Einzelnen Beitrag anzeigen
Alt 18-12-2016, 08:52   #2
Benjamin
TBB Family
 
Registriert seit: Mar 2004
Beiträge: 10.374
Ökonom über die EU nach dem Brexit
Ex-ifo-Chef Sinn warnt: Sollte Deutschland das in der EU tun, ist es verloren
Dienstag, 05.07.2016, http://www.focus.de/finanzen/news/oe...d_5696842.html

Zitat:
Der frühere Chef des ifo-Instituts, Hans-Werner Sinn, hat angesichts des Brexit deutlich gemacht, dass es seiner Meinung nach im deutschen Interesse sei, den Maastrichter Vertrag zu verändern, weil ansonsten die mediterranen Länder Frankreich, Italien und Spanien zu viel Macht erhielten.

„Wir müssen den Maastrichter Vertrag im Sinne einer Veränderung kündigen, damit die Entscheidungskriterien angepasst werden", erklärte der Star-Ökonom in der Sendung "Unter den Linden" im Fernsehsender Phoenix und fügte als Erklärung hinzu, dass mit dem Austritt Großbritanniens die bislang geltende Sperrminorität der freihandelsorientierten Länder dahin sei. "Das ist nicht mehr das Europa, mit dem Deutschland groß geworden ist, das können wir nicht akzeptieren", so Sinn weiter.
########################

Quelle für unten: http://www.hanswernersinn.de/de/Interview_Euro_11072016

Zitat:
Für Deutschland dagegen kann der Ökonom nichts Positives finden: „Großbritannien ist der drittgrößte Absatzmarkt der deutschen Exportindustrie. Zudem werden sich auf EU-Ebene die Machtverhältnisse enorm verschieben, denn mit einem Brexit ändern sich die Entscheidungsregeln für Abstimmungen im Ministerrat.“ Durch eine sogenannte Sperrminorität können Beschlüsse im Ministerrat verhindert werden. Dazu müssen 45 Prozent der EU-Staaten beziehungsweise so viele Staaten, dass 35 Prozent der EU-Bevölkerung repräsentiert werden, gegen einen Beschluss stimmen. „Frankreich, Italien und Spanien kommen zusammen auf etwa 34 Prozent; England zusammen mit den Niederlanden, Österreich, Deutschland und Finnland auf 35 Prozent. Daher stammt auch die 35-Prozent-Regel.“ Das sei nun Vergangenheit: „Ohne die Briten kommt Deutschland mit den anderen Ländern nur noch auf 25 Prozent und Frankreich, Italien und Spanien auf 39 Prozent.“ Aus diesem Grund habe sich Frankreich auch nicht um einen Verbleib der Briten bemüht. TTIP, Ceta – sinnbildlich für Freihandel - seien damit gescheitert. „Dafür werden Staaten immer mehr in das wirtschaftliche Geschehen eingreifen.“ Das Ziel sei jedoch nicht etwa ein gemeinsamer Europäischer Staat, sondern eine „gemeinsame Europäische Kasse“, warnt Sinn.
Zitat:
Kurzgefasst: „Die Bedingungen unter denen Deutschland die DM aufgeben hat, werden mit Füßen getreten.“ Sinn rät daher, dass Deutschland eine Vertragsänderungskündigung anstrebt. „Die Bedeutungslosigkeit der Sperrminorität berechtigt dazu.“ Nach derselben Logik, wie die 35-Prozent-Schwelle festgelegt wurde, müsse die Schwelle nun auf 25 Prozent gesenkt werden. Neuverhandlungen über Abstimmungsregeln und Stimmgewichte im Ministerrat müssten jedoch sofort starten. „Wenn wir noch zehn Jahre warten ist das Geld weg. Eine Fiskalunion ist alles andere als das, was wir jetzt brauchen.“ Die EU müsse nach dem Pareto-Prinzip organisiert werden: „Es wird nur entschieden, was einige Länder besser stellt, ohne andere zu benachteiligen.“ Das garantiere Stabilität. Ein Zusammenschluss basierend auf Umverteilung und Risk-Sharing sorge dagegen ausschließlich für Instabilität
#############################

Wie genau stellt sich Hans Werner Sinn eine Änderungskündigung vor?

