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Alt 23-06-2006, 12:20   #136
621Paul
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Boersenerfolg: Ein Leidfaden!

von Dr. Bernd Niquet

Wer an den Boersen und Finanzmaerkten Erfolg haben will, muss
gegen den Strom schwimmen. Nur wer sich von der Masse deut-
lich abhebt, besitzt die Chance auf den grossen Erfolg. Doch
der Preis ist hoch, denn alles anders zu machen als alle an-
deren Leute, bedeutet nichts weniger als unsere vertraute
Welt zu verlassen: Keine Zeitung, kein Radio und kein Fernse-
hen mehr, die Freunde verlassen, ein Einsiedler werden, den
Sex vergessen und vor allem: alle Gefuehle dauerhaft und
restlos beseitigen!

Wollen Sie das? Nein, das wollen Sie ganz sicher nicht! Also
vergessen Sie am besten die Boerse und kuemmern Sie sich wie-
der um ihren ureigensten Beruf. Spielen Sie ein bisschen her-
um mit der Boerse, so wie man es frueher mit anderen Dingen
getan hat, doch nehmen Sie es nicht zu wichtig. Und setzen
Sie nicht zu viel Geld ein, denn Sie werden das meiste davon
verlieren.

Was? Sie wollen doch den konsequenten Weg gehen? Ich kann Sie
nur warnen! Doch wenn Sie sich wirklich nicht abbringen las-
sen wollen, dann darf ich Ihnen einen Reisefuehrer anbieten,
einen Leitfaden, der jedoch recht eigentlich eher ein Leidfa-
den ist. Er heisst "Die Romantik der Finanzmaerkte", ist ge-
rade an diesem Wochenende erschienen, und was das beides mit-
einander zu tun hat, die Romantik und die Finanzmaerkte, das
muessen Sie auch noch selbst herausfinden. Ich kann Sie also
nur warnen, gleich im doppelten Sinne - vor dem Weg und vor
der Beschreibung des Weges. Andererseits wohnen manchmal der
Humor und die Erkenntnis auch genau dort, wo man sie beide am
wenigsten vermutet.

Also Schluss mit der Ruehrseligkeit! Hoeren Sie auf, sich
ueber ihre Verluste oder verflossenen Gewinne zu beklagen.
Sie haben Ihr halbes Leben im Kofferraum verbracht. Es wird
Zeit, endlich heraus zu klettern. Alles faengt jetzt von vor-
ne an. Ihr Verstand ist wieder eine unbeschriebene Tafel.
Nehmen Sie noch einmal die Kreide in die Hand und machen Sie
es anders als beim letzten Mal. Die Masse hat tendenziell
immer Unrecht, sagt man an der Boerse. Also stellen Sie sich
dagegen. Und hoeren Sie endlich auf mit den Gefuehlen. Ge-
fuehle waren gestern. Heute regiert das Rationale.

Die Welt dreht sich um Total-Return-Konzepte, um rationale
Risikoermittlung, rationales Risikomanagement und das ratio-
nales Risikocontrolling. Und nicht darum, was Sie denken. Und
schon gar nicht, was Sie fuer Gefuehle haben. Die anderen
richten sich auch nicht nach ihren Gefuehlen. Wir Deutschen
muessen endlich wieder Weltniveau haben. Total-Return-
Konzepte, um rationale Risikoermittlung, rationales Risikoma-
nagement und das rationales Risikocontrolling, darum geht es.
Also: Entledigen Sie sich endlich Ihrer Gefuehle! Die Ent-
scheidung ist ueberfaellig. Reissen Sie sie heraus wie eine
faule Wurzel. Wer alles anders machen will als alle anderen,
kann keine Gefuehle mehr brauchen. Zerreissen Sie den schoe-
nen Schleier von Trunk und Unbeschwertheit. Genau an dieser
Stelle beginnt die Radikalitaet. Denn keine Revolution ohne
das Radikale. Jetzt muessen Sie schnell wieder nuechtern wer-
den.

Und kappen Sie alle Verbindungen. Wir leben im Zeitalter der
Vernetzung. Doch die Vernetzung hebt Sie auf keine hoehere
Stufe, sondern faengt sie ein wie einen Fisch. Daher: Entnet-
zen Sie sich! Das ist ihre einzige Chance. Seien Sie dankbar,
denn Sie haben wenigstens eine Chance. Ergreifen Sie sie!


++++++

Bernd Niquet ist Boersenkolumnist und Buchautor.
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Wenn viele Anleger dasselbe glauben, dann muss dies noch lange nicht bedeuten, dass es stimmt oder wahrscheinlich ist. Das Gegenteil ist oft der Fall.
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Alt 09-07-2006, 09:51   #137
621Paul
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Die kleinen Moritze

von Dr. Bernd Niquet

Neulich war ich wieder einmal auf einem Seminar. Wie steht es
um die Welt und um die Weltfinanzen? Ein junger Mann ergreift
sein Notebook und bringt eine PowerPoint-Praesentation: Ja-
pans Waehrungsreserven haben sich zwischen Januar 2003 und
Maerz 2004 fast verdoppelt, Chinas Waehrungsreserven reichen
trotzdem schon beinahe daran, insgesamt liegen ueber 52 Pro-
zent der US-Staatsanleihen im Ausland, die US-Schulden betra-
gen ueber 300 % der Wirtschaftsleistung - kurzum, das kann
alles nicht mehr lange weiter gehen und ist zum Untergang
verurteilt.

Der junge Mann ist ein sehr junger Mann. Wenn es lange ist,
wird er vielleicht fuenf oder sechs Jahre sich aktiv mit der
Materie befasst haben. Er erzaehlt von der Zwangslage des US-
Notenbankpraesidenten, die aus obiger Situation resultiert.
"Egal was dieser machen wird", so der sehr junge Mann, "er
kann dabei nur scheitern." Erhoehe er die Zinsen weiter,
wuerge er die Wirtschaft ab und dadurch wuerden die Probleme
nur noch groesser werden. Damit stabilisiere man zwar den
Dollar, aber dann gehe die Wirtschaft in die Knie. Erhoehe
er die Zinsen jedoch nicht, dann gehe der Dollar in den Kel-
ler und reisse das gesamte System aus den Angeln. "Wenn man
mich fragen wuerde", schliesst er, "ob ich den Job von Ben
Bernanke machen wuerde, ich wuerde "nein" sagen!"

Der junge Man, der wirklich noch sehr jung ist, hat in den
fuenf oder sechs Jahren, die er sich jetzt mit der Materie
beschaeftigt, gelernt, das Weltfinanzsystem als eine Maschine
zu sehen, die vor ihm steht und die wie ein mechanisches Sys-
tem funktioniert. Dieses System kann man erkunden und weiss
dann, wie es funktioniert. Fuer diesen sehr jungen Mann ist
das Weltfinanzsystem eine kleine mechanische Maschine, deren
Funktionsweise er in Gaenze uebersieht und beurteilen kann.
Und da das Weltfinanzsystem nur eine kleine mechanische Ma-
schine ist, glaubt der noch sehr junge Mann, dass er spiegel-
bildlich dazu sehr gross sei, weil er eben vor dieser mecha-
nischen Maschine steht und sie und ihre Funktionsweise in
Gaenze ueberblicken und ihren Mechanismus mit apodiktischer
Richtigkeit erkennen und beurteilen kann.

Das wirkliche Problem unserer Gegenwart und Zukunft ist je-
doch: Die Welt wird ueberschwemmt von kleinen Moritzen, die
sich selbst nicht fuer kleine Moritze halten und folglich
erstaunt darueber sind, warum die anderen (kleinen Moritze)
das, was sie selbst sagen, nicht verstehen, nicht sehen,
nicht begreifen wollen, koennen oder duerfen - und daher auch
nicht die notwendigen Schluesse und Handlungen daraus ergrei-
fen wollen, koennen oder duerfen.

