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Alt 28-07-2006, 08:46   #92
Auf Wunsch gelöscht
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Warum es noch kien "Krieg" ist

Vorrückende Panzer, Artilleriefeuer, Raketenangriffe, Verwundete, Tote und viele tausend Flüchtlinge - die Bilder aus dem Libanon und Israel zeigen einen Krieg. Oder ist es "nur" eine Nahost-Krise? Ein bewaffneter Konflikt? Die Wortwahl kann eine heikle Sache sein und fällt auch den Medien nicht einfach.

Von Fiete Stegers, tagesschau.de

Für Nutzerin "victoria" ist klar: "Die Menschen leiden unter einem Krieg" schreibt sie im Diskussionforum von tagesschau.de. Sie ist nicht die einzige, die so denkt. Viele Zuschauer, Hörer und Leser wundern sich deshalb, warum die deutschen Medien stattdessen von "kriegerischen Auseinandersetzungen", einer "Krise", "Militäroperationen" oder einfach nur dem "Nahost-Konflikt" sprechen. Während die Leitartikel in manchen deutschen Zeitungen klar vom Krieg sprechen, ist die Linie von Tagesschau,Tagesthemen und Nachtmagazin bisher zurückhaltend. "Wir wollen uns fern davon halten, dass wir in irgendeiner Form zu politischen Zwecken vereinnahmt werden", sagt Thomas Hinrichs, zweiter Chefredakteur von ARD-aktuell. Die engere Definition des Begriffs Krieg sei bisher nicht erfüllt.

Die Beteiligten selbst sind in ihrer Wortwahl nicht eindeutig: Während beispielsweise der stellvertretrende israelische Ministerpräsident Schimon Peres das gewaltsame Vorgehen gegen Hisbollah und Hamas mit den Worten "Israel hat diesen Krieg nicht angefangen" verteidigte, spricht das israelische Außenministerium auf seiner Website nur von einer "Anti-Terror-Kampagne" und "militärischen Maßnahmen". Offiziell hat Israel keinen Krieg erklärt.

Wem auch? Das klassische Kriegskonzept im Völkerrecht geht von einem Krieg zwischen den Armeen verschiedener Staaten aus. Doch die Hisbollah verfügt zwar über bewaffnete Kämpfer, ist aber definitiv kein Staat. Um einen Bürgerkrieg zwischen bewaffneten Gruppen innerhalb eines Landes handelt es sich aber auch nicht. Andererseits ist mit Israel eine reguläre Armee an den Kämpfen beteiligt - für einige Politikwissenschaftler ist das schon ausreichend, um von einem Krieg zu sprechen. Denn die wissenschaftliche Definition eines Krieges ist im Wandel: Während die Kämpfe zwischen den Armeen von Nationalstaaten immer seltener werden, schwelen "neue Kriege", wie sie Herfried Münkler bezeichnet. Damit meint der Berliner Professor Konflikte, die sich der klassischen Definition des Krieges entziehen, bei denen sich Rebellengruppen, Milizen, Söldner und andere irreguläre Kämpfer gegenüberstehen. Was als Freiheitskampf oder politische Auseinandersetzung beginne, werde oft genug zum Selbstzweck, der den Lebensunterhalt der Kämpfenden sichere, schreibt Münkler.

Eine Definition: Krieg erst ab 1000 Toten

Es mag zynisch klingen, aber ein wichtiges Kriterium ist auch das Ausmaß der Kämpfe: "Von einem Krieg wird im Falle bewaffneter Auseinandersetzungen in der Regel erst ab 1000 Toten pro Jahr gesprochen", fasst der Politikwissenschaftler Thorsten Bonacker eine gängige Definition zusammen. Inzwischen sind im Libanon, in Israel und im Gaza-Streifen seit Beginn der Eskalation schon mehrere hundert Menschen ums Leben gekommen - die meisten davon Zivilisten.

"Dass jemand mit dem Rechenschieber die Opfer zählt, gibt es bei der Tagesschau nicht", meint Hinrichs: "Das wäre zynisch - auch angesichts der Opferzahlen im Irak. Aber man muss die Sprache permanent überdenken." Möglich also, dass sich je nach Entwicklung auch die Wortwahl von Tagesschau und Tagesthemen anpasst, etwa, wenn ein weiteres Land verwickelt wird: "Sobald Syrien oder die libanesische Armee in den Konflikt eingreifen würde, würden auch wir in der Tagesschau von einem Krieg sprechen", sagt Thomas Hinrichs. Das sei nicht immer einfach zu entscheiden: So habe es den Fall gegeben, dass sich Hisbollah-Kämpfer auf einem Stützpunkt der regulären libanesischen Armee aufhielten.

Korrespondent: "Was hier läuft, ist Krieg"

Hundertprozentig einheitlich sind die Formulierungen in der Praxis dann auch nicht immer, wenn Reporter aus dem Kampfgebiet berichten. "Wenn da Katjuschas von der einen Seite und von der anderen Seite Kampfflugzeuge fliegen, ist die individuelle Erfahrung der Korrespondenten vor Ort sicherlich die eines Krieges", sagt Hinrichs. Wenn die Reporter in solchen Situationen das Wort Krieg in den Mund nähmen, könne dies dann aber auch nicht von Dritten politisch vereinnahmt werden.

"Was hier im Moment läuft, ist ein Krieg", meint so auch ARD-Korrespondent Patrick Leclerq gegenüber dem NDR-Medienmagazin Zapp. "Ich hab insgesamt jetzt, glaub' ich, sieben Kriege weltweit hinter mich gebracht. Das ist eine Kriegssituation hier und warum sollte ich dann erzählen es sei eine große Krise oder eine regionale Krise oder ein Brennpunkt oder ein Brandherd oder sonst irgendein Unfug?"
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