Der Maastrichter Vertrag: http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/...91:FULL:DE:PDF

Darin tauchen die Worte Kündigung, kündigen, Austritt und austreten nicht auf!

Meint also Hans Werner Sinn eine Änderungskündigung im Sinne des EU-Vertrags (Vertrag über die Europäische Union) von Lissabon? Danach kann man aus der ganzen EU austreten. Der Artikel 50 regelt das Verfahren:

EU-Vertrag
Titel VI - Schlußbestimmungen (Art. 47 - 55)
Art. 50

(1) Jeder Mitgliedstaat kann im Einklang mit seinen verfassungsrechtlichen Vorschriften beschließen, aus der Union auszutreten.


(2) Ein Mitgliedstaat, der auszutreten beschließt, teilt dem Europäischen Rat seine Absicht mit. Auf der Grundlage der Leitlinien des Europäischen Rates handelt die Union mit diesem Staat ein Abkommen über die Einzelheiten des Austritts aus und schließt das Abkommen, wobei der Rahmen für die künftigen Beziehungen dieses Staates zur Union berücksichtigt wird. Das Abkommen wird nach Artikel 218 Absatz 3 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union ausgehandelt. Es wird vom Rat im Namen der Union geschlossen; der Rat beschließt mit qualifizierter Mehrheit nach Zustimmung des Europäischen Parlaments.

(3) Die Verträge finden auf den betroffenen Staat ab dem Tag des Inkrafttretens des Austrittsabkommens oder andernfalls zwei Jahre nach der in Absatz 2 genannten Mitteilung keine Anwendung mehr, es sei denn, der Europäische Rat beschließt im Einvernehmen mit dem betroffenen Mitgliedstaat einstimmig, diese Frist zu verlängern.

(4) Für die Zwecke der Absätze 2 und 3 nimmt das Mitglied des Europäischen Rates und des Rates, das den austretenden Mitgliedstaat vertritt, weder an den diesen Mitgliedstaat betreffenden Beratungen noch an der entsprechenden Beschlussfassung des Europäischen Rates oder des Rates teil.

Die qualifizierte Mehrheit bestimmt sich nach Artikel 238 Absatz 3 Buchstabe b des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union.

(5) Ein Staat, der aus der Union ausgetreten ist und erneut Mitglied werden möchte, muss dies nach dem Verfahren des Artikels 49 beantragen.
Quelle: https://dejure.org/gesetze/EU/50.html


EU-Vertrag
Titel VI - Schlußbestimmungen (Art. 47 - 55)
Art. 49
(ex-Artikel 49 EUV)

Jeder europäische Staat, der die in Artikel 2 genannten Werte achtet und sich für ihre Förderung einsetzt, kann beantragen, Mitglied der Union zu werden. Das Europäische Parlament und die nationalen Parlamente werden über diesen Antrag unterrichtet. Der antragstellende Staat richtet seinen Antrag an den Rat; dieser beschließt einstimmig nach Anhörung der Kommission und nach Zustimmung des Europäischen Parlaments, das mit der Mehrheit seiner Mitglieder beschließt. Die vom Europäischen Rat vereinbarten Kriterien werden berücksichtigt.

