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Alt 10-03-2003, 07:57   #10
OMI
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10.03.2003, 08:51
Deutschland im Reformstau - Was nun Kanzler?
Gelingt der große Wurf? Am Freitag wird Gerhard Schröder der Nation erklären, wie er Deutschland wieder flott machen will. EURO hat Experten gefragt, was er anpacken muss.


von Stefan Beste / Euro am Sonntag


und Thorsten SchüllerEigentlich sollte es nach getaner Arbeit im Kanzleramt gemütlich weitergehen: bei Rinderfilet mit Linsengemüse. Doch nach zweieinhalbstündiger Diskussion mit den Spitzen von Wirtschaftsverbänden und Gewerkschaften war Gerhard Schröder der Appetit gründlich vergangen. Wie ungezogene Schulbuben schickte er die acht notorischen Streithähne nach Hause. Das Bündnis für Arbeit, mit dem er seit seinem Amtsantritt 1998 immer wieder versucht hatte, das Problem der hohen Arbeitslosigkeit in Deutschland in den Griff zu bekommen, ist gescheitert. Endgültig, wie es scheint.


Zuvor hatte Schröder Tacheles geredet. Sein Fazit: Wenn die Reformen nicht im Konsens zu haben seien, werde er sie eben allein durchdrücken. Schon am Freitag will er damit Ernst machen. In einer seit Wochen angekündigten „Rede an die Nation" vor dem Bundestag wird er erläutern, wie er den Reformstau aufzulösen und den Karren aus dem Dreck zu ziehen gedenkt: Das Konzept werde „manchem wehtun", drohte er. Nach seiner Rede werde es „Heulen und Zähneklappern" aus verschiedenen Richtungen geben.


Wie ein Beleg für das bisherige Versagen der Arbeitsmarktpolitik wirkten am Mittwoch die neuesten Daten aus Nürnberg. Die Zahl der Erwerbslosen erreichte mit mehr als 4,7 Millionen im Februar ein Fünf-Jahres-Hoch. Wieder eine Ohrfeige für den Kanzler, der seine erste Bundestagswahl 1998 mit dem Versprechen gewonnen hatte, die Arbeitslosenzahl unter 3,5 Millionen zu senken.Davon ist das Land weit entfernt. Die Arbeitslosigkeit wird nach Ansicht von Hans-Werner Sinn, dem Leiter des Münchner Ifo-Instituts, vorerst auf ihrem hohen Niveau verharren: „Wir rechnen für das Jahr 2003 im Durchschnitt mit 4,3 Millionen Arbeitslosen", sagt der Wirtschaftsfachmann. Seine Diagnose: „Deutschland ist der kranke Mann Europas."


Und Schröder der Onkel Doktor? Die Union hat für die Bemühungen des Kanzlers nur Spott übrig: „Jetzt warten alle darauf, dass die Regierungserklärung einen Kurswechsel bringt", höhnt Fraktionsvize Friedrich Merz: „Das ist doch schon der völlig falsche Begriff, die Regierung hat doch gar keinen Kurs."Eben diesen Vorwurf zu widerlegen ist das eigentliche Ziel der Kanzlerrede. Seit Tagen feilen seine Fachreferenten an dem brisanten Text. Schröder wird ihn an diesem Wochenende in seinem Haus in Hannover nochmals überarbeiten, bevor er ihn ab Montag mit der SPD-Fraktion sowie den SPD-Ministerpräsidenten abstimmt. Dann erst entscheidet sich, ob der Kanzler tatsächlich den großen Wurf wagt. Oder ob er erneut vor der Mehrheit der Traditionalisten und Bewahrer in der eigenen Partei in die Knie geht.


Dass radikale Reformen überfällig sind, ist sattsam bekannt. Sonntag für Sonntag versichert sich eine illustre Runde hochrangiger Politiker aller Parteien im Fernseh-Talk mit Sabine Christiansen gegenseitig, dass dringend was passieren muss. Nur - den Worten folgten bis heute kaum Taten. Das Land steckt in einer fundamentalen Strukturkrise. Die Arbeitslosigkeit wächst seit Jahrzehnten. Selbst in Phasen, in denen es der Wirtschaft gut geht, entstehen kaum neue Jobs. Dafür trifft es den Arbeitsmarkt in Krisenzeiten wie diesen umso härter.


Gleichzeitig explodieren die Kosten der sozialen Sicherungssysteme. Die Beiträge für Kranken-, Renten- und Arbeitslosenversicherung steigen unaufhörlich und verteuern wiederum die Arbeitsplätze. Die jüngste Erhöhungsrunde ist erst wenige Wochen her: Zum Jahreswechsel hatten viele Krankenkassen ihre Beiträge kräftig angehoben. Der durchschnittliche Beitragssatz beträgt bereits 14,32 Prozent des Bruttogehalts. Und die finanzielle Lage der Kassen ist weiter desolat: 2002 machten sie fast drei Milliarden Euro Miese. Ähnlich schlimm sieht es bei der Rentenversicherung aus. Glaubt man den Experten, dürfte der Rentenbeitrag, der erst zum 1. Januar auf 19,5 Prozent angehoben wurde, schon bald über die 20-Prozent-Marke klettern.