Die ganze Welt wird von kleinen Moritzen ueberschwemmt, die
glauben, die Dinge dieser Welt waeren kleine Maschinen, die
man in kleine Schachteln stecken und die man in Gaenze ueber-
blicken und verstehen koennte, weil sie ja allesamt nur nach
mechanischen Gesetzen funktionieren wuerden. Wobei allenfalls
das richtig ist, dass man die kleinen Moritze, die sich als
gross und die mechanischen Maschinen weit ueberblickend ver-
stehen, selbst als mechanische Maschinen begreifen kann, die
stets nach vorgegeben Gesetzmaessigkeiten funktionieren, was
allerdings nicht allzu viel heisst. Was einen aber auch vor
den groebsten Formen der Selbstueberschaetzung und den gigan-
tischsten Anfaengerfehlern bewahren sollte.

++++++

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Alt 13-08-2006, 12:19   #138
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Sie wollten es nicht einmal hören

von Dr. Bernd Niquet

Dies ist die Geschichte von einem Mann, der den Kosten unse-
res Gesundheitssystems etwas entgegen setzen wollte. Der sei-
nen kleinen, bescheidenen Beitrag leisten wollte. Der sich
nicht um die grossen Dinge kuemmern wollte (um dann letztlich
doch nichts zu bewirken), sondern der in seinem kleinen Be-
reich Verantwortung zeigen wollte (um dann wenigstens etwas
zu bewirken).

Unser Mann ist ein Privatpatient und damit gleich in dreifa-
cher Weise privilegiert, einmal, weil er eine bessere und
schnellere Behandlung bekommt, und zweitens wie drittens,
weil seine Kasse dafuer mehr Geld bezahlt und er ueberdies
die Abrechnungen der Aerzte einsehen kann. Unser Mann ver-
spuert schon seit langem Rueckenschmerzen, die nicht recht
weggehen wollen. Der Arzt schlaegt vor, es mit ein paar
Spritzen zu versuchen. Na ja, denkt unser Mann, man kann es
ja mal versuchen.

Zehn oder zwoelf Mal geht er zu diesem Arzt, wartete jeweils
eine halbe Stunde und bekommt dann in einer oder zwei Minuten
hier und da einen kleinen Pieks. Und fertig - bis zum naechs-
ten Mal. Als anschliessend eine Pause vereinbart wird, kommt
die Rechnung des Arztes. Sie belaeuft sich auf 1.600 Euro,
nach guter, alter Rechnung also etwa 250 DM pro Ein-Zwei-
Minuten-Sitzung.

So geht das doch nicht, denkt unser Mann und schreibt einen
Brief an seine Krankenkasse. Er schreibt, was der Arzt kon-
kret mit ihm gemacht hat und er bittet um Pruefung, dass so
etwas doch wohl nicht sein kann. Die Bedeutung dieses Briefes
ist also: "Kommt, lasst uns gemeinsam etwas machen, dass uns
beiden nicht das Fell ueber die Ohren gezogen wird."

Die Antwort seiner Krankenkasse erschreckt ihn. Sie besteht
in der kommentarlosen Ueberweisung des Betrages von 1.600
Euro auf sein Konto. Sie haben es also nicht einmal hoeren
wollen! "Nein!", haben Sie damit gesagt, "nein, wir wollen
nicht diskutieren oder verhandeln, wir wollen lieber zahlen!"

Wenig spaeter durfte unser Mann der entscheidenden ge-
schaeftspolitischen Vorstandssitzung seiner Privaten Kranken-
kasse beiwohnen. Hier ist sein Protokoll:

Der Vorstand-Vorsitzende: "Ich begruesse Sie zur Sitzung.
Herr Controlling-Vorstand, wie haben sich unsere Einnahmen
und Ausgaben entwickelt?"

Der Controlling-Vorstand: "Die Ausgaben sind stark gestiegen
und liegen jetzt um 20 Prozent ueber den Einnahmen plus Ge-
winnsumme."

Der Vorstand-Vorsitzende: "Gut, dann erhoehen wir unsere Ta-
rife fuer das naechste Jahr um 20 Prozent. Noch Fragen?"

Der Vertriebs-Vorstand: "Ja, und was machen wir dann im
naechsten Jahr?"

Der Vorstands-Vorsitzende: "Genau das Gleiche natuerlich. Ich
danke Ihnen, die Sitzung ist geschlossen."

Fuer das schwere und verantwortungsvolle Geschaeft der Lei-
tung einer Privaten Krankenkasse beziehen die Vorstaende
durchschnittlich bestimmt 300.000 Euro pro Jahr. In Hinsicht
auf die Gesetzlichen Krankenkassen tragen die Chefs der Kas-
senaerztlichen Vereinigungen fuer etwa das gleiche Salaer die
schwere Verantwortung. Und da wird man doch wohl wahrlich
einmal fuer 1.600 Euro (herum) spritzen duerfen, wird sich
der Arzt unseres Mannes gesagt haben.


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Alt 01-10-2006, 11:50   #139
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Geniale Strategie der Moderne

von Dr. Bernd Niquet

Meine Guete war das wieder eine Woche. Am Freitag versucht
die Telekom, das Telefon in der Wohnung unter mir anzu-
schliessen. Ob es geglueckt ist, weiss ich nicht. Doch seit-
dem ist meine Leitung tot. Was fuer ein Erfolg! Nun beginnt
wieder der Leidensweg durch die Callcenter. Da kann man etwas
erleben, das weiss jeder, der das schon einmal durchgemacht
hat, und das hat jeder schon einmal durchgemacht. Ich denke,
dass es durchaus einmal einen allgemeinen Blick wert ist,
denn hinter den Callcentern der grossen Unternehmen verbirgt
sich meines Erachtens nichts weniger als das gesamte Wesen
unserer heutigen Zeit.

In keinem Moment ist der moderne Mensch so ohnmaechtig und so
machtlos wie in dem Moment, in dem er mit einem Unternehmen
ueber ein Callcenter kommunizieren muss. Man kann reich sein,
kann maechtig sein, kann erfolgreich sein, Dinge blitzartig
begreifen, persoenlich ueberzeugend sein, Menschen fuer sich
einnehmen koennen, hyperintelligent sein - alle diese Eigen-
schaften nuetzen bei einem Callcenter nichts, aber auch gar
nichts. Hier wird jeder in die Norm gepresst. Der moderne
Mensch mit seiner ganzen Freiheit und seinen historisch voel-
lig einmaligen Moeglichkeiten - hier muss er von allem Ab-
stand nehmen. Hier ist er nur noch eine Nummer.

Es handelt sich um die voellige Entpersonalisierung der Kom-
munikation. Hier redet man nicht mehr mit einem Menschen,
sondern mit einer Maschine. Teilweise redet man wirklich fak-
tisch mit Maschinen, meistens jedoch mit auf Maschinenfunkti-
on reduzierte Menschen. Die schlimmen Zukunftsraeume von Or-
well und Huxley sind hier bereits Wirklichkeit geworden.

Am gravierendsten ist jedoch der Rueckstau der Gefuehle. Das
klingt erst einmal laecherlich, bietet aber meines Erachtens
sogar ein Verstaendnis selbst fuer die Politikverdrossenheit
der Gegenwart. Beim direkten Kontakt zwischen Menschen kann
man seinem Unmut Luft machen. Schmeckt das Essen in Restau-
rant nicht, kann man des dem Kellner sagen oder sogar den
Chef kommen lassen. Ist man mit dem, was die Autowerkstatt
gemacht hat, nicht zufrieden, hat man dennoch einen persoen-
lichen Ansprechpartner. Das wird zwar objektiv nicht viel
nuetzen, weil auch dieser keine Zugestaendnisse machen wird,
aber subjektiv schon, denn es ist ein menschlicher Kontakt,
so wie die Kontakte zwischen den Menschen seit Hunderttausen-
den von Jahren abgelaufen sind.

Heute hingegen kann man seinem Aerger keine Luft mehr ver-
schaffen. Was soll es, die nette Dame in der Stoerungsstelle
der Telekom anzubruellen? Sie kann doch nichts dafuer! Und
genau hier liegt der Schluessel zum Verstaendnis des allge-
meinen Prinzips. Denn Callcenter sind ja nur eine Auspraegung
der allgemeinen Entwicklung unseres modernen Lebens. Und die-
ses allgemeine Urteil lautet: Heute kann ueberhaupt niemand
mehr etwas dafuer! Niemand kann heute ueberhaupt noch etwas
fuer irgendetwas!

