, an den Wahldebatten im Fernsehen und im Rundfunk teilzunehmen. Die Partei konzentrierte sich auf Putin und seinen „Plan“. Putin selbst erläuterte, damit sei die Politik während seiner zwei Amtszeiten als Präsident und deren Fortsetzung gemeint, die unbedingt fortgeführt werden müsse.

Putin will die russische Politik auch nach seinem Ausscheiden aus dem Präsidentenamt im Frühjahr entscheidend mitbestimmen. Voraussetzung sei jedoch, dass „Einiges Russland“ einen überzeugenden Wahlsieg erringe. Eine dritte Amtszeit in Folge als Präsident lässt die Verfassung nicht zu; sie zu ändern, lehnte Putin ab.

Der Chef der „Einheitsrussen“, Boris Gryslow, forderte vorsichtshalber, Putin müsse zum „nationalen Führer“ erklärt werden, damit er die Geschicke des Landes, auch ohne Präsident zu sein, auch künftig lenken könne. Auch der Patriarch der Russischen Orthodoxen Kirche, Alexii II., wünschte, dass Putin Russland als nationaler Führer erhalten bleibe. Die Bewegung „Für Putin“ - eine Ergänzung zur Kreml-Jugend „Die Unsrigen“ (Naschi) - stieß ins gleiche Horn.

Putin hat dennoch ein Problem. „Einiges Russland“ muss mit seinem Spitzenkandidaten in der Parlamentswahl mindestens 71 Prozent der Stimmen erreichen, so viel, wie auf Putin in der Präsidentenwahl von 2004 entfiel. Bliebe die Partei mit Putin als Spitzenkandidat deutlich unter diesem Ergebnis, käme dies in der Tat einer Blamage gleich und Putins Anspruch auf eine führende politische Rolle wäre kaum noch vermittelbar.

Das könnte erklären, dass der Wahlkampf unter einem bislang nicht gekannten Druck der Behörden stattfindet. Die Zeitung „The Moscow Times“ berichtete von Beamten der Wahlbürokratie, die die klare Anweisung erhielten, notfalls auch Ergebnisse zu fälschen, um den „Einheitsrussen“ ein „Prachtergebnis“ zu sichern. Das sei selbst dann möglich, erfuhr die Zeitung von einem dieser Beamten, wenn OSZE-Wahlbeobachter dort seien. Aber Russland hat alles getan, dass die Entsendung einer Beobachtermission scheiterte.

Kein führender Industriestaat mehr

Der Wahlkampf wurde letztlich auf die Frage „Was macht Putin?“ reduziert. Den Russen wurde vor der Wahl deutlich gemacht, dass sie eigentlich gar keine Wahl hätten. Dadurch fiel es auch leichter, eine offene Debatte über die Schattenseiten der Regierungspolitik zu vermeiden.

Derweil werden in der Berichterstattung der öffentlichen Fernsehkanäle die hässlichen Flecken auf dem Hochglanzbild verschwiegen, das Putin unter Benutzung erfreulicher gesamtwirtschaftlicher Eckdaten gewöhnlich von Russland zeichnet. Verschwiegen wird dabei, dass Russland trotz der Einnahmen aus dem Ölgeschäft und des wachsenden Konsums aufgehört hat, ein führender moderner Industriestaat zu sein.

300 extremistische Jugendorganisationen

Der Sankt Petersburger Wissenschaftler Jakow Gilinskij von der Akademie der Wissenschaften machte in einem unveröffentlichten Interview mit dem Publizisten Aleksandr Gogun („Schtschuka“) eine Gegenrechnung zur Erfolgsgeschichte der Regierenden auf. Sie bestätigt, was auch internationale Organisationen festgestellt haben.

Laut Gilinskij ist die Verbrechensrate unter Putin höher als in den schlimmsten Phasen der neunziger Jahre. Und weil die Staatsmacht eine Zeitlang mit Fremdenhass und Rassismus gespielt habe, seien Hemmschwellen gefallen. In den ersten zehn Monaten dieses Jahres wurden 450 Verbrechen aus rassistischen Motiven verübt, 53 Menschen kamen um.

Die Zahl der extremistischen Jugendorganisationen belaufe sich auf etwa 300, die Zahl ihrer Mitglieder betrage mindestens 10.000. Im Nordkaukasus reihe sich Anschlag an Anschlag. Das organisierte Verbrechen sei in den vergangenen Jahren in die staatlichen Organe eingedrungen und habe diese „kriminalisiert“. Miliz und Geheimdienste hätten die Rolle der Gangster von früher übernommen und kontrollierten als „Paten“ Rauschgifthandel, Prostitution oder Spielkasinos.

Sterblichkeitsrate wie in Ostafrika

Die „Banditisierung“ staatlicher Strukturen greife um sich, wie die Korruption im Lande. Während Russland in Öldollars schwimme, weise das Land die höchste Selbstmordrate auf der Welt auf. Die Sterblichkeitsrate sei so hoch wie in Ostafrika, und die Lebenserwartung für russische Männer liege mit 59 Jahren im Durchschnitt unter dem Renteneintrittsalter.

Das Gesundheitswesen sei eine einzige Katastrophe. Die Dörfer - viele sind noch immer ohne Telefonanschlüsse - stürben sprichwörtlich aus. In vierzig Prozent aller russischen Schulen fehlten moderne Toiletten. Das Einkommensgefälle zwischen Armen und Reichen werde immer größer.

Eine Debatte darüber blieb jedoch aus. Selbst sensationelle Enthüllungen über Putins angeblichen privaten Reichtum und dessen zweifelhafte Herkunft hatten keine Folgen. Fernsehredakteure riskierten buchstäblich Kopf und Kragen, würden sie darüber berichten. Auch das gehört zu Putins Russland.
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"Mittagessen? Nur Flaschen essen zu Mittag!"
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