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Alt 26-11-2007, 18:08   #1
Auf Wunsch gelöscht
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Reichtum wird überschätzt

Klaus Schroeder, Jahrgang 1949, ist Professor für Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin und leitet den Forschungsverbund SED-Staat. Seit 15 Jahren begleitet er die ökonomischen und politischen Folgen der Wiedervereinigung mit streitbaren Publikationen. Kürzlich erschien das Buch „Die veränderte Republik – Deutschland nach der Wiedervereinigung“.

Interview: Thomas Ramge

Die Armutsdebatten der vergangenen Jahre hält Schroeder für an den Haaren herbeigezogen. Er erkennt eine Wohlstandsexplosion in Ostdeutschland, ist davon überzeugt, dass soziale Ungleichheit den Armen nützt, und wirft seinen Kollegen vor, die Armut zu übertreiben, um sich wichtig zu machen.

Ein Gespräch zur sozialen Lage der Nation.

Die Wahrnehmung, wonach die Schere zwischen Arm und Reich in Deutschland in den vergangenen 10, 15 Jahren zunehmend auseinandergeht, scheint Konsens in weiten Teilen von Bevölkerung und veröffentlichter Meinung. Sie erheben Einspruch, Herr Professor Schroeder. Warum?

Weil diese Wahrnehmung einfach nicht den messbaren Daten entspricht. Die Einkommens- und Vermögensverteilung in der alten Bundesrepublik und auch im Deutschland nach der Wiedervereinigung ist unter Schwankungen weitgehend konstant. Der Wert, mit dem Statistiker die Ungleichheit von Einkommen und Vermögen messen, schwankt mal leicht in die eine, mal leicht in die andere Richtung, kehrt aber immer wieder an seinen Ausgangspunkt zurück. Die Ungleichheit ist in der Bundesrepublik seit Ende der fünfziger Jahre sehr stabil. Nach der Wende gab es eine Sondersituation. Zunächst hat die Ungleichheit ein wenig zu-, dann hat sie wieder abgenommen. Im internationalen Vergleich sind Einkommen und Vermögen in Deutschland heute relativ "gleich" verteilt. In Europa befinden wir uns im oberen Drittel, und daran wird sich auch in absehbarer Zeit nichts ändern. Dass Arme immer ärmer und Reiche immer reicher werden, ist - abgesehen von sehr kleinen Gruppen - schlicht ein populärer Irrtum.

Die statistische Verteilung von Einkommen sagt noch nicht unbedingt viel darüber aus, wie es den ganz Armen geht.

Das verfügbare Einkommen der Armen, das zum großen Teil aus Sozialtransfers besteht, ist in nahezu gleichem Maße gestiegen wie das Einkommen der Durchschnittsverdiener. Die Zuwächse wurden allerdings durch die Inflation vollständig aufgefressen, sodass sich für Arme wie für Durchschnittsverdiener real in den vergangenen zehn Jahren so gut wie nichts verändert hat. Einige arme Gruppen haben sogar relativ stark profitiert, zum Beispiel durch die Hartz-IV-Gesetze, die für Sozialhilfeempfänger und Alleinerziehende eine Verbesserung gebracht haben.

Was sich jedoch stärker verändert hat, sind die Definitionen von Armut und Reichtum. Wir definieren Armut relativ zum mittleren Einkommen. Heute gilt als arm, wer weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens hat. Vor 15 Jahren lag die offizielle Armutsgrenze bei 50 Prozent des Durchschnittseinkommens. Durch die Anhebung dieser statistischen Armutsgrenze hat sich die Zahl der "Armen" erhöht, ohne dass sich am realen Leben der Menschen etwas geändert hat. 1989 galt in Westdeutschland als arm, wer weniger als 340 Euro im Monat hatte. Im Jahre 2003 lag der Betrag dagegen bei 974 Euro. Das ist ein Anstieg auf mehr als das 2,8-fache binnen 14 Jahren. Eine Familie mit zwei Kindern über 14 Jahren gilt als arm, wenn sie im Monat weniger als 2350 Euro netto zur Verfügung hat. Aus meiner Sicht hat es keinen Sinn, in diesem Kontext von "Armut" zu sprechen. Diese relative Armut ist für mich eine privilegierte Armut, da sie auf diesem hohen Niveau keine Notsituation umschreibt, sondern - im Gegenteil - man davon ausgehen kann, dass die Grundsicherung vollständig gewährleistet ist.

