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Alt 03-12-2005, 11:54   #6
Goldfisch
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Die Türkei buhlt um ausländisches Kapital

Erdogan kündigt niedrigere Unternehmenssteuern an

Kee. Istanbul, 2. Dezember

Die türkische Wirtschaft erfreut sich zwar eines rasanten Wachstums, aber das ständig steigende Defizit in der Handelsbilanz beunruhigt viele türkische Ökonomen. Sie rechnen mit einem Defizit der Handelsbilanz von 6% des Bruttoinlandprodukts (BIP). Das Defizit liegt nicht etwa an Problemen der Exportwirtschaft. Vielmehr stiegen diese letztes Jahr um stolze 34%. Aber die Importe expandierten noch schneller, nämlich um 41%. In den ersten neun Monaten diesen Jahres legten die Exporte noch um 12% zu (wobei der grösste Zuwachs auf die ersten beiden Monate entfiel). Die Importe wuchsen gleichzeitig um 21%, und zwar obwohl die höheren Ölpreise teilweise von der starken Lira aufgefangen wurden. Die Regierung ist über die Entwicklung nicht besorgt; zumindest lässt sie sich nichts anmerken. Das hohe Defizit wird ihrer Meinung nach noch ein paar Jahre anhalten. Zudem wird es traditionell durch die Einnahmen aus dem Tourismus und die Überweisungen von Türken aus dem Ausland ausgeglichen. In jüngster Zeit kam der Zustrom von Kapital hinzu, das durch grosse Privatisierungen und die gute ökonomische Entwicklung des Landes angelockt wird.

Um noch mehr Direktinvestitionen anzulocken, sollen die Unternehmenssteuern von kommendem Jahr an von 30% auf 20% gesenkt werden. In echt türkischer Manier verkündete dies der Premier Tayyip Erdogan einen Monat vor Jahreswechsel ohne jede Vorankündigung während einer seiner als Fraktionssitzungen getarnten Fernsehansprachen. An der Istanbuler Börse wurde die Ankündigung mit Kursgewinnen quittiert. Die Hast, mit der die Ankündigung erfolgte, weckt jedoch Zweifel an der gründlichen Planung der Steuersenkung. Schon aus taktischen Gründen wäre es besser gewesen, die Massnahme länger im Voraus anzukünden, damit Investoren sich auf sie hätten einstellen können.

Mit der Senkung der Unternehmenssteuern tritt die Türkei in einen Wettstreit mit den osteuropäischen Ländern um die niedrigsten Unternehmenssteuern. Slowenien und Estland werden nun von der Türkei unterboten. Die übrigen osteuropäischen Länder liegen alle noch niedriger als die Türkei, doch der Abstand zu den meisten von ihnen ist nur noch gering. Da die Unternehmenssteuern ohnehin nur 8% der Staatseinnahmen ausmachen, ist der Aderlass zu verkraften. Mehr als doppelt so viel nimmt der türkische Staat alleine an Zöllen ein. Dies zeigt aber auch die Verletzlichkeit des Systems. Das hohe Leistungsbilanzdefizit sowie der Wegfall von ausländischem Kapital durch steigende Zinsen könnten zu einer scharfen Korrektur des Wechselkurses führen. Die Folge wäre mit Sicherheit ein Einbruch bei den Importen, wie ihn die Türkei in der Vergangenheit oft erlebt hat. Dies brächte den zu einem grossen Teil auf Privatisierungserlösen und Zolleinnahmen basierenden Haushalt rasch aus dem Gleichgewicht.

Quelle: 3. Dezember 2005, Neue Zürcher Zeitung
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"Es gibt tausende Möglichkeiten, sein Geld auszugeben, aber nur zwei, es zu erwerben: Entweder wir arbeiten für Geld oder das Geld arbeitet für uns."

Bernhard Baruch
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