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Alt 01-02-2006, 09:06   #24
Stefano
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...aus dem Wiesbadener Tagesblatt vom 26.01.06

"Wir müssen den Beamtenstatus für Lehrer abschaffen"

Beim Tagblatt-Talk im Pariser Hoftheater liefern drei erfahrene Pädagogen viele Vorschläge, was sich in der Schule ändern sollte!

Brigitte Richter-Undeutsch leitete viele Jahre die Biebricher Wilhelm-Heinrich-von-Riehl-Schule.

Enja Riegel, die mit den Pisa-Ergebnissen der Helene-Lange-Schule bundesweit für positive Schlagzeilen sorgte, plant nun eine private Modellschule.

Dr.
Wolfgang Bietz - der Oberstudiendirektor des altsprachlichen Mainzer Rabanus-Maurus-Gymnasiums.

Drei erfahrene Pädagogen, Schulleiter allesamt, präsentierten sich mit sehr unterschiedlichen Vorstellungen, aber auch mit überraschenden Gemeinsamkeiten. Enja Riegel, Brigitte Richter-Undeutsch und Dr. Wolfgang Bietz diskutierten unter der Gesprächsleitung von Angelika Dorweiler und Peter Königsberger beim Tagblatt-Talk im Pariser Hoftheater, wie die Schule aussehen sollte.

Am Ende bedankte sich Wolfgang Bietz, ein Verfechter des traditionellen, dreigliedrigen Schulsystems, bei Enja Riegel und Brigitte Richter-Undeutsch für die angenehme - von Ideologie-Debatten unbelastete - Gesprächsatmosphäre. Er forderte, die Schulen und die Lehrer müssten stets Bereitschaft zeigen, sich zu reformieren. Und als er sagte, auch er wolle sich, sein Wissen, seine Erfahrung im Ruhestand noch einbringen, hatte ihn Enja Riegel fast schon an der Angel für die von ihr geplante Modellschule "Campus Klarenthal": "Ich lade Sie ein."

Enja Riegel braucht zur Realisierung ihres Vorhabens einer privaten Integrierte Gesamtschule als "generationsübergreifendes Projekt, eine Schule, in der das Leben und die Erfahrung eine Rolle spielen", zunächst einmal für den Ankauf des Geländes anderthalb Millionen Euro. Tragen soll sich das Ganze dann über Schulgeld. Und obwohl Enja Riegel von Sponsoren-Stipendien spricht, ist Brigitte Richter-Undeutsch skeptisch: "Allein der Gedanke an Privatschulen treibt mit den Horror über den Rücken. Über allem steht immer: Es muss bezahlt werden - und wer darf hin?!"

Enja Riegel weiß, dass sich nicht alles, was wünschenswert wäre, eins zu eins umsetzen lässt. Aber der Campus Klarenthal soll zumindest "ein Modell sein, von dem öffentliche Schule lernen können" - wie Reformschulen in Deutschland stets wichtige Impulsgeber gewesen seien für die Entwicklung der schulischen Bildung.

Einig waren sich die drei Pädagogen, dass sich die Schule ändern müsse. Aber schon der Ansatz wurde auf bezeichnende Weise unterschiedlich formuliert. "Brauchen wir neue Strukturen - oder ist es besser in die vorhandenen Strukturen Verbesserungen einzubauen?", fragte Gymnasiallehrer Bietz. "Bevor wir etwas ändern, muss geklärt sein, was eigentlich braucht die Gesellschaft, was braucht die Wirtschaft?" Brigitte Richter-Undeutsch setzte den Kontrapunkt: "Was brauchen die Kinder?" Heute müsse Schule nicht mehr nur Wissen vermitteln, sondern Methoden lehren. Für Enja Riegel ist eindeutig: "Im Zentrum steht das selbst lernende, forschende Kind. Der Lehrer muss sich als Erzieher begreifen, als Berater, dessen Aufgabe es ist, jedem einzelnen Kind zu helfen, seinen Weg zu finden."

Völlig unterschiedlicher Auffassung sind die drei Experten, was das System angeht. "Die Aufteilung nach der vierten Klasse, halte ich nicht für einen Fehler, sondern für ein großes Unglück", sieht Enja Riegel im dreigliedrigen Schulsystem die benachteiligten Kinder, vielfach die mit Migrationshintergrund "in Hauptschulen zusammengepfercht". "Das ist ein Elend. Die Hauptschüler sind heute die vergessenen, verlorenen Schüler der Nation." - "Es sind zumindest die Kinder, die beruflich keine Chancen haben", ergänzt Brigitte Undeutsch: "Für sechzig Prozent der Hauptschüler gibt es auf dem Arbeitsmarkt keine Nachfrage."

Wolfgang Bietz betrachtet das dreigliedrige System als Spiegel der Gesellschaft. Auch Brigitte Undeutsch sieht ein Leistungsgefälle bei den Schülern, das seine Erklärung oft im sozialen Hintergrund habe. "Die gesellschaftliche Situation, die wir vorfinden, heißt aber doch nicht, dass wir die Menschen in drei Schubladen stecken müssen", beschwört Enja Riegel die Skeptiker noch einmal, die Vorteile einer Regelschule bis Klasse neun zu sehen.

