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Alt 03-01-2007, 14:14   #8
crazy_coco
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Das 19-Prozent-Memory (EuramS)

Ab 1.Januar steigt der Mehrwertsteuersatz für Apfelsaft auf 19 Prozent, der für Äpfel bleibt bei sieben Prozent. Mal kostet‘s mehr, mal weniger. Oft blicken selbst Experten nicht mehr durch
von Sophie Brandt, Stephan Haberer

Klar, der große Profiteur der Mehrwertsteuererhöhung ist Finanzminister Peer Steinbrück. Er verspricht sich davon Mehreinnahmen von bis zu 19,5 Milliarden Euro. Der Handel hingegen rechnet mit Umsatzeinbußen von 2,2 Prozent. Besonders clevere Händler aber schlagen sich auf die Seite von Profiteur Peer und nutzen die Mehrwertsteuererhöhung zur Gewinnmaximierung.

Dafür muss man sich nur im Umsatzsteuergesetz auskennen. So wie die Gebrüder Albrecht, die mit der Discount-Kette Aldi zu Milliardären wurden. Sie haben den Stein der Weisen gefunden. Eine Möglichkeit, trotz höherer Steuerlast die Preise einiger Produkte stabil zu halten und mehr daran zu verdienen. Wie denn das? Ganz einfach, sie ändern die Rezepturen für manche Waren in ihrem Angebot. So steht bei Aldi Süd seit langem das Kaffee/ Milch-Mischgetränk Belmont im Regal, auf das bisher 16 Prozent Umsatzsteuer – umgangssprachlich Mehrwertsteuer – fällig wurde.

Schon vor Monaten hat Aldi den Hersteller des Getränks gebeten, das Rezept etwas zu ändern und den Milchanteil von unter 70 Prozent auf 75 Prozent zu erhöhen. Laut Gesetz mutiert Belmont durch den höheren Milchanteil nun zu einem förderungswürdigen Produkt, das bloß noch mit dem ermäßigten Mehrwertsteuersatz belegt wird. Und dieser bleibt auch 2007 bei sieben Prozent. Weil der Discounter den Verkaufspreis unverändert lässt, steigt unterm Strich der Gewinn pro Fläschchen um fünf Cent. Die "Lebensmittelzeitung" schätzt, dass Aldi allein durch diesen Trick jährlich einen sechsstelligen Betrag verdient. Möglich wird dies erst durch die unterschiedlichen Umsatzsteuersätze: Der normale betrug bisher 16 und steigt ab morgen auf 19 Prozent. Der ermäßigte bleibt bei sieben Prozent. Und dann gibt es noch Waren und Dienstleistungen, auf die gar keine Umsatzsteuer fällig wird. Doch welcher Satz wird eigentlich wann fällig? Grundsätzlich gilt: Auf die Kaltmiete (nicht die Nebenkosten), auf Rundfunkgebühren, Auslandsflüge, (Zahn-)Arzt-, Hebammen- und Heilpraktikerleistugen sowie Krankengymnastik wird keine Umsatzsteuer fällig.

Bei Leitungswasser, vielen Lebensmitteln, Büchern, Zeitungen, Zeitschriften, Tierfutter, Blumen, Schwimmbad-, Zoo- und Kinokarten sowie Fahrkarten des öffentlichen Nahverkehrs und innerörtliche Taxifahrten gilt der ermäßigte Steuersatz von sieben Prozent. Dagegen werden ab morgen 19 Prozent fällig auf: Strom, Gas, Heizöl (auch als Mietnebenkosten), Benzin, Diesel, Inlandsflüge, Fernreisen per Bahn, Überlandfahrten mit dem Taxi, Kosmetika, Körperpflegeartikel, Friseurbesuche, Handwerkerleistungen, Haushaltswaren, Mineralwasser und andere Getränke, Schmuck, Kleidung, elektronische Geräte, Hotelübernachtungen, Medikamente und und und.

Klingt das schon kompliziert – warum werden Inlandsflüge viel höher besteuert als Auslandsflüge, Bahnfahrten im Nahverkehr (bis 50 Kilometer) anders als im Fernverkehr, Mineralwasser höher als Leitungswasser? – wird’s völlig unübersichtlich, wenn man ins Detail geht: Wer kann erklären, warum beim Verkauf lebender Esel 19 Prozent fällig werden, beim Verkauf von Pferden, Maultieren und Mauleseln aber nur sieben Prozent?

Ähnlich erklärungsbedürftig: Milch wird nur mit sieben Prozent besteuert, Sojamilch – für viele Allergiker unverzichtbar – dagegen mit 19. Oder bei Kartoffeln: Für normale Erdäpfel beträgt der Mehrwertsteuersatz sieben Prozent, für Süßkartoffeln dagegen 19. Auch auf echten Kaviar werden 19 Prozent aufgeschlagen, auf Kaviarersatz nur sieben. Die Erklärung: Immer wenn die Finanzbeamten etwas für Luxus halten, schlagen sie mit der großen Mehrwertsteuer-Keule zu. Auch bei weiterverarbeiteten Produkten – bei denen also ein echter Mehrwert geschaffen wurde – gilt der höhere Mehrwertsteuersatz. Daher werden auf Äpfel nur sieben Prozent, auf Apfelsaft aber 19 Prozent draufgeschlagen. Gleiches Prinzip beim Kaffee: sieben Prozent für die Bohnen, 19 für Kaffee-Pads à la Nespresso. Oder bei Blumen: frische Schnittblumen kommen mit sieben Prozent günstig weg. Für festlich dekorierte Kränze werden 19 Prozent fällig. Achtung: Werden Sträucher, Büsche, Bäume oder andere Pflanzen zur Gartengestaltung vom Gärtner geliefert, sind sieben Prozent fällig, pflanzt der Fachmann sie auch ein, schnellt die Steuer auf 19 Prozent.