Soll das heißen, dass es in Deutschland keine Armut gibt?

Natürlich gibt es sie. Aber sie existiert in deutlich geringerem Maße als gefühlt. Außerdem werden zu den Armen große Gruppen von Menschen gezählt, die sich selbst gar nicht als arm empfinden. Fast alle Studenten sind per Definition arm. Das ist natürlich Unsinn, denn sie befinden sich in einem Durchgangsstadium mit guten Lebensperspektiven. Auch bei vielen Alleinerziehenden ist es so, dass sie nur ein paar Jahre unter die Armutsgrenze fallen. Sobald die Kinder in den Kindergarten oder die Schule kommen, schaffen die Mütter oder Väter in der Regel wieder den Sprung aus der definierten Armut.

Was zudem in der Diskussion um Armut fast immer unterschlagen wird: Seit 1989 sind netto zwischen sechs und acht Millionen Menschen nach Deutschland eingewandert, die von den sozialen Sicherungssystemen aufgefangen wurden. Diese Menschen kommen zum großen Teil aus bitterarmen Verhältnissen. Bei uns gelten sie als arm, obwohl sie einen riesigen Wohlstandssprung hinter sich haben und in der Regel viele von ihnen nach ein paar Jahren aus der Armutszone herauskommen. Die soziale Mobilität hat sich zwar aufgrund der großen Langzeitarbeitslosigkeit verlangsamt, ist aber nach wie vor vorhanden.

Und es gibt noch einen weiteren verzerrenden Faktor in der Armutsbetrachtung: Geldgeschenke von Verwandten, Schwarzarbeit und Kleinkriminalität werden nicht hineingerechnet. Der Linzer Ökonom Friedrich Schneider geht davon aus, dass der Umfang der Schwarzarbeit in Deutschland mehr als acht Millionen Vollzeitarbeitsplätzen entspricht, vornehmlich im Niedriglohnbereich. Gutverdienende können in der Regel nicht schwarzarbeiten, weil sie dazu gar keine Zeit haben. Es mag nicht populär sein, ist aber naheliegend: Ein beträchtlicher Teil der Erträge aus Schwarzarbeit landet bei denen, die offiziell als arm gelten.

Armut bei 12 bis 13 Prozent der Bevölkerung zu veranschlagen ist aus diesen Gründen vollkommen unrealistisch. Dauerhaft arm bleibt lediglich ein Sockel von maximal drei bis vier Prozent der Menschen. Die anderen steigen relativ schnell auf oder richten sich - verbunden mit illegalem Nebenverdienst - recht gut in den sozialen Sicherungssystemen ein.

Was bedeutete soziale Mobilität in den vergangenen zehn Jahren? Wie groß war die Chance, es von unten nach oben zu schaffen?

Soziale Mobilität gibt es nach wie vor, sie hat allerdings durch die Langzeitarbeitslosigkeit und die Zuwanderung von gering qualifizierten Personen etwas abgenommen. Im internationalen Vergleich war sie in Deutschland nie besonders hoch. Das resultiert nicht zuletzt, auch wenn es sich paradox anhören mag, aus fehlender Ungleichheit, systematischer Umverteilung und hohen Sozialleistungen. Sobald Geringverdiener anfangen aufzusteigen, tragen sie durch hohe Abzüge vom Einkommen automatisch zur Umverteilung bei, und das bremst den Aufstiegswillen.