Die Aufnahmebedingungen und die durch eine Aufnahme erforderlich werdenden Anpassungen der Verträge, auf denen die Union beruht, werden durch ein Abkommen zwischen den Mitgliedstaaten und dem antragstellenden Staat geregelt. Das Abkommen bedarf der Ratifikation durch alle Vertragsstaaten gemäß ihren verfassungsrechtlichen Vorschriften.
Quelle: https://dejure.org/gesetze/EU/49.html
###--------------------------------------------------

Das Verfahren "erst raus nach Art. 50, dann neu verhandeln insbesondere über Abstimmungsregeln und Stimmgewichte im Ministerrat, dann wieder rein nach Art. 49 auf Basis der neuen - genehmen - Spielregeln" hat offensichtliche Schwachpunkte:
  1. Es dauert Jahre
  2. Es könnte eine Lawine an "ich will auch was geändert haben"-Forderungen der übrigen Mitgliedsstaaten nach sich ziehen, was die Verhandlungen unendlich kompliziert und langwierig machen würde.
  3. Deutschland könnte zwar u. U. den Austritt noch halbwegs "zügig" hinbekommen, wäre aber bei den Verhandlungen zum Wiedereintritts-Antrag beliebig durch andere Mitgliedsstaaten in Süd- und Osteuropa erpressbar, siehe Punkt 2.
  4. Es könnte zu Nachahmer-Taten durch andere Mitgliedsstaaten kommen, die entweder nur raus wollen oder ebenfalls Änderungen mittels "raus-rein" verhandeln wollen.

Es sieht so aus, als würde Deutschland in jedem Fall verlieren:

Wenn Deutschland etwas tut und die Entscheidungskriterien im Maastrichter Vertrag - mit welchem Verfahren auch immer - ändern wollte im Sinne Hans Werner Sinn's, dann entstünde wohl ein Hexenkessel aus "ich auch"-Begehrlichkeitsänderungswünschen der übrigen Mitgliedsstaaten, der kaum noch zu managen und erfolgreich zum Vertragsabschluss zu bringen wäre, weil das alles in einer Zeit abliefe, in der die EU-skeptischen Parteien Zulauf erhalten und Fliekräfte durch das o.g. Geschehen befördert würden. Das könnte also die Auflösung der ganzen EU sogar beschleunigen - was Deutschland massiv schädigen würde.

Wenn Deutschland aber nichts tut und die Entscheidungskriterien im Maastrichter Vertrag so belässt, also die €-Transferunion von den nordeuropäischen Staaten in Richtung der Südländer als Dauerzustand akzeptiert, dann stellt sich nur noch eine Frage: Welcher Geldstrom ist größer:
  • Der von Nord nach Süd (Transferunion), die wettbewerbsschwachen südeuropäischen Staaten können diese Transfers durch die Mehrheitsverhältnisse dann unmittelbar beschließen, siehe Äußerungen von Hans Werner Sinn.
  • Der von Süd nach Nord bzw. der von alles Mitgliedsstaaten über Handelsbeziehungen insgesamt bewirkte Profit-€-Strom vor allem nach Deutschland: Deutschland vermag durch die eigene Wettbewerbsfähigkeit genug Mittel zu erwirtschaften insbesondere durch die freien Handelsbeziehungen mit den übrigen Mitgliedsstaaten (sofern die künftig noch Mittel dafür haben).
Vermutlich ist es für auf Zeit gewählte Politiker persönlich risikoärmer, wenn sie nichts tun. Bei der EU ist das Beharrungsvermögen ohnehin schier unbegrenzt.

Es könnte klammheimlich ein "Deal" herauskommen:
  • Solange die Transfers nicht die Größenordnung von Plünderungen annehmen. solange geht die Sache in Ordnung: Deutschland zahlt.
  • Kommt aber z. B. die Staatsverschuldung Italiens oder deren Bankensystem dazu, könnte der Deal kippen, weil Transfers in derartiger Höhe nicht mehr beim Wahlvolk politisch vertretbar wären.

Schlussfolgerung:

Es ändert sich nur dann etwas strukturell in Europa, wenn sich die politischen Verhältnisse im Schwerpunkt Europas - also in Deutschland - gravierend ändern. Das könnte z. B. dann der Fall sein, wenn das deutsche Wahlvolk das Gewühl bekommt, von den übrigen Mitgliedsstaaten völlig unfair ausgezehrt zu werden.

Geändert von Benjamin (18-12-2016 um 10:31 Uhr)
Benjamin ist offline   Mit Zitat antworten