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Alt 03-12-2006, 23:58   #2
Auf Wunsch gelöscht
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IV. Der Reichtum der Regionen


Klug ist auch ein Satz der Bürgerrechtsbewegungen der siebziger Jahre: Global denken, lokal handeln. Mit anderen Worten: mit offenen Augen durch die Welt gehen und das Richtige dort tun, wo man lebt. Diese Haltung ist eigentlich nahe liegend. Nicht nur Menschen sollten sich so verhalten – und tun es letztlich auch immer wieder –, sondern auch die von ihnen geschaffenen Systeme. Das Zauberwort heißt: Erkenne den Unterschied.

Im alten Nationalstaat waren Unterschiede unauflösbare Widersprüche. Die Logik geschlossener Systeme ist immer gleich: Was außerhalb liegt, ist Bedrohung, Konkurrenz. Offene Systeme hingegen nutzen das andere, verbünden sich mit ihm, um in den offenen Wettbewerb zu treten. Wettbewerb braucht Kommunikation und Kooperation. Für Konkurrenten hingegen genügen Kanonen. Dieser Unterschied ist spielentscheidend, und junge Fußballfans wissen das besser als alte Führungskader.

Nehmen wir mal China. Die Volksrepublik ist das Symbol der Globalisierung schlechthin. In einem atemberaubenden Tempo hat das Land mit seinen 1,3 Milliarden Menschen seit 1975 den Aufstieg zur heute viertgrößten Wirtschaftsmacht geschafft, und kaum jemand unter den globalen Mitbewerbern zweifelt daran, dass damit noch nicht das Ende der Fahnenstange erreicht ist. Die Volksrepublik China ist ein zentralistischer Nationalstaat. Geschlossen. Straff. Hierarchisch. Und erfolgreich.

Klar, dass die, die früher hier mit den gleichen Methoden prima zurechtkamen, das gern auch in Europa wieder so hätten. Von China lernen heißt siegen lernen, sagen sie. Eine in Wirtschafts- und Sozialordnung gleichgeschaltete EU ist ihr Ziel, zunächst. Doch Europäer sollten es besser wissen. In den vergangenen 500 Jahren hat sich die Welt fast vollständig an Europa orientiert. Europäer oder von Europäern abstammende Nationen, etwa die Amerikaner, mögen nicht überall beliebt sein. Dass ihre Kultur die Welt bis heute stärker geprägt hat als jede andere, steht freilich außer Frage. Und das war zu keinem Zeitpunkt das Resultat von Einigkeit und Geschlossenheit.

Die Lektüre einiger Passagen von Jared Diamonds Buch „Arm und Reich“ kann neuen Zentralisten auf die Sprünge helfen. Der Biologe und Geograf nahm sich 25 Jahre Zeit für dieses Buch. Es sollte beantworten, weshalb manche Völker so reich wurden, während andere stagnierten. Das Geheimnis hinter Europas Erfolg heißt Region, Wettbewerb und Unterschied. Im Jahr 1500 gab es nahezu 500 staatsähnliche Gebilde, Länder, Reiche und Stadtstaaten, die in ihrer Autonomie noch deutlich vielschichtiger waren. Messen, Märkte und Handel sorgten dafür, dass man immer mitbekam, was die Nachbarn hatten und konnten. Es herrschte Vielfalt, Wettbewerb und reger Austausch. Jede Region hatte die Wahl: Veränderungen anzunehmen oder abzulehnen. Wer sich dem Neuen allerdings verweigerte, lief Gefahr, überholt zu werden. So entstand ein lebendiger Markt um Ideen und die besten Köpfe. Innovatoren hatten eine reiche Auswahl an Investoren und Partnern.

Diamond erzählt die Geschichte des Seefahrers und Entdeckers Christoph Kolumbus. Der Genueser wandte sich zuerst an den König von Portugal: „Als der sein Ersuchen ablehnte, ihm Schiffe für eine Entdeckungsreise gen Westen zur Verfügung zu stellen, trat er an den Herzog von Medina-Sedonia heran, der ebenfalls ablehnte, dann an den Grafen von Medina-Celi, der das Gleiche tat, und schließlich an den König und die Königin von Spanien“, schreibt Diamond. Hin und her ging das Ganze, es wurde verhandelt, gedealt, gepokert – und als im April 1492 die Spanier zugriffen, war Kolumbus gerade auf dem Weg nach Paris, um den König von Frankreich anzupumpen. Das war völlig normal.