In Ländern wie Portugal oder Mexiko ist das anders. Deshalb gibt es dort mehr Menschen als bei uns, die aus armen Verhältnissen aufsteigen und reich werden können. Wenn Ungleichheit weniger begrenzt wird, können Menschen schneller durchmarschieren. Hinzu kommen in Deutschland hohe Anforderungen an die formale Qualifikation, eine geringe Selbstständigenquote und vieles andere, das wirtschaftliche Dynamik bremst. Das schlägt auch auf das individuelle Verhalten durch.

Wenn die Zahlen sind, wie Sie sagen, warum hält sich dann der Mythos von der sich immer weiter öffnenden sozialen Schere?

Die große Masse der Bevölkerung glaubt, nicht besonders reich zu sein, und vermutlich liegt es in der Natur des Menschen im Allgemeinen und in der Natur des Deutschen im Besonderen, sich immer zu den Zu-kurz-Gekommenen zu zählen. Dazu kommt, dass Reichtum völlig überschätzt wird. Die Leute denken fälschlicherweise, dass sehr viele Menschen Millionen verdienen.

Ich mache mit meinen Studenten, aber auch im Bekanntenkreis gern folgendes Experiment. Ich frage: Wie viel Haushaltsnettoeinkommen ist nötig, um zu den reichsten fünf Prozent in Deutschland zu gehören? Dann kommen oft Zahlen wie 50 000 Euro, 75 000 Euro und mehr - im Monat wohlgemerkt. Die Realisten schätzen 15 000 Euro. In Wirklichkeit sind es etwa 5000 Euro. Ich denke, dass diese Fehlwahrnehmung durch die starke mediale Fokussierung auf die Superreichen, also einzelne Sportler, Fernsehstars oder Vorstände von Dax-Unternehmen entsteht. Anteilig an der Bevölkerung ist diese Gruppe aber eine sehr kleine Minderheit im Promillebereich. Ostdeutsche Studenten überschätzen den Reichtum übrigens noch stärker als westdeutsche. Das ist ein Phänomen, das bei meinen Recherchen immer wieder aufgetaucht ist. Ostdeutsche überschätzen den durchschnittlichen Reichtum im Westen, orientieren sich aber an ihm, wodurch es zu den bekannten Frustrationserscheinungen kommt.

Gibt es denn Gründe für diese Frustration? Ist nicht sogar ein Trend zur Angleichung zwischen Ost und West zu erkennen?

Den gibt es allerdings. Was wir in Ostdeutschland in den vergangenen 15 Jahren erlebt haben, ist eine Wohlstandsexplosion, die in der Weltgeschichte vermutlich einmalig ist. Allein in den ersten fünf Jahren nach der Vereinigung ist das reale Durchschnittseinkommen der Haushalte im Osten auf knapp 90 Prozent des Westniveaus gestiegen. Für drei Viertel der Bevölkerung in den neuen Bundesländern sind die Lebensverhältnisse heute weitgehend auf dem Niveau Westdeutschlands. Bloß die Leute wollen das nicht wahrhaben. Sie orientieren sich an den obersten fünf Prozent, die nach wie vor mehrheitlich im Westen leben.

Das bezieht sich aber auf das Einkommen und nicht auf das Vermögen. Da ist die Ungleichheit höher und nimmt auch zu.

Die Vermögensverteilung ist ungleicher, das stimmt, gerade zwischen Ost und West. Aber auch hier sehen wir einen starken Aufholtrend. Die Geldvermögen pro Kopf im Osten sind seit der Vereinigung von knapp 19 Prozent auf immerhin mehr als 50 Prozent des Westniveaus gestiegen.

Bei der Ungleichheit der Vermögen muss man auch beachten: Die kapitalisierten Rentenansprüche der staatlich Sozialversicherten werden nicht miteingerechnet, die privaten Altersrückstellungen von Freiberuflern, private Lebensversicherungen und Ähnliches aber schon. Wenn sie die Rentenansprüche mitberücksichtigen, kommen die Ostdeutschen heute schon auf etwa 80 Prozent der Durchschnittsvermögen im Westen. Und der kleine Mann hat deutlich mehr auf der hohen Kante, als er glaubt.
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"Mittagessen? Nur Flaschen essen zu Mittag!"
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