Fuer die Unternehmen ist das eine beinahe geniale Strategie,
den Kundenfrust abzuwimmeln. Natuerlich haette ein Unterneh-
men mit persoenlichen Ansprechpartnern ungeahnte Marktchan-
cen, doch die Gesetze des Marktes sprechen dagegen. Doch auch
bei der Politik ist es nicht anders: Wer traegt beispielswei-
se die Verantwortung dafuer, wenn die Gesundheitsreform jetzt
scheitert? Wem sollte der Buerger bei einem Scheitern das
Vertrauen entziehen? Diese Frage ist nicht zu beantworten.
Durch das Gewusel der Tintenfischarme dringt niemand mehr
durch. Wie bei einem Callcenter. Mit dem Effekt, dass die
Menschen sich ganz zurueckziehen. Wer nicht mit der Telekom
zu tun haben muesste, wuerde sich freiwillig der Bestrafung,
mit dieser zu kommunizieren, auch nicht aussetzen. Und das
ist der entscheidende Unterschied: Der Einzelne braucht das
Telefon zum sozialen Ueberleben. Die Gesellschaft als Ganzes
koennte hingegen darauf verzichten. Bei der Politik ist es
umgekehrt: Die Gesellschaft als Ganzes ist in ihrem Ueberle-
ben an die Politik gekoppelt. Der Einzelne hingegen kann die
Politik abwaehlen. Das jedoch heisst: Wir befinden uns in
hochgefaehrlichem Territorium.


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Alt 21-01-2007, 10:50   #140
621Paul
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Demenzstation Deutschland

von Dr. Bernd Niquet

"Wo finde ich denn bitte die Station 4?" frage ich den
Pfoertner am Eingang.
"Das vierte Reich?" antwortet er mit einem Zwinkern in den
Augen, "diesen Weg dort, immer gerade aus. Dann kommen Sie
direkt zum Schwesternzimmer."
Im Tagesraum sitzt der Praesident der Industrie- und Handels-
kammer in einem Rollwagen, der eher an das Gefaehrt des Paps-
tes als an einen Rollstuhl erinnert. Mit ausladenden Gesten
redet er auf seinen Sohn ein, der neben ihm sitzt: "Ich sage
dir, wir muessen das Land weiter reformieren. Das habe ich
schon immer gesagt, und das werde ich auch weiter sagen."
"Ja Vater, es ist ja gut", beschwichtigt sein Sohn.

Der Praesident der Industrie- und Handelskammer faehrt mit
seinem Rollwagen einen halben Meter zurueck, dreht die Raeder
zur Seite und wirkt kurzzeitig irritiert. "Wo bin ich hier
eigentlich?" fragt er seinen Sohn.
"Du bist im Krankenhaus", luegt dieser ihn an.
"Ach so. Und was habe ich?"
"Nichts Schlimmes. Es ist nur dein Gedaechtnis. Und hier ver-
sucht man deine Medikamente noch etwas besser einzustellen."

"Mein Gedaechtnis ist sehr gut!" entgegnet der Praesident der
Industrie- und Handelskammer und fuegt mechanisch hinzu: "Ich
habe schon immer gesagt, dass wir mit den Reformen weiter
machen muessen. Ich habe das schon immer gesagt, und ich wer-
de es auch weiterhin sagen."
"Ich weiss Vater."
"Na bitte, dann sind wir doch klar, oder?"
"Ja Vater, es ist alles in Ordnung. Wir machen mit den Refor-
men weiter."

In diesem Moment betritt eine Schwester den Raum und wendet
sich an den Sohn des Praesidenten der Industrie- und Handels-
kammer: "Ist Ihr Vater eigentlich Selbstzahler?"
"Natuerlich nicht!" entruestet sich der Sohn.
"Gut", sagt sie, "dann muessen Sie diese Rechnung hier beim
Bezirksamt zur Begleichung einreichen." Und drueckt ihm einen
Umschlag in die Hand.

Der Praesident der Industrie- und Handelskammer hat den Blick
starr geradeaus gerichtet, wird ploetzlich jedoch neugierig.
"Was ist denn das?" fragt er und zeigt auf den Briefumschlag
in den Haenden seines Sohnes.
"Vater, das ist eine Rechnung. Aber das jetzt genau zu
erklaeren, ist sicherlich ein bisschen zu kompliziert. Er-
zaehl mir doch lieber, was es heute zum Mittag gab."

"Ich habe dir schon immer gesagt und werde es dir auch immer
weiter sagen, dass wir mit den Reformen weiter machen mues-
sen", erregt er sich, zeigt nervoes mit der Hand auf die
Rechnung und versucht, aus seinem Rollwagen aufzustehen.
"Ich weiss Vater", entgegnet sein Sohn sichtlich genervt.
"Wir machen ja weiter mit den Reformen. Schon morgen werde
ich die Rechnung beim Bezirksamt zur Begleichung einreichen."

Jetzt kommt eine weitere Schwester in den Raum. Sie haelt
einen winzigen Messbecher in der Hand, in dem sich ein
Schluck einer durchsichtigen Fluessigkeit befindet. "So,
jetzt trinken wir das fein aus", sagt sie und drueckt dem
Praesidenten der Industrie- und Handelskammer den Becher in
die Hand: "Jetzt trinken Sie nur Ihren Reformsaft aus und
danach wird ganz bestimmt alles gut."


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Alt 31-01-2007, 09:42   #141
OMI
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Die Schuld der US-Notenbank?


Von Bernd Niquet

Meine große Privatdiskussion auf der Internationalen Kapitalanleger-Tagung in Zürich in der vergangenen Woche: Darf man tatsächlich der US-Notenbank die Schuld für die Exzesse an den Finanzmärkten zuweisen?

Felix Zulauf berichtet von seinem vielfachen Zusammentreffen mit Alan Greenspan. „Greenspan hatte sehr große Angst vor eine Wiederholung der Deflation in den Dreißiger Jahren“, sagt Zulauf. „Er wusste alles darüber und hat versucht, alles zu tun, um eine Deflation zu verhindern.“

Ich denke, dass Greenspan richtig gehandelt hat. Und ich denke, dass die Probleme, mit denen wir gegenwärtig konfrontiert sind, nichts mit einem Fehlverhalten einer oder mehrerer Notenbanken zu tun haben. Wir leben in einer liberalisierten Geldwirtschaft – und das bedeutet: das Geld regiert die Welt. Doch gesteuert wird das Geld von den großen Vermögen. Sie setzen allen Marktteilnehmern aller Marktwirtschaften den Schwitzkasten an. Den Nationalstaaten, den Arbeitnehmern, den Unternehmen – und auch den Notenbanken. Und freie Märkte tendieren zu Konzentrationsprozessen und Massenverhalten. Das, was wir gegenwärtig erleben, ist damit ein völlig systemimmanentes Geschehen.

Folker Hellmeyer widerspricht mir vehement: „Die Fed hat die Marktmechanismen außer Kraft gesetzt“, sagt er. „Wenn den Finanzmarktteilnehmern die Einsicht verloren geht, dass man bei Fehlverhalten in Konkurs geht, können Märkte nicht funktionieren. Und die Fed hat mit dem „Greenspan Put“ eben genau das getan.“

Ich sehe das Argument, und ich glaube, dass Hellmeyer Recht hat. Und dennoch darf man die Weltwirtschaft nicht in die Talfahrt schicken, um Spekulanten zu bestrafen, denke ich. Greenspan hat deshalb Recht getan.

Ralf Flierl bringt den Vergleich mit der Kindererziehung: „Wenn man einem Kind nicht rechtzeitig „eine Watschen gibt“, dann lernt es nicht, seine Grenzen zu finden.“ Ich erkenne in diesem Plädoyer ein ganz anderes Bild: Die Greenspan-Gegner wollen, dass dann, wenn einzelne Kinder kokeln, zur Strafe das ganze Jugendzentrum abbrennt – mitsamt aller Insassen.