Andererseits fragt Diamond, warum das Kaiserreich China, das im Mittelalter Europa technisch weit voraus war, nicht die Welt eroberte, wie es die Europäer taten. China war damals seit fast 2000 Jahren ein Zentralstaat. Die Chinesen verfügten über die größte Flotte der Welt, 28 000 Mann stark und mit Schiffen von 120 Metern Länge. Weit besser als das, was die Spanier hatten. Warum fuhren sie nicht nach Amerika?

Die Flotte unterstand den engsten Beratern des Kaisers, den Eunuchen. Und gegen diese Berater wurde im Laufe des 15. Jahrhunderts erfolgreich geputscht. Alles, was mit ihren Erfolgen zu tun hatte, musste verschwinden. Die Flotte, die Werften, das Wissen darum. Ein einziges Dekret des Kaisers reichte dazu aus. Das hatte bereits Tradition, schreibt Diamond: „So brach China die Entwicklung einer raffinierten, wassergetriebenen Spinnmaschine ab, machte im 14. Jahrhundert an der Schwelle zur industriellen Revolution kehrt, schaffte praktisch alle mechanischen Uhren ab, nachdem seine Uhrmacher Weltrang erlangt hatten, und verabschiedete sich gegen Ende des 15. Jahrhunderts ganz von der Herstellung mechanischer Geräte und der Weiterentwicklung von Technik.“ In den sechziger Jahren legte KP-Chef Mao Zedong durch seine Kulturrevolution das Bildungs- und Forschungswesen auf Jahre lahm. Per Dekret. In China herrscht heute unfreier Kapitalismus, der jederzeit von der KP-Spitze per Dekret verändert werden kann.


V. Union der Regionen


Es gibt aber Stimmen in Europa, die der Geschlossenheit – oder besser: Verschlossenheit – Chinas mit einer neuen Einheit begegnen wollen. Vor allem die Politik der großen EU-Nationen Deutschland und Frankreich war in den vergangenen Jahren auf etwas ausgerichtet, das schemenhaft als „europäischer Superstaat“ bezeichnet wurde. Außenpolitik, Wirtschaft, Recht, Verkehrspolitik, eine gemeinsame Abstimmung in der Forschung und Entwicklung sind grundsätzlich der Vielfalt nicht abträglich. Die Frage ist, wie weit die Anpassung geht. „Europa ist eben nicht der große Nationalstaat, wir leben von den Unterschieden. Politiker mit nationalstaatlichem Hintergrund, also die Leute, die natürlich auch in Brüssel das Sagen haben, verstehen das nur teilweise“, sagt Warnfried Dettling, Publizist und lange Jahre Leiter der Hauptabteilung Politik der CDU.

Spätestens aber dann, wenn in den EU-Ländern einheitliche Steuern- und Sozialstandards gälten, wären diese Unterschiede perdu, sagt Dettling: „Das tötet jeden Wettbewerb, von dem die kleinen Staaten und Regionen heute so profitieren, im Keim.“ Und nützt wem? Den großen nationalstaatlichen Brocken, allen voran Frankreich und Deutschland, die ihre Hausaufgaben nicht gemacht haben. Was im eigenen Land nicht mehr funktioniert, ein überbordendes Sozialsystem und die konsequente Verhinderung von Leistung im Namen des Staates, soll auf den Rest der Gemeinschaft übertragen werden. Damit ist man lästige Konkurrenz los. Auch ein Konzept: Man exportiert ein untaugliches Gesellschaftssystem auf Mitbewerber, damit die die gleichen Probleme bekommen, die man selbst nicht lösen kann. Nun hat sich diese prima Idee, die an vorderster Front vom ehemaligen Berufs-68er Daniel Cohn-Bendit, heute wohlbestallter EU-Abgeordneter der Grünen, vertreten wird, bei den übrigen EU-Staaten allerdings nicht durchgesetzt. Die wollen mehrheitlich etwas ganz anderes: Soziale Standards für die EU finden sie okay, allerdings solche, die nicht alles einebnen. Mindeststandards finden klare Mehrheiten, Regeln also, die das wirklich Wichtige am sozialen Europa klar und vehement schützen, ohne dabei die elementaren Unterschiede der Länder und Regionen zu erdrücken. Diese Konzepte stehen heute gegeneinander.