Brigitte Undeutsch wollte an der Riehlschule, die als korporative Gesamtschule über eine Förderstufe verfügte, zumindest die Möglichkeit erhalten, bis Klasse sechs "gemeinsam zu lernen": "Deswegen haben wir einen Antrag gestellt, uns als Integrierte Gesamtschule organisieren zu dürfen." Die Verkürzung der Schulzeit - ausgerechnet in der Mittelstufe - "hätte für eine große Zahl unserer Migrantenkinder zur Folge gehabt, dass ihnen der gymnasiale Weg verschlossen geblieben wäre. Unsere Kinder brauchen mehr Zeit, gemeinsam zu lernen."

Dass alle von diesem Zusammensein profitieren, bestätigten Enja Riegel und Brigitte Undeutsch aus ihren Erfahrungen gleichermaßen. Und an die Durchlässigkeit des dreigliedrigen Systems mit der Möglichkeit des Wechsels von einer Schulform zur anderen, die Dr. Bietz erwähnte, glaubt Enja Riegel nur in einer Richtung - "von oben nach unten".

Von weltfremden Idealvorstellungen, die Schule von Morgen zu organisieren, ist Brigitte Undeutsch nach ihren langen Jahren in Biebrich weit entfernt. "Wir nehmen alle Kinder aus unserem Stadtteil auf", verkündet sie nicht ohne Stolz. Und sie verweist auf einen 40 Prozent-Anteil von Kindern mit Migrantenhintergrund. "Die Aufgaben, die anderswo das Elternhaus übernimmt, müssen bei uns die Lehrkräfte mit übernehmen. Wir haben es mit Familien zu tun, in denen nicht Deutsch gesprochen wird, und mit Familien, in denen nicht gelesen wird, weil es kein Buch gibt." Da stießen dann auch die großartigsten Pädagogen-Rezepte an ihre Grenzen - und sie kommt noch einmal auf die Perspektivlosigkeit der Hauptschulgruppen zu sprechen: "Arbeitsplätze für diese Leute gibt´s nicht mehr. Die sind wegrationalisiert worden. 10000 allein bei Kalle und Albert."

Wenn sich dann wieder alle drei Schulleiter einig sind, dass die Gesellschaft einfach bereit sein müsse, mehr Geld für Bildung in die Hand zu nehmen, und der Traum, dass es wirklich geschähe, über das Podium schwebt, ist Brigitte Undeutsch unmissverständlich in ihrer Forderung: "Solche Schulen wie unsere sind es dann, die die besondere Ausstattung brauchen, die Lehrer-Zuschläge."

Die ideale Klassenstärke liegt für die drei Pädagogen zwischen 18 und 25. Dass beispielsweise die Kellerskopfschule von Schließung bedroht ist, weil sie "nur" 24 erreicht, bezeichneten sie als Unding. "Die Richtzahlen sind schlichtweg Folgen des Sparkurses", verlangt Undeutsch eine generelle politische Entscheidung. Wolfgang Bietz meint, man müsse doch eigentlich glücklich sein, wenn die Schülerzahlen zurückgingen: "Dann könnten wir endlich den Ergänzungs-, den Förderunterricht anbieten, die Dinge, die unseren Schülern helfen, erfolgreich zu sein." Und Enja Riegel zitiert ein Wirtschaftsforschungsinstitut, das errechnet haben will, dass derzeit 3,7 Milliarden Euro in der Bildung fehlinvestiert werden. Dazu kämen 4,6 Milliarden, die jährlich für private Nachhilfe ausgegeben werden. "Für das Geld könnte man schon ganz schön was machen."

Brigitte Undeutsch nimmt ihre Lehrer-Kollegen gegen die üblichen Vorwürfe in Schutz: "Die meisten haben sich längst auf den Weg gemacht. Aber sie brauchen Unterstützung aus der Gesellschaft." Enja Riegel wünscht sich den "Lehrer, der ganztags in der Schule ist", dort sein Büro hat, in dem er sich beispielsweise vorbereitet und Arbeiten korrigiert, in dem er aber auch ansprechbar ist für die Schüler. Dr. Bietz gibt Rückendeckung: "Lehrer müssen Kinder anders erleben als immer nur im Unterricht." Und dann wünscht sich Enja Riegel einen anderen Status der Lehrer: "Es gibt eine ganze Reihe von Kollegen und auch heute noch Studierende, die wollten und wollen nicht Lehrer werden, sondern Beamte. Wir müssen den Beamtenstatus abschaffen, damit nur die Lehrer werden, die diesen Beruf ergreifen, weil sie mit Kindern arbeiten wollen. "

Von Peter Königsberger nach einer Vision gefragt, betonte Enja Riegel noch einmal ihre Hoffnung auf die Einheitsschule von den Jahrgangsstufen eins bis neun. Aber sie würde sich schon freuen, wenn wir dem in Deutschland wenigstens einen Schritt näher kämen - in Form eines zweigliedrigen Schulsystems: "70 bis 80 Prozent der Kinder in der Regelschule und dann - bayrische Verhältnisse - 20 Prozent im Gymnasium." Brigitte Richter-Undeutsch bekam den stärksten Beifall für ihren finalen Wunsch, "dass jedes Kind Chancengerechtigkeit erhält".
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Ciao Stefano

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