In der Pressekonferenz frage ich Marc Faber, wo denn nun genau Greenspans Fehler lag. Wo war es konkret falsch, gegenzusteuern? Nach 2000? Oder 1998 bei LTCM, Russland- und Asienkrise? Vielleicht gar bereits 1987?

„Tja“, sagt Faber, „so leicht lässt sich das nicht sagen. Deshalb hätte ich auch lieber einen internationalen Goldstandard, in dem das Geld an das Gold gebunden ist und nicht willkürlich von den Notenbanken gedruckt werden kann.“

Erleichtert lehne ich mich zurück. Was für ein Segen, dass sich trotz allgemeiner öffentlicher Verwirrung für die konkrete Geldpolitik immer wieder große Geister gefunden haben – und wir sie nicht den Laien überlassen mussten.


Anregungen oder Kritik bitte an Bernd Niquet.
[30.01.2007 13:41:40]

Quelle: instock
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Schöne Grüße
OMI
OMI ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 22-02-2007, 16:01   #142
OMI
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Ende der alten Regeln


Von Bernd Niquet


Viele Leute wundern sich über den vehementen Anstieg und das enorme Niveau der Aktienkurse in unserem Land und auf der ganzen Welt. Dass es so etwas überhaupt innerhalb einer Generation noch einmal geben konnte. Nach diesem Crash vorher. In Deutschland hatten wir nur wenig vorher einen Abstieg erlebt, der extremer war als in den Jahren 1929 bis 1933. Doch es dauert nur wenige Jahre und wir stehen wieder am Top (wenn wir die Telekommunikation herausrechnen).

Alles sieht danach aus, als ob geschichtliche Regelmäßigkeiten keine Rolle mehr spielen. Die alten Regeln gelten nicht mehr. Allerdings nicht nur an der Börse, sondern überall. Und wer die Börse begreifen will, muss sie stets als in die generelle zeitliche Entwicklung eingeordnet begreifen. Im Juni 2000 habe ich dazu ein Buch mit dem Untertitel „Euphorie und Crash der Technologieaktien im Spiegel des Zeitgeistes“ veröffentlicht (1000 Prozent Gewinn – Euphorie und Crash der Technologieaktien im Spiegel des Zeitgeistes, FinanzBuch Verlag, München 2000). Langsam wird es Zeit für ein weiteres.

Ich mache es einmal mit dem Holzhammer: Was taten Gesellschaften historisch, um ihren Bestand zu sichern? Sie gingen sparsam mit Ressourcen um, waren sparsam, legten in guten Zeiten für schlechte zurück, hielten im Inneren eine stabile Ordnung, beseitigten Kriminelle und töteten ihre Feinde.

Und was machen wir heute? Wir tun in allen Punkten genau das Gegenteil! Und was ist das gemeinsame Moment aller dieser Punkte? Es ist die Zeit! Alle unsere Aktionen sind nicht mehr auf die Bewahrung eines stationären Gleichgewichts gerichtet, sondern auf eine Maximierung der Bedürfnisbefriedigung im Hier und Heute.

Völlig parallel dazu verläuft das Geschehen an den Finanzmärkten. Denn große Vermögen gab es schon immer. Doch wie setzte man früher die großen Vermögen ein? Sie ließen ihre Besitzer zu „Rentiers“ werden. Ein „Rentier“ ist jemand, der seinen Lebensunterhalt aus einer festen Rente erzielt, also aus einem garantierten Zinseinkommen. Das Vermögen wird wirtschaftlich eingesetzt und garantiert einen jährlichen Zins.

Heute hingegen ist aus dem immer wiederkehrenden Zinsstrom ein großes Spiel um die Bestandswerte geworden. Regelmäßige Zinseinkommen genügen niemandem mehr. Heute ist Dynamisierung erforderlich. Es reicht nicht mehr, einen Wechsel auf die Zukunft zu ziehen, der ein fixes Jahreseinkommen garantiert, heute muss der Wechsel selbst noch an Wert zulegen, sonst ist er uninteressant.

Wir legen also alles, was wir haben, auf den großen Spieltisch – und los geht das Spiel. Und da die überwiegende Mehrheit sich einig ist, dass es besser ist, reich als arm zu werden, bringt dieses Spiel – von wenigen temporären Unterbrechungen abgesehen – ganz wunderbare Früchte hervor. Es geht aufwärts und aufwärts in jedem Jahr. Wir steigen in die Lüfte. Wie die Schwefeldüfte. Und kein Ende in Sicht. Ist ja auch niemand drauf erpicht. Doch plötzlich ungeheuer, nein, es ist kein Feuer, sondern etwas völlig Neues.

Doch darauf reimt sich nichts.


Anregungen oder Kritik bitte an Bernd Niquet
Quelle: instock
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Schöne Grüße
OMI
OMI ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 13-05-2007, 09:26   #143
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Erstaunliche Geschehnisse

von Dr. Bernd Niquet

Der hoechste Mann unseres Landes trifft sich mit einem verur-
teilten Terroristen, der nicht gestaendig ist, um sich ein
Urteil ueber dessen Begnadigung zu bilden. Der oberste Mann
unseres Staates trifft sich mit einem Terroristen. Die Frau
ein paar Haeuser weiter hat sieben Kinder grossgezogen. Ihre
Rente ist jetzt spaerlich. Sie wird vom Bundespraesidenten
nicht besucht. Der Bundespraesident trifft sich jedoch offi-
ziell mit einem Terroristen. Was muss dieser Mensch fuer ein
verstuemmeltes Urteilsvermoegen haben, um so eine Entschei-
dung nicht aus sich selbst heraus zu treffen. Und welch ein
kolossaler Verfall der Sitten. Der hoechste Mann im Lande
trifft sich mit einem Terroristen.

Aber natuerlich: Er musste sich mit dem Terroristen treffen,
um denjenigen, die den Terroristen aus dem Gefaengnis haben
wollten, keine zusaetzliche Munition zu geben. Also auch der
oeffentliche Kompromiss ein zunehmender Verfall der Sitten.
Wer wird hofiert in unserem Lande? Die Krawallmacher und die-
jenigen, die Geld haben. Gerade geht es in die letzte Runde
der Abgeltungssteuer. Bald koennte sie beschlossene Sache
sein. Die Abgeltungssteuer bedeutet, dass Kapitalertraege,
egal wo und wie sie anfallen, nach einem pauschalen Abgel-
tungssatz von 25 % besteuert werden. Damit sind die letzten
Reste der Steuergerechtigkeit beseitigt. Die Politik hat sich
vor dem Kapital in den Staub geworfen. Der Praesident trifft
sich mit dem Terroristen, und der Politiker macht den Diener
vor dem grossen Geld.

Doch koennte der Bundespraesident sich durchaus anders ver-
halten, so kann die Politik das gar nicht. Die Globalisierung
mit ihren voellig liberalisierten Kapitalmaerkten und dem
total freien Kapitalverkehr zwingt sie dazu. Was fuer eine
geniale Idee der weltweiten Lobby der grossen Vermoegen, die
Nationalstaaten in eine Konkurrenzsituation zu zwingen, so
dass die Besteuerung der Finanzertraege immer geringer wird.
Wer heute in der Bundesrepublik arbeitet, muss fuer jeden
Euro, den er ueber 52.000 Euro verdient, 42 Prozent Einkom-
mensteuer bezahlen. Wer hingegen von seinen Kapitalertraegen
lebt, muss kuenftig nur noch 25 Prozent zahlen. Und wer ein
international agierendes Unternehmen besitzt, bekommt fast
schon Geld geschenkt dafuer.

Die einzige Kritik, die man an der Abgeltungssteuer hoert,
ist jedoch nicht, dass sie ungerecht sei, sondern ganz im
Gegenteil, dass der Steuersatz zu hoch waere. Es ist ja auch
wahr: Wer ein paar Millionen im Jahr verdient, fuer den macht
es schon einen Unterschied von mehreren Hunderttausenden, ob
die Abgeltungssteuer bei 25 Prozent oder nur bei 20 Prozent
liegt. Notfalls geht er eben nach Luxemburg oder nach Belgien
oder sonst wo hin, wenn man ihn nicht ausreichend hofiert.
Der Bundespraesident geht ja auch zu Terroristen. Warum soll
da der Vermoegende nicht nach Luxemburg gehen?