VI. Die Transnationalen


Dass die Deutschen – wie auch die Franzosen – meinen, ihr System sei anderen haushoch überlegen, ist weder neu noch richtig. Doch anders als in Frankreich stellt sich für Deutschland, den zaudernden Nationalstaat in einer globalen Umgebung, eine viel grundlegendere Frage. Französische Bürger leiten ihre Identität nicht vorwiegend aus ihrem Sozialsystem ab. In Deutschland aber ist das Sozialsystem gleichsam der Kern der Nation. Drum herum ist praktisch nichts. „Seit 1871 gibt es nur eine Konstante in Deutschland, die alle Kriege und Krisen überlebt hat – das ist der Sozialstaat, und der ist nicht mehr zu halten“, sagt Dettling. Der Verlust des Nationalstaates aber wird vor allem die Regionen stärken, das Bewusstsein lokaler Kultur. Das wiederum wird die Identität und das Selbstvertrauen stärken und gleichsam Unterschiede aufwerfen, die dem guten Wettbewerb zwischen Regionen nutzen. Bayern, Hamburger, Berliner, Stuttgarter – sie sind nicht gleich und sollen es nicht sein. Das Bewusstsein, anders zu sein als die anderen, heißt nicht, sich auf kleinerer Ebene so zu verschließen, wie es Nationalisten stets taten. Warnfried Dettling ist optimistisch: „Es ist der Anfang von etwas viel Besserem: Wir Deutsche müssen lernen, welchen Nutzen Unterschiede haben, und Regionen stärken, die den Wettbewerb viel besser meistern.“ Der Nationalstaat steht zwischen erfolgreichen Regionen, den Biotopen des Wettbewerbs, und dem globalen Markt, der für sie wie geschaffen ist. Doch der Pakt mit dem Globalen ist, wie der ehemalige Bundestagspräsident Wolfgang Thierse es mal nannte, einer mit „vaterlandslosen Gesellen“. Das klingt nach Ärger, zumindest nach Verschwörung. Mal sehen.

Die Arbeiter, so bemerkte schon Karl Marx, haben kein Vaterland. Davon unbeeindruckt errichteten seine Erben unter dem Vorwand der Brüderlichkeit und Gerechtigkeit in der Regel knallharte nationalistische Regimes, in denen Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Abschottung zur Grundausstattung gehörten. „Internationales Kapital“ und „Multi“ gehörten in der alten Bundesrepublik – lange bevor das Schlagwort von der Globalisierung aufkam – zu Standardphrasen im linken wie rechten Milieu. Wolfgang Thierse und andere spielen mit diesen in vielen Köpfen noch verankerten Klischees: Global tätige Konzerne seien keinerlei Werte- und Rechtssystem verpflichtet. Sie seien unzuverlässig, zögen wie Heuschrecken durch die Welt, stets auf der Suche nach Profit.

Dieses Klischee wird nicht nur in Deutschland gepflegt. Der amerikanische Politologe und Bestsellerautor Samuel Huntington („The Clash of Civilizations“) hat in seinem 2004 erschienenen Buch „Who are we?“ die Frage nach der gegenwärtigen und künftigen Identität von Nationen, insbesondere der USA, gestellt. Huntington plädiert, schlau und nicht annähernd so platt wie manche europäischen Globalisierungsgegner, für eine starke Nation. Gefährdet sei die durch eine neue „globale Superklasse“ von Managern, Wissenschaftlern, Intellektuellen, Technikern und Ingenieuren, die sich nicht mehr ihrem Land, ihrer Nation, verbunden fühlten, sondern nur sich selbst. Was man hier Vaterlandslose nennt, heißt bei Huntington „Transnationale“.

