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Alt 03-12-2006, 23:57   #1
Auf Wunsch gelöscht
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Ins Große durchs Ganze

Gegen Globalisierung, heißt es, gibt es nur zwei Mittel:
mitmachen oder abdichten, seine Identität verlieren oder sein Geschäft.
Besser klappt es umgekehrt: Die Welt erschließt sich durch
Unterschied und Wettbewerb. Auf kleinstem Raum. In der Region.


Das Personal wusste Bescheid, Widerspruch war zwecklos: Wann immer Iwan David Herstatt etwas benötigte, musste es aus Köln sein. Ob Anzüge, Krawatten, Brot oder Schaumwein – gekauft wurde im Auftrag des Bankiers und Gründers der I. D. Herstatt KGaA, dem Inbegriff des deutschen Bankenwirtschaftswunders der fünfziger und sechziger Jahre, lokal, regional, vor Ort. Vom Erfolg seiner Bankgeschäfte sollten auch die profitieren, mit denen der Banker, der in mehr als 50 regionalen Vereinen als Mitglied wie spendabler Gönner wirkte, lebte und groß geworden war. Herstatt war ein deutsches Märchen und endete als deutsches Drama. Nach dem unvergleichlichen Aufstieg stürzte er über seine globalen Devisengeldgeschäfte, die er mit seinem Chefhändler und Stellvertreter Dany Dattel eingefädelt hatte, den der Alte stets seinen „Goldjungen“ nannte. Mit 614 Millionen Euro Schulden ging die Herstatt-Bank unter und mit ihr 70 000 Kunden und 850 Mitarbeiter.

Der Untergang des Iwan D. Herstatt bestätigte scheinbar, was viele im Land bis heute glauben: Solange wir unter uns bleiben, ist alles gut. Doch kaum ist der Rest der Welt im Spiel, geht alles daneben. Warum? Wie kann es sein, dass das zweifellos Gute im Land mit der Welt so schwer zusammenkommt? Oder genauer gefragt: Wie wird man weltfremd? Und was ist die Globalisierung? Die Antwort kennen viele aus dem Effeff: Globalisierung ist, was uns die anderen wegnehmen – Jobs, Geld, Wohlstand, Sicherheit, die Existenz. So hört man es oft. Es sind Debatten so flach wie die Landschaft Nordfrieslands, Ängste null Meter über Normalnull. Die Welt ist keine Scheibe, aber für manche sieht sie trotzdem so aus.

Globalisierung bedeutet nicht mehr und nicht weniger, als dass Menschen und Kapital, Ideen und Güter, Märkte und Wohlstand nicht mehr hauptsächlich von Nationalstaaten kontrolliert und gesteuert werden, so, wie das in Europa seit Jahrhunderten üblich war. Regierungen verlieren als Steuerinstrument der Entwicklung an Bedeutung. Internationale Organisationen und Kooperationen hingegen gewinnen an Einfluss. Regeln und Gesetze, die nur für ein geschlossenes System, den alten Staat, gedacht sind, haben weniger Nutzen. Wer mit dem Rücken zur Welt lebt, versteht sie bald nicht mehr. Dass die Globalisierung die Verhältnisse grundlegend verändert, kann niemand bestreiten. Zum Beispiel sorgt sie dafür, dass der Exportweltmeister Deutschland mehr Waren und Dienstleistungen exportiert als jede andere Nation. Der schwedische Ökonom Johan Norberg hat noch eine Reihe anderer Errungenschaften der Globalisierung hinzugefügt, die seit den fünfziger Jahren zunehmend die Weltwirtschaft bestimmt: „24 arme Länder und damit drei Milliarden Menschen haben sich in die globale Wirtschaft integriert, indem sie ihre Zölle dreimal mehr als andere gesenkt und ihren Anteil am Welthandel im Verhältnis zur eigenen Wirtschaftskraft verdoppelt haben. Ihre jährlichen Wachstumsraten sind um fast fünf Prozent pro Kopf gestiegen, mehr als doppelt so viel wie die Raten in den reichen Ländern.“


II. Innenansichten


Als die Welt noch fest im Griff der Nationalstaaten war, im Jahr 1950, hungerten fast dreimal so viele Menschen in den Entwicklungsländern wie heute, schreibt Norberg. Für all diese Staaten bedeutet Globalisierung Wohlstand durch Öffnung. Damit ist das Unwort eine bedeutende Waffe gegen die Armut und für einen Zustand geworden, der so vielen am Herzen liegt: Gerechtigkeit. Menschen, die in ihrem Leben den Wandel von nationalstaatlicher Enge zur Globalisierung erlebt haben, sehen das anders als die, die ihre Pfründe durch die Öffnung bedroht sehen.

Das Washingtoner Forschungsinstitut PEW – For the People and the Press – macht sich regelmäßig die Mühe, die Bürger der Staaten dieser Welt nach ihrer Einstellung zu ihrem eigenen Leben, ihrer eigenen Nation und zur Welt im Allgemeinen zu befragen. In Asien, einst mit Afrika das Synonym für Armut, halten nur etwas weniger als sechs Prozent der Bürger die Globalisierung für eine üble Sache. In Europa hingegen sieht es deutlich anders aus. Rund 26 Prozent der Deutschen und 36 Prozent der Franzosen halten die Globalisierung für schlecht. Die Reihung ist nicht überraschend. Frankreich gilt als der Nationalstaat per se – man sieht sich gern als „Grande Nation“.