Aber wenigstens geht es hier um bewusste Entscheidungen. Die
wirklichen Verbrechen sehen anders aus. Junge Maedchen in
Koffer zu sperren und sie dann bei lebendigem Leib zu
verbrennen. Oder das, was der beruehmte Spekulant Jim Rogers
mit seiner Tochter macht. Sie ist vier Jahre alt und muss
bereits chinesisch sprechen. Um spaeter einmal bessere Chan-
cen zu haben. Fernsehen schauen wie andere Kinder darf sie
nicht. Nur chinesische DVD´s sind ihr erlaubt. Eine normale
Kindheit wird sie nicht haben. Eigene Entscheidungen darf sie
nicht treffen. Von anderen Kindern wird sie stets getrennt
sein. Selbst und gerade dann, wenn sie ihren Vater spaeter
einmal aus dem Weg geschafft hat.


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Alt 20-06-2007, 13:42   #144
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Crash, Notenbanken und Liquidität


Von Bernd Niquet

Die Situation an den Welt-Aktienmärkten ist wirklich nicht ohne Brisanz. Ich gebe zu, solchen Chart wie den des Dax vorher noch nie gesehen zu haben, nicht einmal im letzten Emerging-Market. Erst senkrecht bergauf, dann senkrecht bergab, dann wieder senkrecht bergauf. Und das, obwohl sich in der Weltpolitik und der Wirtschaft nur wenig getan hat. Da sage wirklich noch einer, Märkte wären rational. Märkte sind vielmehr genauso verrückt wie die Menschen.

Und hier liegt exakt das Problem. Denn die Menschen sind sich ihrer Verrücktheit nur selten bewusst - und versuchen vielmehr, stets neue rationale Begründung für das verrückte Geschehen heranzuziehen und zu erfinden. Zwei von ihnen möchte ich heute behandeln. Es sind zwei ganz wichtige, nämlich die beiden Begründungen, die stets dahingehend angeführt werden, dass ein möglicher Crash nicht gravierend wäre beziehungsweise gar nicht kommen könne.

"Angenommen, die Börsen fallen um 20 oder sogar nur um 10 Prozent, dann werden die Zentralbanken natürlich fleißig Geld drucken, um Liquidität zu schaffen, durch die dann die gefallenen Vermögenswerte wieder steigen werden", sagt beispielsweise Marc Faber. Und die andere - und damit sehr verwandte - Interpretation lautet, dass weiterhin viele Milliarden auf Anlage warten und daher den Märkten kaum Gefahr drohe.

An dieser Stelle muss man zwei Dinge klar auseinander halten und so kategorisch voneinander trennen, dass man niemals - und wirklich niemals - die beiden miteinander vermischt. Auf der einen Seite müssen wir die Einschätzungen der Anleger betrachten, also deren Erwartungen und deren Psychologie. Hier kann es tatsächlich sein, dass beide sich positiv darstellen und den Märkten aus diesem Grunde wenig Gefahr droht. Das ist möglich, doch hierüber kann man keine verlässliche Aussagen treffen, da Zukunftserwartungen und Psychologie sich weder objektiv ergründen noch quantifizieren können. Hierüber kann man folglich nur spekulieren.

Und auf der anderen Seite stehen die Dinge, über die man sehr wohl exakte quantitative und verlässliche Aussagen treffen kann - wie über die Notenbank, die Geldmenge und das liquide Vermögen - doch daraus kann und darf man keinerlei Folgerungen ziehen! Das ist der wichtigste Satz über die Börse überhaupt!

Warum ist das so? Natürlich können Notenbanken Aktienmärkte stabilisieren. Das haben wir schon oft gesehen, teilweise wissend und teilweise sicher auch unwissend. Doch das hat nichts mit umlaufendem oder geschaffenem Geld zu tun, sondern mit Marktteilnehmern, die Aktien aufnehmen und keiner Budgetrestriktion unterliegen, weil sie entweder selbst eine Notenbank sind oder aber von der Notenbank von möglichen Verlusten freigestellt werden. Wenn die Notenbank selbst kauft oder beispielsweise Goldman Sachs auffordert, zu kaufen, und verspricht, sie von Verlusten freizustellen, dann ist es dieser Akt und nicht die Schaffung des Geldes, welches die Kurse stabilisiert. Der Unterschied mag jetzt zwar marginal vorkommen, doch er ist entscheidend, denn er zieht dem zweiten Argument den Boden unter den Füßen weg.

Der Hinweis auf Geld, das Anlage sucht, ist ein sinnloser Hinweis und nichts anderes als irritierend für die rasende Masse. Nehmen wir einmal an, die reichsten Männer der Welt böten plötzlich für alle Aktien dieser Welt den doppelten Preis - und bekämen dafür alle Aktien. Dann hätten sich die Märkte verdoppelt, doch das Geld selbst hätte sich nicht um einen Euro oder einen Dollar verändert. Es wäre nur von den Konten der Käufer auf diejenigen der Verkäufer gewechselt. Die Menge anlagesuchenden Geldes wäre damit trotz verdoppelter Kurse genauso hoch wie vorher.

Erinnert sich jemand noch an die Jahre 2000 bis 2003? Der Dax-Crash dieser Jahre war schlimmer als der Crash der deutschen Aktien von 1929 bis 1933. Und trotzdem hat sich die Geldmenge und die damit die Menge "anlagesuchenden" Kapitals in dieser Zeit nicht vermindert, sondern erhöht. Es hat nur niemand davon gesprochen. Aber so ist es halt mit den Argumenten an der Börse, sie werden immer nur dann hervorgeholt, wenn sie passen. Das ist an der Börse nicht anders als im normalen Leben oder im Irrenhaus.


Anregungen oder Kritik bitte an Bernd Niquet
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Schöne Grüße
OMI
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Alt 22-07-2007, 13:32   #145
621Paul
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Die Verbitterung ueber unseren Staat

von Dr. Bernd Niquet

Auch an diesem Morgen hat die Mutter ihre Kinder in die Schu-
le gebracht. Im Park neben der Schule sind die Drogenhaendler
bereits wach. Zwei Polizisten kommen vorbei, und es ergibt
sich ein kurzes Gespraech. Schon ueber zwanzig Mal haben die
Polizisten die Drogenhaendler – teilweise unter Gefaehrdung
der eigenen Person und der eigenen Gesundheit – festgenommen.
Doch exakt genauso oft, naemlich ueber zwanzig Mal, sind sie
von der Justiz anschliessend sofort wieder auf freien Fuss
gesetzt worden. Die Verbitterung und Verzweiflung ist
verstaendlicherweise gross. Irgendetwas hat sich veraendert.
Frueher war das nicht so.

Anschliessend faehrt die Frau ihren Vater im Pflegeheim besu-
chen. Alle zwei Tage geht sie dort vorbei, denn ihr Vater hat
Alzheimer und niemand weiss, wie lange er sie noch erkennt.
Der Pfoertner wartet bereits und drueckt ihr einen dicken
Briefumschlag mit Arztrechnungen in die Hand. So ist das je-
des Mal. Fuer jede Stunde, die die Frau bei ihrem Vater ist,
muss sie in etwa die gleiche Zeit aufwenden, um den Papier-
krieg mit den Aerzten und der Krankenkasse abzuwickeln. Ir-
gendetwas hat sich veraendert. Frueher war das nicht so.

Vor kurzem ist entschieden worden, dass die Frau zur gesetz-
lichen Betreuerin ihres Vaters ernannt wird. Damit darf sie
seine Rechte gegenueber Aerzten, Krankenhaeusern, dem Pflege-
heim und den Behoerden vertreten. Wirksam wird das allerdings
nur, wenn sie dem Gericht eine lueckenlose Vermoegensaufstel-
lung ihres Vaters vorlegt. Das bedeutet, von drei Banken und
zwei Fondsgesellschaften auf den Stichtag terminierte Be-
scheinigungen anzufordern, die Kosten zu tragen, sowie andere
Wertgegenstaende aufzulisten und notariell beglaubigen zu
lassen. Auch hierfuer sind die Kosten zu tragen. Doch was
geht das Gericht das eigentlich an? Irgendetwas hat sich ver-
aendert. Frueher war das nicht so.