Die globalen Transen machen nach seinen Schätzungen heute etwa 20 Millionen Elitearbeiter aus, davon rund 40 Prozent Amerikaner, und bis 2010, so Huntingtons Befürchtung, wird sich ihre Zahl verdoppeln. Es sind Menschen ohne nationale Identität, die sich nur kurz an einem Standort aufhalten, zwei, drei Jahre, in weltweit uniformen Behausungen mit einer weltweit gleichförmigen Kultur. Die Werte und Ziele des Landes und der Region, in der sie gerade sind, interessieren sie nicht. Gewiss: Menschen, die sich nicht für Menschen interessieren, mit denen und für die sie arbeiten, werden kaum am Schicksal der Regionen, in denen sie gerade leben, teilhaben. Doch sind sie tatsächlich „Verräter“, wie Huntington schreibt? Sind sie die globale Weltverschwörung?

Huntingtons Analyse der globalen Superklasse ist ein Beispiel dafür, dass Halbwahrheiten noch gefährlicher sind als komplette Lügen. Denn das Häufchen Verlorener, die der konservative Huntington und seine scheinbaren Widersacher von der Linken zu Verrätern hochstilisieren, ist global betrachtet genau dort, wo auch ihre Kritiker sitzen: auf dem absteigenden Ast. Wir kennen sie: Auf Flughäfen, in Business-Lounges, uniformen Restaurants und Einkaufsmeilen halten sich diese Leute auf, an allen Plätzen auf der Welt, die auch irgendwo anders sein könnten, ganz gleich wo. Ihre Haltungen sind dementsprechend. Sie meinen, ihr Unternehmen würde die kulturelle und soziale Identität der Gemeinden, in denen sie leben, mühelos ersetzen, so haben sie es von ihren alten Konzernen gelernt.

Deren Politik baut allerdings nicht auf der Globalisierung. Die großen alten Multis sind kulturell und politisch in ihren Heimatländern verwurzelt, sie sind Produkte des Nationalstaates. Es reicht auf Dauer nicht aus, diese Herkunft mit etwas Opportunismus und ein wenig Smartheit zu verbinden, um wirklich global zu sein. Es fehlt an Verantwortung und Einsatz vor Ort. Deshalb beschwören so viele multinationale Unternehmen so wortreich unverbindliches Zeug wie Corporate Identity. Unternehmensethik soll weltweit gelten. Meint man damit einige wenige, ohnehin klare Regeln für den Umgang von Menschen miteinander, ist das in Ordnung. Wer die meisten Papiere dazu liest, bemerkt aber, dass es um etwas anderes geht: Alle sollen auf dieselben Wertvorstellungen eingenordet werden. Damit lässt sich alles leichter verwalten. Und das ist das Ziel multinationaler Konzerne: Einheit durch straffe Organisation. Das Muster ihrer Herkunft. Was Huntington „Verräter“ nennt, sind in Wahrheit arme Würstchen, die aus dem gleichen Holz sind wie die, die sie so nennen: Nationalisten auf der Flucht, die ihre alten Ordnungsprinzipien retten wollen.

Sie sind aus dem gleichen Holz wie die Globalisierungsfeinde, und die Motive ähneln einander sehr. Sie fordern weltweite Gesetze, Regeln, Regulative. Warum? Ganz einfach: Ihnen bricht ihr wichtigster Brötchengeber, der Nationalstaat, wegen schwindenden Einflusses weg. Nun soll global, international, weltweit ein neuer Rahmen für ihr Wirken geschaffen werden. So denken auch deutsche, britische, französische, amerikanische und viele andere Multis. Im Staat ist nicht mehr viel zu holen. Mal sehen, ob es nicht mit den gleichen Mitteln auch in der Welt geht.

Doch die offene Welt wird klüger. Immer mehr Menschen wissen, dass die, die besonders laut über Verantwortung reden, meist keine haben. Das spricht sich herum. Wer seine Glaubwürdigkeit nicht in der Region, von der aus er gestartet ist, bewahren konnte, wird sie im Rest der Welt nicht erhalten. Wer global Geschäfte machen will, muss lokal, in seiner Region, handeln. Vertrauen und Verbindlichkeit sind Werte, die man sehen muss. Gleichzeitig sind sie Grundlage für gute Geschäfte.
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"Mittagessen? Nur Flaschen essen zu Mittag!"
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