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Alt 24-09-2007, 16:32   #6
Auf Wunsch gelöscht
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Exclamation China glaubt der Kanzlerin kein Wort

24. September 2007
An den Kommentaren zu Angela Merkel, die dieser Tage in chinesischen Internetforen zu finden sind, erstaunen nicht so sehr ihre Derbheit und Obszönität. Alle möglichen Zeitgenossen, von Filmstars über Schriftsteller bis zu Fußballspielern und insbesondere, wenn es sich um Frauen handelt, bekommen ständig solche Pöbeleien im Netz zu lesen, wann immer auf irgendeine noch so abwegige Weise die Ehre des Mutterlands auf dem Spiel zu stehen scheint.

Es gibt in China einen Stamm von Chauvinisten, der sich auf diesen elektronischen Stammtischen austobt. Und so wird auch jetzt wieder in die unterste historische Schublade gegriffen, um die Regierungschefin und deren Nation zu attackieren: „Wir sollen die Verbrechen der Deutschen nicht vergessen“, schreibt einer, und ein anderer fügt das schlimmste aller denkbaren Verdikte hinzu: Wären die Deutschen an der Stelle der Japaner gewesen, hätten sie sich auch nicht besser benommen. Und ein Dritter befindet: „Die Regierung ist ein Weichei. Ich würde an ihrer Stelle sofort den Parteivorsitzenden der deutschen Neonazis empfangen.“

Üble geostrategische Absichten

Nein, dieser Ton ist bei den Rüpeln normal, und er spiegelt in keiner Weise den Ruf, den Deutschland in China nicht nur unter Kulturmenschen, sondern in breitesten Schichten (Ballack!) genießt. Erstaunlich aber ist, mit welcher Fraglosigkeit das Gespräch der Kanzlerin mit dem Dalai Lama den Anlass für Beschimpfungen abgibt, ohne dass dieser Anlass selbst auch nur der geringsten Erörterung für wert gehalten wird. Mit anderen Worten: Für die Internet-Hooligans bedarf es keiner Frage, dass der moralische Anspruch dieser Begegnung nur vorgeschoben ist und in Wirklichkeit üble geostrategische Absichten dahinterstecken, nämlich China zu schaden.

Auch unabhängig von der konkreten Einschätzung der Lage in Tibet wird eine Vorstellung von Moral und Staatsräson sichtbar, die sich offensichtlich nicht allein die Krakeeler zu eigen machen. In Deutschland glaubt jeder, dass die Kanzlerin, als sie den Dalai Lama empfing, die Menschenrechte zum Interesse des Staats gemacht hat – die einen (Koch, die Grünen) loben sie dafür, die anderen (Geschäftsleute vor allem) tadeln sie. Dass sie entgegen ihrer mehrfach bekundeten Absicht damit eine Politik zugunsten der Unabhängigkeit Tibets von China einleiten wolle, würde außer einigen Verschwörungstheoretikern niemand annehmen. Das universalistische Prinzip ist eine geläufige Münze in der politischen Auseinandersetzung.

Ehrlich entrüstet

In China ist das nicht so. Hier gilt es offensichtlich als ausgemacht, dass hinter dem Anspruch einer übernationalen Moral, sofern er mit politischem Druck und sogar im Konflikt mit ökonomischen Interessen erhoben wird, ein anderes, handfestes Interesse stecken muss. Deshalb spricht viel dafür, dass die chinesische Regierung über Frau Merkel ehrlich entrüstet ist: Bei ihrem Besuch kürzlich in Peking hatte sie sich doch noch so aufgeschlossen gezeigt, dass man glauben konnte, die „ideologisch“ bedingten Berührungsängste der ersten Zeit seien vorüber. Es sah so aus, als sei sie zu einem ebenso umgänglichen Verhandlungspartner wie ihre Vorgänger geworden; dass sie zugleich auch auf Meinungsverschiedenheiten, etwa bei den Menschenrechten, hinwies, hatte man ihr genauso wenig übel genommen wie anderen Staatsbesuchern aus dem Westen, für die das nun einmal zum guten Ton gehört.

Nun aber spricht Angela Merkel mit einem Mann, den Peking ausdrücklich als politischen Gegner definiert hat; sie beruft sich darauf, in ihm nur die moralische, religiöse und kulturelle Stimme zu sehen, als die er sich selbst begreift, aber diesen nichtpolitischen Aspekt erkennt die chinesische Regierung nicht an. Nicht, als ob die Kommunistische Partei nicht moralisch argumentierte: „Moral“ gehört neuerdings zu den Eckpfeilern der nationalen Ideologie, die das Land zusammenhalten soll; an Stelle der früheren Bestarbeiter wurden kürzlich dreiundfünfzig „Modell-Moralisten“ in der Großen Halle des Volkes geehrt. Aber diese Art Moral endet an den Grenzen des souveränen Staats, der für ihre Einhaltung zu sorgen hat. Der Anspruch auf eine universalistische, grenzenlose Moral dagegen erweckt Misstrauen.

Folge historischer Erfahrungen

Das entspricht gewiss einem traditionellen chinesischen Denkmuster, dem zufolge ethische Überlegungen immer nur situative Gültigkeit beanspruchen können. Aber es ist auch eine Folge historischer Erfahrungen. Das Erlebnis der Scheinheiligkeit der europäischen Kolonialmächte brachte die Kommunistische Partei mit dem Versprechen an die Macht, das Land wieder souverän und autonom zu machen. Vor dem Hintergrund von Fremdbestimmung und Bürgerkriegen gewinnt die ritualisierte Abwehr der „Einmischung in innere Angelegenheiten“ einen hohen, durch keine „Moral“ auszuhebelnden Stellenwert.

In der realen Politik sind die Verhältnisse natürlich immer aus Idealen und Interessen gemischt, und zuletzt hat das moralisch-militärische Fiasko der Vereinigten Staaten im Irak gezeigt, was passiert, wenn man über diese Mischung nicht aufgeklärt ist. Dass man in der zusammenwachsenden Welt aber auch verbindlich über universelle Prinzipien reden kann, ohne die legitimen Souveränitätsrechte anderer Staaten zu verletzen, ist eine historische Erfahrung, die China nur machen können wird, wenn sich westliche Staaten davon nicht abhalten lassen.
Text: F.A.Z.
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