Die Frau weigert sich, diesen Dingen nachzukommen. Dem Rich-
ter gegenueber gibt sie an, sich persoenlich dafuer zu ver-
buergen, dass ihre Angaben korrekt sind. Aber sie will keinen
Notar und keine kostenpflichtigen Vermoegensaufstellungen.
Der Richter erklaert daraufhin schriftlich, dass in diesem
Falle das Gericht einen anderen Betreuer bestellen wuerde, um
sich um die Vermoegensfragen ihres Vaters zu kuemmern. Ir-
gendetwas hat sich veraendert. Frueher war das nicht so. Die
Drogenhaendler werden freigelassen, und am normalen Buerger
wird der Kontrollzwang ausgelebt.

Als die Frau nach Hause kommt, ruft sie beim Finanzamt an.
Den letzten Einkommensteuerbescheid hatte sie nur kurz durch-
geschaut und dann weggelegt, weil es wichtiger war, sich um
ihren Vater zu kuemmern. Jetzt hat sie gesehen, dass ihre
Werbungsausgaben nicht anerkannt worden sind, obwohl sie sie
korrekt angegeben hat. Leider jedoch sei der Termin fuer ei-
nen Einspruch bereits vergangen, sagt die Dame aus dem Fi-
nanzamt. Ja, sagt unsere Frau, aber sie wolle ja jetzt nicht
nachtraeglich etwas einreichen, sondern das, worum es gehe,
stehe ja von Anfang an klar auf dem Papier. Trotzdem, beharrt
die Finanzbeamtin. Resigniert beendet unsere Frau das Telefo-
nat. Natuerlich muss es Fristen geben, aber ist das nicht
irgendwie Betrug? Das Finanzamt hat einen Fehler gemacht,
doch es muss diesen Fehler nicht korrigieren, weil der Buer-
ger es erst spaeter als einen Monat gemerkt hat?

Irgendetwas hat sich veraendert. Frueher war das nicht so.
Und unsere Frau spuert ein Gefuehl, das vielleicht ungerecht
ist, aber es ist ein vehement starkes Gefuehl, dass es sich
kaum noch unterdruecken laesst: Wenn schon sie selbst, der es
doch eigentlich rundherum sehr gut geht, so einen Hass auf
diesen Staat hat, was soll dann eigentlich mit all den ande-
ren sein, die hier leben und denen es nicht so gut geht wie
ihr selbst?

++++++

Bernd Niquet ist Boersenkolumnist und Buchautor.
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Alt 08-06-2008, 15:00   #146
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Gefühlte Wirtschaftsdaten

von Dr. Bernd Niquet

Was für ein Wetter ist das im Moment. Der Westen versinkt im
Gewitterregen, während es sich bei uns im Osten anfühlt wie
in der Sahara. Die Hitze staut sich wie im Hochsommer, und
der Rasen wird zur staubigen Steppe. ?So viel wie in diesem
Jahr habe ich in meinem ganzen Berufsleben noch nicht gegossen?,
sagt der alte Friedhofsgärtner. Und man nimmt ihm das durch-
aus ab.

Jetzt ein kühles Bier. Unter 3,50 Euro ist der halbe Liter
allerdings heute an guten Orten nicht mehr zu bekommen. Drei-
fuffzig, das klingt jedoch nicht viel. Doch das sind sieben
Mark. Und die Pizza dazu kostet einen Zehner. Das sind zwanzig
Mark. Hätten wir heute noch die D-Mark, würde sich niemand
trauen, diese Preise zu nehmen, da bin ich ganz sicher.
Sieben Mark für ein Bier, so viel kostete es nicht mal im
Kempi oder im Edel-Puff. Doch mittlerweile ist ja die ganze
Republik so geworden.

Die gefühlten Preise sind also nicht hoch ? und trotzdem sind
die Leute Pleite wie noch nie zuvor seit dem Krieg. Die Preise
fühlen sich niedrig an, weil die Menschen in ihrem Bezugssystem
weiterhin auf DM-Preise geeicht sind, doch in Wirklichkeit sind
sie so hoch, dass sie die Menschen in großer Zahl in den Ab-
grund treiben.

Das Phänomen des Unterschieds zwischen den objektiven Daten und
der subjektiven Wahrnehmung, also den gefühlten Werten, ist ein
weithin bekanntes Thema. Doch normalerweise läuft es anders
herum. Da kommt es zu einer Überschätzung und nicht zu einer
Unterschätzung, wie beispielsweise beim Wetter, wenn es sich
durch Wind wesentlich kälter anfühlt als es eigentlich ist. Auch
sei das so bei der Inflation, sagen die Statistiker. Die gefühlte
Inflation liege über der wirklichen. Doch jeder Mensch, der
noch recht bei Verstand ist, weiß, dass das nicht stimmt.

Andere gefühlte Zahlen habe ich in dieser Woche so mitbekommen,
frisch zur bald anbrechenden Reisezeit: 42 Prozent der Deutschen
fühlen sich im Auto am sichersten von allen Verkehrsmitteln. Nur
knapp 25 Prozent haben dieses Gefühl in der Bahn und gerade einmal
16 Prozent im Flugzeug. Die objektiven Zahlen hingegen lauten:
Europaweit starben im Jahr 2005 bei Bahnunfällen 62 Menschen, bei
Flugzeugunfällen 135, im Auto jedoch 5.361. Und selbst für den
Kilometer zurückgelegte Wegstrecke verändern sich die Zahlen kaum:
Je Milliarde zurückgelegter Personenkilometer starben 2005 im
Schnitt 0,2 Bahnpassagiere, 0,4 Fluggäste, aber immerhin
6 Autoinsassen.

Auch in diesem Bereich scheint sich also der Mensch, der recht bei
Verstand ist, in der Minderheit zu befinden. Kann man daraus viel-
leicht sogar ein allgemeines Gesetz ableiten? So, wie an der Börse,
in der ja auch die Mehrheit stets falsch zu liegen scheint? Darüber
sollte man einmal nachdenken, abends, wenn es im Biergarten etwas
kühler wird. Bei einem schönen Halben für dreifuffzig. Denn ob
man nun ein Bier für 3,50 oder ein Mineralwasser für 3 Euro trinkt,
man zumindest finanziell auch keinen Unterschied mehr. Auf jeden Fall:
Schöne Wochenendgrüße in die Regengebiete sollte man keinesfalls
vergessen.
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Alt 07-09-2008, 16:34   #147
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Sind Maerkte tatsaechlich irrational?

von Dr. Bernd Niquet

Neulich schrieb mir ein Leser, die Kurse an den Maerkten be-
faenden sich derzeit auf einem laecherlichen Niveau. Darauf-
hin fragte ich zurueck, was er denn konkret damit meine,
laecherlich hoch oder laecherlich niedrig?

Als Antwort bekam ich die folgende Liste: Standardaktien USA:
grotesk hoch, Standardaktien EUR: zu hoch, Rohstoffaktien:
deutlich unterbewertet, Edelmetalle: viel zu niedrig, Leit-
zinsen USA: zu niedrig, Leitzinsen EUR: zu hoch, Langfrist-
zinsen weltweit: grotesk zu niedrig, USD: grotesk ueberbewer-
tet.

Das ist wie ein Blick in ein Gehirn, denke ich. Auch ohne
diesen Menschen naeher zu denken, kann ich jetzt genau sagen,
wie er denkt, woran er glaubt und was er befuerchtet. Doch
mir geht noch etwas anderes dabei im Kopf herum: Anscheinend
glauben wir heute alle, klueger als der Markt zu sein.