Der deutsche Nationalismus führte zu den Katastrophen des 20. Jahrhunderts. Die Abkehr von den nationalistischen Inhalten nach 1945 ging aber nicht weit genug: Die falschen Ideale wurden beseitigt – aber die falschen Formen weiterhin gepflegt. Nach wie vor fordern viele den starken, geschlossenen, hermetisch abgeriegelten Staat. Sie fordern Vorrechte. Nationalstaaten sind daran leicht erkennbar. Sie beschäftigen sich vorwiegend mit sich selbst, so wie jene, die in ihm das einzig Wahre sehen. Es sind alle, die mit dem Staat Geschäfte machen, für ihn arbeiten, die Hand aufhalten, wenn er umverteilt, all jene also, die sich nicht vorstellen können, dass es irgendwo, irgendwann anders sein könnte, als es ist. Du bist Deutschland.

Aber wer sind eigentlich die anderen da hinten?


III. Die Patrioten


Über Fußball macht man sich nicht lustig. Auch dann nicht, wenn im Rahmen etwa einer Fußballweltmeisterschaft merkwürdige Dinge passieren. Nehmen wir mal die Parole der Bundesregierung, die lautete, dass durch die in Deutschland ausgetragene Fußball-WM die heimische Wirtschaft neuen Schwung bekommen würde. Es schwingt zwar – doch kein ernst zu nehmender Ökonom führt das auf die Binnennachfrage oder die reformatorischen Meisterleistungen der deutschen Regierungen in den vergangenen Jahren zurück. Deutschlands Wirtschaft schwingt mit der globalen Konjunktur mit. Womit auch sonst?

Das ist wahr – aber kein Hindernis für Politiker, ihren Bürgern etwas anderes zu erzählen. Klarerweise, tönten SPD-Funktionäre, sei der Aufschwung dem segensreichen Wirken Gerhard Schröders zuzuschreiben. Quatsch, rief die CDU, natürlich sei die Kanzlerin dafür verantwortlich. In Wirklichkeit haben Schröder und Merkel mit dem leichten Aufschwung ungefähr so viel zu tun wie der Neumond. Möglicherweise, nicht alles ist gewiss, ist die Auswirkung des Mondes auf die deutsche Konjunktur sogar etwas größer. Mit Sicherheit zeigt das Beispiel aber, wem der geschlossene Staat nützt – jenen, die darin die Macht beanspruchen, also Posten, Einfluss, den Zugriff auf die nationale Umverteilung von Vermögen, kurz und gut: nur dem System selbst.

Wer behauptet, er könne den Gang der Welt in einem 82-Millionen-Einwohner-Staat (zur Erinnerung: rund 1,3 Prozent der Weltbevölkerung) gegen den Rest (alias 98,7 Prozent) drehen, glaubt alles, auch, dass man mit halbherzigen Reförmchen wieder in Schwung kommt. Was würden wir von Zimmerleuten sagen, die versuchten, auf offener See Balken ins Wasser zu nageln? Und warum nennen das so wenige beim Namen: Schwachsinn? Nationaler Schwachsinn. Doch niemand guckt hin. So gehen die nationalen Parteien und Organisationen, ihre Ämter, Behörden und Funktionäre ungestört dem nach, was sie für ihre Geschäfte halten. Diese Patrioten in eigener Sache sind ausgesprochen respektlos, wenn sich für sie Vorteile ergeben.

Nehmen wir die Fahne. Schwarzrotgold. Wer die vor der Fußballweltmeisterschaft einfach so hisste, wurde vom Verfassungsschutz beobachtet respektive engagiert. Nach der WM ist der Umgang mit Schwarzrotgold endlich normal, mehr als 60 Jahre nach Kriegsende. Das ist der Verdienst einer jungen Generation, die nicht aus verkappten Nationalisten besteht, sondern aus Realos. Der ungezwungene Umgang mit der Flagge ist ein Zeichen dafür, dass sich diese Generation von der in engen Grenzen verlaufenden Geschichte ihres Landes befreit hat. Schwarzrotgold stand immer für den besseren Teil der deutschen Geschichte, für Patriotismus. Und der ist das krasse Gegenteil des Nationalen. Patrioten sind Freiwillige, Menschen, die sich ohne Zwang für eine Sache entscheiden und damit erst eine Demokratie bilden können. Patrioten müssen weder eine gemeinsame Sprache sprechen noch einer bestimmten Religion angehören. Sie müssen sich nicht auf eine tausendfach geklitterte gemeinsame Geschichte berufen oder auf den seltsamen Umstand, dass nur der ein guter Bürger ist, der in dem Land, in dem er lebt, geboren ist. Sie brauchen keine Einbürgerungstests mit überflüssigen Fragen. Für diese neuen Patrioten bedeutet die Fahne nicht mehr und nicht weniger als das Logo einer Turnschuhmarke – für die sich der Träger ebenfalls freiwillig entschieden hat. Und wie bei Turnschuhen braucht es kein „heiliges Band“, um dieses Verhältnis festzuzurren.

Das ist so ähnlich wie beim Alt-Bundespräsidenten Gustav Heinemann, der den Mut und den Anstand hatte, auf die Frage, ob er sein Vaterland liebe, zu antworten: „Ich liebe meine Frau.“ Das ist kein Widerspruch, sondern ein Unterschied.
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"Mittagessen? Nur Flaschen essen zu Mittag!"
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