Unterschiede gibt es sogar bei gleichen Leistungen. Denn Privatanbieter sind gegenüber staatlichen Unternehmen oft benachteiligt. So muss ein privater Abwasserverband Umsatzsteuer abführen, ein staatliches Unternehmen oder die Gemeinde ist dagegen von der Umsatzsteuer frei. Der Privatanbieter kann die Umsatzsteuer aber nur schwerlich auf den Kunden umlegen, weil er sonst zu teuer wird. Allerdings gibt’s einen Lichtblick: Der Europäische Gerichtshof (EuGH) neigt immer häufiger dazu, öffentliche und private Anbieter in Sachen Umsatzsteuer gleich zu behandeln.

So entschied der EuGH, dass nicht nur öffentliche Spielbanken von der Umsatzsteuer befreit sind, sondern jede Spielhalle und Spielothek deutschlandweit. Da manche Steuerberater Bescheide ihrer Mandanten in Erwartung dieses Urteils seit Jahren mit Einsprüchen offen hielten, blutete der Fiskus kräftig. "Allein ich musste fünf Millionen Euro auszahlen", so eine Finanzbeamtin in einer niedersächsischen Kleinstadt. "Ich will gar nicht wissen, wie viele Millionen Großstädte wie Hamburg, Frankfurt oder Berlin auszahlten." Experten schätzen, dass nur dieses eine Urteil drei bis vier Milliarden kostete. Dabei hatte der EuGH schon im Fall des Feuerbestattungsvereins Halle, einem privaten Krematoriumsbetreiber, entschieden, dass private Unternehmen, die dieselbe Leistung erbringen wie ein öffentliches, keine ungleiche Besteuerung hinnehmen müssen (Az. C-430/04).

Selbst die Deutsche Post AG ist umsatzsteuerbefreit – bei all den Umsätzen, die unmittelbar dem Postwesen zuzurechnen sind. Also etwa beim Porto. Anders private Postdienste: Bei ihnen werden 19 Prozent Mehrwertsteuer fällig. Und auch das Arbeitsamt muss sich nicht mit Umsatzsteuer herumplagen, ein privater Arbeitsvermittler schon. Das wurde einem selbstständigen Jobvermittler in Lüneburg zum Verhängnis. Er stellte Rechnungen ohne Umsatzsteuer aus. Das kam bei einer Betriebsprüfung heraus, er musste mehrere zehntausend Euro nachzahlen. Da er keine Rückstellungen gebildet hatte, blieb ihm als Ausweg nur die Insolvenz.

Nächste Fallgruppe: Kulturelle Einrichtungen von Bund, Ländern oder Gemeinden – wie etwa Theater, Orchester oder Chöre – sind von der Umsatzsteuer befreit. Privattheater, -orchester oder -chöre dagegen nicht.

Umsatzsteuerfrei ist auch die Tätigkeit eines staatlich geprüften Masseurs. Hat er diese Prüfung jedoch nicht, ist seine Arbeit dagegen voll umsatzsteuerpflichtig. Ebenfalls merkwürdig: Eine Krankenschwester arbeitet umsatzsteuerfrei, eine Krankenpflegehelferin nicht.

Auf Vermietung und Verpachtung von Wohnraum wird im Normalfall keine Mehrwertsteuer fällig. Vermieten Privatpersonen jedoch für kurzfristige Nutzung – etwa eine Ferienwohnung – gilt die Steuerfreiheit nicht. Umsatzsteuer ist fällig. Wird aus einer kurzzeitigen Vermietung jedoch eine von über sechs Monaten, etwa weil der Feriengast "hängenblieb", wird’s wieder steuerfrei. Und Altersheime? Deren Leistung ist nur dann umsatzsteuerfrei, wenn mindes-tens 40 Prozent der Heimbewohner pflegebedürftig sind oder Sozialhilfe erhalten. Schlecht für ein Altersheim im Norden Deutschlands, das fast nur Millionäre beherbergte, die zwar oft pflegebedürftig aber auch zu stolz waren, sich ihre Pflegebedürftigkeit bescheinigen zu lassen.

Kompliziert auch Fälle, in denen "zusammengesetzte" Gegenstände verkauft werden, für deren Bestandteile unterschiedliche Sätze gelten. Etwa Überraschungseier. Für Schokolade gelten sieben Prozent, für Spielzeug 19. Hier ist zu prüfen, was Haupt-, was Nebenleistung ist. Bei Süßwarenkombinationsartikel, so der fiskalische Oberbegriff, greift laut Oberfinanzdirektion Stuttgart der ermäßigten Steuersatz. Für Zeitschriften mit beigelegter CD gilt laut Urteil des Finanzgerichts Hamburg das Gleiche (Az. VI 323/03). Wem das alles zu kompliziert ist, sollte nach Helgoland ziehen. Denn als ehemalige britische Kronkolonie ist die Insel bis heute von allen Verbrauchssteuern befreit. Sprich: Mehrwertsteuer gibt es dort nicht.
Quelle: Finanzen.NET
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