Nach der Effizienzmarkttheorie bringt der Markt stets die
vorhandenen Informationen in bestmoeglicher Weise hervor, und
niemand kann prinzipiell klueger als der Markt sein. Darueber
mag man anlaesslich vielfach zu beobachtender Marktkapriolen
schmunzeln und daran mag man auch zweifeln. Doch niemand
sollte vergessen, dass hier die Wurzeln unserer gesamten
Wirtschaftsverfassung und Demokratie liegen! Ziel jeder frei-
en Wirtschaftsverfassung ist es naemlich, die dezentral ver-
streuten Informationen sich in optimaler Weise ueber einen
Abstimmungsprozess (=Markt) buendeln zu lassen.

Dahinter steht der Glaube, dass das Ergebnis dieses Prozesses
jeder Einzelmeinung ueberlegen ist. Doch was fuer ein merk-
wuerdiger Befund, dass wir das zwar so entschieden haben und
dies auch immer wieder vertreten, es jedoch anscheinend
selbst nicht glauben. Weil wir uns ueberlegen fuehlen. Und
ich schliesse mich keinesfalls aus, schliesslich gehe auch
stets davon aus, dass viele Dinge entweder ueber- oder unter-
bewertet sind - und es von daher lukrativ ist, sie zu kaufen
oder zu verkaufen.

Doch ist es eigentlich legitim, das zu tun? Je laenger ich
darueber nachdenke, desto ehe tendiere ich dazu, diese Frage
zu verneinen. Natuerlich koennen wir stets versuchen, die
Wahrnehmung der Millionen von Haendler und Marktteilnehmer zu
hinterfragen, die sie dazu treiben, die Kurse so festzuset-
zen, wie sie sie gerade festsetzen. Doch erinnert das nicht
eher an den Witz vom Insassen in der Psychiatrie, der sich
selbst fuer den Pfleger und den Pfleger fuer den Insassen
haelt?

Kann es nicht vielleicht wirklich sein, dass der Verlauf der
Maerkte in der gegenwaertigen Finanzkrise gar noch so irrati-
onal ist. Zuerst hat man nicht an die Groessenordnung der
Kalamitaeten geglaubt. Menschen sind jedoch so. Natuerlich
waren einige schlauer. Doch was ist eigentlich mit denjeni-
gen, die in den Jahren 2000 bis 2003 dem Dax den groessten
Verlust in seiner Geschichte beschwert haben, einen Verlust,
der sich groesser zeigte als sogar derjenige in den Schick-
salsjahren von 1929 bis 1933? Da waren anscheinend auch viele
vermeintlich "schlauer". Doch deren Schlauheit hat sich im
Endeffekt als Dummheit heraus gestellt.

Maerkte bilden also - im Unterschied zur konventionellen
Weisheit - niemals die Faktenlage ab, sondern stets und immer
den Glauben von Menschen. Und wenn Menschen an Untergang
glauben, dann ist Untergang. Das ist rational. Ich akzeptiere
daher den heftigen Kursrutsch zum Ende dieser Woche. Die Men-
schen glauben jetzt an Schlimmeres. Und ich akzeptiere diese
Weisheit.

Doch ob es sich nun um eine Ueber- oder Unterbewertung han-
delt, darueber akzeptiere ich, keine Aussage machen zu koen-
nen. Denn dazu muesste ich ja glauben, dass der Markt die
Fakten abbildet, was jedoch nicht der Fall ist. Das Einzige,
was ich also gegenwaertig recht sicher weiss, ist, dass Men-
schen gemeinhin recht schnell wieder die Lust am Untergang
verlieren. Und dass man wirtschaftliche Untergaenge an den
Finanzmaerkten zwar antizipieren, aber niemals direkt herbei
fuehren kann.
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Alt 21-09-2008, 17:54   #148
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Teufelskerle

von Dr. Bernd Niquet

Die abgelaufene Woche hat es wirklich in sich gehabt. Und sie
ist noch nicht ganz zu Ende als ich diese Kolumne schreibe.
Viele neue Risiken sind aufgetreten, aber wohl auch viele
Chancen, denn kein deutscher Anleger darf vergessen, dass es
nur noch in diesem Jahr moeglich ist, sich fuer die eigene
Alterssicherung ein auf Lebenszeit steuerfreies Portfolio
zusammen zu stellen. Ich selbst habe einiges gekauft und
darueber hinaus die Marktturbulenzen zum Anlass genommen,
meine Satellitenprogramme im Fernseher neu einzustellen, wo-
mit ich ab sofort auch wieder CNBC sehen kann.

Und ich muss sagen: Diese Amis sind wirklich Teufelskerle.
Das merkt man erst, wenn man lange mit ihnen keinen Kontakt
gehabt hat - so wie ich. Und wenn man deshalb voellig auf die
europaeischen Eiertaenze geeicht ist. Und wie muss es erst
sein, denke ich, wenn man aus den totalitaeren Gesellschaften
des Ostens kommt. Denn mit welcher Offenheit diese Marktge-
sellschaft ihre Situation und Probleme kommuniziert, ist
wirklich einmalig. Hier regiert die Pluralitaet der Meinun-
gen, im Markt, aber auch in den Gespraechen ueber den Markt.
Hier kann jeder sagen und machen, was er fuer richtig haelt.
Und deswegen haben die meisten auch eine erstaunliche Kompe-
tenz.

Bei uns wird ja gegenwaertig ueberall die These vom Untergang
der US-Fuehrungsmacht herum gereicht. Doch das ist weit ge-
fehlt! Trotz der heftigen Krise, die die USA gegenwaertig
erleiden. Jedenfalls werden die geschlossenen Gesellschaften
Chinas, des sonstigen Ostens oder auch Europas kaum eine
Chance haben, diesem Fuehrungsmodell etwas entgegen zu set-
zen. Da bin ich sehr sicher.

Und dann auch noch dieser eklatante Unterschied im oekonomi-
schen Wissen. Machen Sie einmal den Test: Schauen Sie die
Tagesschau und ntv, lesen Sie "Der Spiegel" und "Die Welt" -
und dann schalten Sie auf CNBC. Der Unterschied macht nicht
nur Welten aus, es ist regelrecht ein Universum, was uns hier
trennt. Ich denke, in ganz Europa gibt es nicht mehr Oekono-
mieverstaendige als alleine im Umkreis von CNBC existieren.
Leider jedoch arbeitet bei uns niemand davon im Bereich der
Medien.

Wenn hierzulande beispielsweise immer zu lesen ist, dass die
Zentralbanken "Geld in das System pumpen", dann ist das eine
Kindervorstellung und trifft den Sachverhalt keineswegs.
Ueberall diese Vorstellung von Pumpen, als ob wir alle noch
Vorschueler waeren. Bei CNBC hingegen redet man ganz normal
von "the Fed is expanding their balance sheets". Das ist kor-
rekt. Die Fed verlaengert ihre Bilanz. Sie nimmt temporaer
illiquide Papiere in ihr Portfolio und gibt dafuer Geld. Und
genau das ist ihre Aufgabe. Doch mit Pumpen hat das gar
nichts zu tun.

Die entscheidende Differenzierung muss zudem gemacht werden
zwischen Ueberschuldungs- und Liquiditaetsproblemen. Sind die
angeschlagenen Banken ueberschuldet oder haben sie "nur" ein
Liquiditaetsproblem? Das ist die entscheidende Frage. Doch
einem deutschen Wirtschaftsjournalisten diesen Unterschied
klar machen zu wollen, ist sicherlich vergeblich. Er hat sei-
ne Pumpen im Kopf und dabei wird es bleiben.

Was fuer Teufelskerle dagegen diese Amis sind. Mitten in der
Krise wird ploetzlich vom Prinzip abgegangen, die angeschla-
genen Multis zu retten. Und dann versagt die Fed auch noch
die Zinssenkung. Das ist todesmutig und gleichzeitig weise.
Denn die Fed stellt sicher, jeglicher Illiquiditaet stets
entgegen zu wirken, aber keine Zinssubventionen zu gewaehren.
Doch das versteht man hierzulande natuerlich nicht.