Eine kräftige Erholung der Konjunktur könnte daran etwas ändern. Doch auch die ist nicht in Sicht. Selbst die ohnehin bescheidene Wachstumsprognose der Bundesregierung von einem Prozent ist vielen Experten noch zu optimistisch. Eine Rezession wird immer wahrscheinlicher. Das wiederum bedeutet: noch mehr Arbeitslose, noch weniger Steuereinnahmen, noch höhere Kosten für die Sozialsysteme.


„Was Not tut, sind tief greifende Reformen im Steuersystem, in der sozialen Sicherung und im Arbeitsmarkt", sagt der Leiter der Konjunkturabteilung beim Hamburger Institut für Wirtschaftsforschung, Eckhardt Wohlers.


Längst haben Ökonomen die Probleme analysiert und benannt. Ihre Reformvorschläge, Gutachten und Gegengutachten füllen ganze Bibliotheken. Erst im November hatte der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung ein 20-Punkte-Programm für Beschäftigung und Wachstum vorgelegt.


Auch Schröder weiß, dass es nicht mehr ausreicht, vorsichtig an einzelnen Schrauben zu drehen. Ein Gesamtkonzept muss her. Eines, das sich im Interesse des Gemeinwohls über lieb gewordene Besitzstände hinwegsetzt. Eines, das sich wieder an den ökonomische Grundwahrheiten orientiert. Und das gegen den Widerstand der professionellen Bedenkensträger und Lobbyisten durchgesetzt wird.Beispiel Arbeitsmarkt: Mit Reförmchen a la Hartz-Konzept lassen sich die Probleme nicht lösen. „Das hohe Maß an struktureller Arbeitslosigkeit ist mit Personalservice-Agenturen, Mini-Jobs und Ich-AGs nicht wegzubekommen", erklärt der Direktor des Instituts für Wirtschaftspolitik an der Universität Köln, Jürgen B. Donges.


Wahrscheinlich ist daher, dass Schröder nach dem Scheitern des Bündnisses nun seinem Wirtschafts- und Arbeitsminister Wolfgang Clement den Rücken stärken wird. Der feilt weiter an seinen Plänen zur Lockerung des Kündigungsschutzes - unter lautstarkem Geheule nicht nur der Gewerkschaften, sondern auch großen Teilen der SPD.


Auch Langzeitarbeitslose müssen sich wohl auf Verschärfungen einstellen. Clement will Personen, deren letzter Job schon mehrere Jahre zurückliegt, nur noch Sozialhilfe zahlen. Das neue Arbeitslosengeld II, das ab 2004 die bisherige Arbeitslosenhilfe ersetzt, erhält nur noch derjenige, der als erwerbsfähig und erwerbsbereit eingestuft wird.


Besonders groß ist das Durcheinander bei der Gesundheitsreform. Dort feilt eine Kommission unter der Leitung des Darmstädter Professors Bert Rürup an Konzepten, um der Kostenexplosion im Gesundheitswesen Herr zu werden - und sorgt mit unausgegorenen Vorstößen einzelner Mitglieder ein ums andere Mal für Wirbel. Von einer Selbstbeteiligung von 900 Euro für alle Kassenpatienten war die Rede, von der Streichung der Zahnarztbehandlung aus dem Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen oder gar von der Abschaffung der Pflegeversicherung. Allen Vorschlägen gemein ist, dass sie im Endeffekt auf eine stärkere Eigenbeteiligung der Versicherten hinauslaufen. Viel mehr wird auch Schröder nicht sagen, will er nicht die Ergebnisse seiner Rürup-Kommission von vorneherein entwerten, die erst im Mai vorgelegt werden sollen. Doch auch das dürfte schon ausreichen, um Gewerkschaften und Traditionalisten in der eigenen Partei auf die Barrikaden zu bringen.


Auch aus dem von einigen Gewerkschaften geforderten Konjunkturprogramm dürfte nichts werden. „Dummes Zeug", bürstete Schröder Ver.di-Chef Frank Bsirske ab, als der seine Forderung nach einem schuldenfinanzierten staatlichen Investitionsprogramm von bis zu 15 Milliarden Euro vortrug. Die Regierung wolle sich nicht weiter verschulden, sondern die Maastricht-Kriterien einhalten. In diesem Punkt erhält Schröder Schützenhilfe von Ifo-Präsident Sinn: „Die Defizitgrenze von drei Prozent muss sakrosankt bleiben", fordert der.


So wird es wohl bei dem bereits angekündigten Kreditprogramm für Kommunen und den Mittelstand bleiben - auch wenn die Beschenkten davon gar nicht so viel halten. Doch mehr ist angesichts leerer Haushaltskassen wahrscheinlich einfach nicht drin.


Und so ist es wohl auch kein Zufall, dass es Finanzminister Hans Eichel übernahm, allzu hochfliegende Erwartungen in die Schröder-Rede zu dämpfen: „Die Agenda wird nicht überraschend sein. Es handelt sich um die bekannten Strukturreformen, die wir jetzt anpacken müssen." So ist es.

Quelle: finance-online
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