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Alt 26-11-2007, 18:08   #2
Auf Wunsch gelöscht
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2.Teil

Politiker müssten doch im Interesse des Gemeinwesens über solche Missverständnisse aufklären. Warum geschieht das nicht?

Diejenigen, die mehr Umverteilung wollen, bedienen natürlich die These von den immer ärmer werdenden Armen und den immer reicher werdenden Reichen. Die stabile Ungleichheit ist ein Ergebnis von konstant hohen Transfers, und die sollen, wenn es nach vielen Politikern geht, in nächster Zeit noch erhöht werden. Angeblich geht es um mehr "soziale Gerechtigkeit" - eine politisch-ideologische Kampfformel, die in der aktuellen politischen Debatte vermehrt eingesetzt wird. Dass Ungleichheit auch etwas Stimulierendes, Produktives haben kann, wird in unserer Gleichheitskultur nicht gesehen, und dass Ungleichheit auch leistungssteigernd wirken kann, darf man kaum laut sagen.

Unterstützt wird die These von der rasant wachsenden Armut auch von der Wissenschaft. Ich habe immer wieder den Eindruck, dass Armutsforscher ähnlich wie zum Beispiel Rechtsextremismus-Experten ihrem Untersuchungsgegenstand eine immer stärkere Bedeutung zugemessen wissen möchten. Sie spielen ihre Ergebnisse hoch und skandalisieren, um ihre Forschung aufzuwerten, was wiederum von den Sozialpolitikern auf allen Ebenen und in allen Parteien aufgenommen wird. Es gibt ein Wechselspiel von Armutsforschung und Sozialpolitikern, das seit Jahrzehnten gut funktioniert.

Was haben Sie eigentlich gegen die Gleichheit? Das ist doch einer der zentralen Werte auch der bürgerlichen Tradition?

Sie müssen unterscheiden zwischen rechtlicher Gleichheit, Chancengerechtigkeit und materieller Gleichheit. Ein bestimmtes Maß an materieller Ungleichheit ist nötig, damit eine Gesellschaft produktiv und auch "gerecht" ist angesichts unterschiedlicher Leistungen. Auch die Armen profitieren von einem gewissen Maß an Ungleichheit. Die Balance zu finden ist das Kunststück.

Der liberale amerikanische Philosoph John Rawls formuliert das so: Ungleichheit ist so lange gerechtfertigt, wie es den Armen besser geht als bei weniger Ungleichheit. Den Armen in der DDR ging es bei mehr Gleichheit viel schlechter als den Armen in der Bundesrepublik. Mehr Ungleichheit brachte im Westen auch mehr Wohlstand in den Unterschichten.
Aber das können Sie den Menschen nur schwer vermitteln.

Wohlstand wird immer nur relativ und nie absolut wahrgenommen. Den meisten geht es weniger darum, wie viel sie selbst haben, sondern es geht ihnen darum, wie viel der hat, an dem sie sich messen. Das ist nicht nur in Deutschland so, aber hier hat dieser Gedanke eine besonders stark verankerte politische Tradition. Mit dem Bezug auf sozialen Neid haben die unterschiedlichsten Parteien argumentiert. Das gilt für die NSDAP im Dritten Reich genauso wie für die SED in der DDR, aber auch für die linken Parteien in der Bundesrepublik. Vor allem die Nationalsozialisten und die Kommunisten haben die "einfachen Menschen" gegen die "reichen Juden" und die "reichen Kapitalisten" aufgehetzt.

Wie groß ist die Rolle, die sozialer Neid heute in den politischen Auseinandersetzungen spielt?

Die Politik folgt dem Gleichheitspostulat unisono bis in die FDP hinein: Mit dem Gerede von sozialer Gerechtigkeit - was ja von den Worten her schon ein Pleonasmus wie weißer Schimmel ist - ist im Grunde immer nur Gleichheit gemeint. Wenn Sie die Werteforschung betrachten, sehen Sie: Die Republik wird östlicher. Im Westen verliert der Wert der Freiheit auf Kosten des Wertes der Gleichheit. Hier passen sich die Westdeutschen den Ostdeutschen an, ohne es zu merken. Im öffentlichen Diskurs geht es immer um Verteilungsgerechtigkeit und weniger um Chancengerechtigkeit. Und eine Kultur der Selbstverantwortung wird ganz gewiss nicht gepflegt.

Sie beschäftigen sich in Ihrem jüngsten Buch mit den Folgen: mit staatlicher Umverteilung und staatlichem Transfer. Was fließt denn in welchem Umfang in welche Richtung?

In Deutschland wird in überdurchschnittlichem Maße und mit steigender Tendenz umverteilt. Dies geschieht bekanntlich nicht nur über Steuern. Es ist bislang niemandem gelungen, das Knäuel der Transferströme systematisch zu entwirren und aufzuzeigen, wer wen wie stark subventioniert.