Wer also wirklich etwas begreifen und weiterkommen will, muss
auch weiterhin nach Amerika. Zum Glueck reicht dafuer heutzu-
tage in vielen Faellen eine intakte Satellitenschuessel.
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Alt 26-10-2008, 18:51   #149
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Wer ist Schuld an der Krise?

von Dr. Bernd Niquet

Hat man nicht seit Ewigkeiten immer auf die Politik ge-
schimpft? Dass sie nichts zuwege bringt? In Normalzeiten ist
das sicherlich wirklich oft der Fall. Doch jetzt, in den ex-
tremen Zeiten der Finanzkrise, hat die Politik wirklich her-
vorragend reagiert. Ich bin erneut an die Zeit nach dem Mau-
erfall erinnert. Auch damals gelang es, die Herausforderung
der Geschichte in einzigartiger Weise zu bewaeltigen.

Entsetzlich finde ich nur die Medien, nicht die Politik. Die
Politik glaenzt, doch die Medien suhlen sich im Dreck. Hier
sehnt man den Tumult in der Welt stets von Neuem herbei.
Koennte man den Untergang herbeischreiben, wuerde man es so-
fort tun. Alle Schlagzeilen sind heute tendenzioes. Die Mana-
ger sind Verbrecher, die Wirtschaft wird abstuerzen und die
Aktien werden auf null sinken.

Aber wer hat nun wirklich die Krise herbei gefuehrt? Die Ban-
ken haetten in unverantwortlicher Weise Kredite vergeben an
Menschen, die eigentlich gar nicht kreditwuerdig waren, erre-
gen sich jetzt alle diejenigen, die vorher die Banken stets
fuer das Gegenteil kritisiert haben, naemlich aufgrund re-
striktiver Kreditvergabe die Wirtschaft zu behindern.

Und dann diese Risikopapiere. Da spulen sich in den Internet-
foren gruene Jungs auf, die einen intensiveren Derivatehandel
als Geschlechtsverkehr absolvieren, was die Banken hier alles
emittiert haetten. Doch waere das denn alles gegangen, wenn
die Nachfrage (gerade von ihnen selbst) nicht so immens gross
gewesen waere?

Die fuer mich umfassendste und beste Erklaerung finde ich in
dem, was ich vom Deutschen Soziologenkongress lese, der die-
ser Tage in Jena stattgefunden hat: Nicht unersaettliche
Manager waren die Hauptverantwortlichen der Krise, heisst es
da, sondern es ist eine Krise der Mittelschicht. Und das
gleich auf vielen verschiedenen Ebenen:

Die Ueberhitzung des US-Immobilienmarktes sei keinesfalls das
Resultat einer fatalen Politik des billigen Geldes oder der
angelsaechsischen Eigenheimideologie. Vielmehr haette die US-
Mittelschicht kaum anders gekonnt als sich fuer Haeuser in
guten Gegenden zu ueberschulden. Denn nur in jenen Gegenden
seien die Schulen so, dass auch die Kinder dieser Leute noch
die Chancen auf ein Leben nach Art ihrer Eltern haben. Und
weil der oeffentliche Sektor in den USA fuer die Weitergabe
des Mittelschichtstatus wenig leistet, mussten die Leute es
auf eigene Faust auf den Immobilien- und somit Kreditmaerkten
versuchen.

Und hier wird das Bindeglied zu einer weiteren Ebene deut-
lich, denn was der Staat hier nicht hergab, das mussten eben
die Finanzmaerkte hergeben. Was sie im Endeffekt jedoch eben-
so wenig getan haben.

Und bei uns ist das ja auch nicht anders. Die umlagenfinan-
zierte Rente, so hat man immer wieder gesagt, sei eine Fehl-
konzeption. Und hat ganz auf das Ansparmodell und die Kapi-
talbildung gesetzt. Hat die Menschen kalt in voellig ueber-
hoehte Renditevorstellungen entlassen. Ploetzlich sollte die
Eigenvorsorge alles sein. Jeder Eigenvorsorger war damit auf
einmal ein kleiner Koenig, der den Maerkten seine Renditevor-
stellung in der gleichen Weise vorgab, wie Josef Ackermann es
bei seinem Unternehmen tat.

Und jetzt muss der Staat sie alle wieder heraushauen. Der
ungeliebte und gehasste Staat muss es jetzt machen. Ein
Glueck, dass wir ihn haben. Und wir sollten alle gemeinsam
auf die Knie fallen und dem Himmel danken, wie gut unsere
Demokratie in Krisenzeiten funktioniert. Denn wenn die Fi-
nanzkrise etwas lehrt, dann das.


++++++

Bernd Niquet ist Boersenkolumnist und Buchautor.

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Alt 03-11-2008, 15:41   #150
621Paul
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12:03 03.11.08


Noch mehr schockiert als über die Finanzkrise bin ich über das, was über die Finanzkrise so alles gesagt und geschrieben wird. Und vor allem über das, was nicht gesagt und nicht geschrieben wird.



Warum beispielsweise lese ich nirgendwo das Wort „Liquiditätsfalle“? In der Japan-Krise hat noch jeder pubertierende Ökonom darüber lamentiert. Doch da gab es so etwas gar nicht. Denn die Liquidität wurde schließlich nicht von den Japanern gehalten, sondern im Wege der Carrytrades in den Rest der Welt exportiert.



Jetzt jedoch haben wir eine klassische Liquiditätsfalle. Die Geldmengen in den westlichen Industrieländern explodieren regelrecht. Man schaue nur auf die Geldbasis in den USA, die sich binnen weniger Monate schlichtweg verdoppelt (!) hat. Doch parallel dazu müssen Nationalstaaten wie Österreich und Spanien die Auktionen ihrer Staatsanleihen absagen, weil keine Nachfrage da ist.



Daher jedoch von der Möglichkeit von Staatspleiten zu reden, ist unverantwortlich und unsäglich dumm. Die Anleihen der großen Staaten stehen so hoch – und die Renditen sind spiegelbildlich so niedrig – wie beinahe noch nie in der Geschichte. Da ist nichts von einem Vertrauensverlust, ganz im Gegenteil. Denn warum sind die „Spreads“ der Anleihen der Industrie und der Finanzinstitute so hoch? Genau, auch deswegen, weil die Renditen der Staatsbonds so niedrig stehen.



Wir befinden uns in der klassischen Liquiditätsfalle. Niemals in der Neuzeit war sie so exemplarisch zu besichtigen. Die Geldmengen werden extrem ausgedehnt, doch das Geld wird nicht an den Märkten angelegt, sondern gehalten. Keynes hat die Liquiditätsfall bereits 1936 in seiner „General Theory“ ausführlich thematisiert. Im Vergleich zu den Dreißiger Jahren sind wir jedoch in einer ungleich besseren Situation. Denn damals gelang es nicht, die allgemeinen Zinssätze zu senken, so dass die Wirtschaft ins Trudeln kam. Heute hingegen befinden sich die Zinsen fast auf einem Allzeittief.



Jeder Vergleich der gegenwärtigen Krise mit der Weltwirtschaftskrise der Dreißiger Jahre ist daher ebenso dumm und dreist wie das Gerede von den Staatspleiten. Mögen diejenigen, die das machen, doch nur einmal ein einziges Buch über die damalige Zeit zur Hand nehmen. Dann würden sie sehen, dass sich damals der Welthandel von 1929 bis 1933 mehr als gedrittelt (!) hat. Heute reden wir um Rückgänge der Zuwachsraten (!) von zwei Dritteln – und damals wurde tatsächlich um zwei Drittel geschrumpft. (Das wäre heute unvorstellbar. Dann müsste, um die Proportion zu den bisherigen Entwicklungen zu halten, der Dax auf etwa minus 50.000 Punkte fallen.)



Das möge sich also tatsächlich jeder einmal selbst ausmalen, ein Schrumpfen um zwei Drittel! Doch so etwas passiert natürlich nicht. Dafür schreiben dann Journalisten selbst renommierter Zeitungen und Magazine, wenn sie hören, dass irgendein chinesischer Importeur einem Reeder mitteilt, ein Schiff könne bereits auf hoher See umkehren, weil er die Waren nicht abnehmen würde, von derartigen Vergleichen.



Die Menschheit ist wirklich ein Wunder. Man kann immer nur von Neuem staunen, dass wir mit diesem ungenügenden Material überhaupt so weit gekommen sind.





Mit den besten Grüßen!



Bernd Niquet





berndniquet@t-online.de
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