Auf sicherem Boden bewegen wir uns, wenn wir sagen: Umverteilung gibt es von oben nach unten und von West nach Ost. Die obersten 20 Prozent der Einkommensbezieher zahlen 70 Prozent der Einkommensteuer. Und in den Sozialversicherungssystemen ist klar nachweisbar, dass die süddeutschen Haushalte die nord-und ostdeutschen subventionieren. Die Hauptlast tragen hier die oberen Mittelschichten mit Bruttoeinkommen zwischen 4000 und 6000 Euro pro Person. Die Reichen können sich durch die Beitragsbemessungsgrenzen ganz oder teilweise herausziehen. Für die indirekten Steuern gibt es leider keine verlässlichen Daten.

Das heißt freilich nicht, dass nicht auch die Oberschichten von Umverteilung profitieren können. Wenn jemand ein- oder zweimal pro Woche in die Oper geht, wird er unter Umständen mit einem höheren Betrag subventioniert als ein Sozialhilfeempfänger.

Obdachlosigkeit, Jugendgewalt und andere Formen sozialer Desintegration haben aber doch tatsächlich deutlich zugenommen, oder sehen Sie das anders?

Lange nicht in dem Maße wie gefühlt. Obdachlosigkeit gab es schon immer, Bettler auch. Die Aufmerksamkeit hierfür ist sicherlich stärker angestiegen als die Phänomene selbst. Bis zu einem gewissen Grad muss eine liberale Gesellschaft auch damit leben. Wenn jemand auf der Straße sitzt, können Sie ihm einen Wohnheimplatz anbieten. Wenn er den nicht möchte, können Sie ihn nicht ins Heim zwingen.

Was die Bildungsabstinenz der Jugendlichen aus der Unterschicht angeht - mit oder ohne Migrationshintergrund -, haben wir in der Tat ein erhebliches Problem. Aber das hat wenig mit materieller Armut zu tun und viel mit einer Verweigerungshaltung gegenüber Bildung. Großen Teilen der Unterschicht ist das bürgerliche Bildungs- und Aufstiegsideal schlicht abhanden gekommen. Dies ist unter anderem eine Spätfolge von 1968. Außerdem haben hier alle gesellschaftlichen Gruppen versagt, weil sie die Wichtigkeit von Bildung nicht ausreichend vermittelt und die kulturelle Verwahrlosung lange Zeit achselzuckend hingenommen haben.

Wir haben mehr kulturelle als materielle Armut. Und wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass es eine wachsende Gruppe von Menschen gibt, die es gut findet, tagsüber Krawall-Talkshows zu schauen, Bier und Schnaps zu trinken und dabei zwei Schachteln Zigaretten zu rauchen. Für mich mag das erschreckend sein, aber in einer liberalen Gesellschaft muss ich akzeptieren, dass es verschiedene kulturelle Ausdrucksformen gibt.

Viele Westdeutsche waren bis Mitte der neunziger Jahre überzeugt davon, im reichsten Land der Welt zu leben, abgesehen von der Schweiz und den Erdölstaaten. Wie hat sich der Wohlstand in Deutschland im internationalen Vergleich entwickelt?

Die Bundesrepublik hat als Folge der Wiedervereinigung im internationalen Vergleich deutlich an Wohlstand verloren. In Europa bewegen wir uns bestenfalls noch im Mittelfeld. Wenn vier bis fünf Prozent des Bruttoinlandsproduktes in den Transfer von West nach Ost gehen, dann geht das auf Dauer an die ökonomische Substanz einer Volkswirtschaft, und das merken mit etwas Zeitverzögerung auch die Individuen. Auffällig ist, dass die Zahl der Millionäre in Deutschland sehr viel langsamer wächst als in den anderen Ländern Europas und im Rest der Welt. Das als gutes Zeichen zu werten ist schlichtweg ökonomisch dumm.

Zurzeit sind viele Menschen wieder etwas optimistischer, dank der besseren Konjunktur. Ist dieser Optimismus nur ein Mangel an Information?

Ich glaube nicht, dass es in Deutschland in den kommenden zehn Jahren für die meisten Menschen noch einmal einen erheblichen Vermögenszuwachs geben wird. Das heißt natürlich nicht, dass es innerhalb der Gesellschaft nicht zu Verschiebungen kommen wird. Auf internationaler Ebene werden wir einen Zuwachs an Vermögen in Asien und Mittel- und Osteuropa sehen. Relativ, also im Vergleich zu anderen Ländern, werden wir vermutlich ärmer werden.

Und absolut? Werden die Vermögen abschmelzen?

Das muss nicht zwingend so kommen. Aber wenn wir so weitermachen wie bisher und jeden Keim von Strukturreformen wieder ersticken, weil die Konjunktur ein paar Monate ein bisschen besser läuft, dann werden wir auch absolute Wohlstandsverluste hinnehmen müssen. -
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