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Alt 17-07-2005, 10:59   #91
621Paul
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Europa im Sommer

Von Dr. Bernd Niquet

Von allem befreit ein paar Tage an der Kueste. Fuer Politik
muss man sich nicht mehr interessieren. Es weiss zwar noch
niemand, ob es Neuwahlen gibt, aber jeder weiss, wie diese
ausgehen werden. Doch es ist voellig einerlei. Die Neue Re-
gierung macht das Gleiche wie die alte, egal welche es ist.
Dieses Einerlei befreit. Auch an die Boerse muss man nicht
denken. Sie steigt mit schoener Regelmaessigkeit weiter in
die Hoehe. Der Triumph der Finanzen ueber die Politik koennte
nicht ueberzeugender ausfallen. Wer jetzt keine Aktien hat,
wird lange keine haben.

In der Wirtschaft weitet sich die Regentschaft des Hamster-
rades aus. Wer nicht Ferien macht, muss strampeln, um sein
Leben strampeln. In Holland ist ein ganzes Land "te huur" und
"te koop". Verhuren und auf den Kopf hauen? Nein, zu mieten
und zu kaufen. Ausdruck wirtschaftlicher Schwaeche oder von
Ueberspekulation im Immobilienmarkt?

Am Meer ist es erstaunlich leer. Auch ein Anzeichen wirt-
schaftlicher Schwaeche - oder sind die Menschen alle in der
Karibik? Normale Ferien gibt es nicht mehr. Es muss rund um
die Uhr getrunken, gegessen und sich amuesiert werden. Das
Hamsterrad muss laufen - volle Geschwindigkeit voraus. Der
ganze Strand ist gesaeumt von Restaurant-Buden. Doch das
reicht nicht: Bei Ebbe fahren von Treckern gezogene Verkaufs-
wagen den Strand entlang, halten, es wird die Glocke geschla-
gen: Noch ein wenig Appetit? Geht noch ein wenig Lust hinein?
Noch ein Beduerfnis unbefriedigt?

Wer kein Eis oder Fischbroetchen in der Hand hat, der haelt
ein Segel zum Surfen. Die anderen fliegen oder reiten auf der
Banane. Die schoenen Jahre gehen so schnell vorbei.

Die Jugend wirkt gelangweilt, luemmelt sich auf Stuehlen und
Liegen, ist jedoch ausgesprochen hoeflich. Der Protest als
Attituede, im tiefsten Inneren eine formbare Masse. Das Handy
als Minifest der persoenlichen Freiheit.

Waechst Europa zusammen? Waechst die westliche Welt zusammen?
Amerikaner reden doppelt so laut wie Europaeer. Die meisten
wirken wie grosse Kinder. Wie lange werden sie noch das Sagen
haben? Die Hollaender haben die europaeische Verfassung abge-
lehnt. Wer in Amsterdam auf dem Fahrplan nach Zuegen sucht,
die die Landesgrenzen ueberschreiten, ist auf einen Extra-
Plan verwiesen. "Internationale Zuege" steht da, es ist nicht
mehr als eine Hand voll. Erstaunlich fuer ein Land im Zentrum
Europas. An der Grenze muss der Zug die Lok wechseln wie auf
dem Weg nach Moskau. Die Spurbreite stimmt zwar ueberein,
doch die Stromsysteme sind verschieden.

Man kann sich ueber alles aufregen und muss dies dennoch
ueber nichts. Es ist wie eine riesige Kaeseglocke, die ueber
uns allen haengt. Die grossen Konflikte liegen lange hinter
uns. Oder ist schlichtweg einfach Sommer? Wohl dem, der we-
nigstens im Sommer keine anderen und wirklich brennenden Sor-
gen hat. Und selbst wenn es brennt - in 999.999 von einer
Millionen Faellen brennt es bei jemand anderem und nicht bei
einem selbst. Dann kann man sich schon gruseln vor dem Fern-
seher - und denkt: Wie gut es uns doch geht.

Doch dann guckt man hinunter: Der Bauch ist zu dick, die
Fuesse geschwollen, die Braeune nicht ueberzeugend. Kann man
mit dem eigenen Urlaub bestehen? Muss man nicht eigentlich
unzufrieden sein? Aber bald ist Herbst, da ist man es so-
wieso.


++++++

Bernd Niquet ist Boersenkolumnist und Buchautor.
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Wenn viele Anleger dasselbe glauben, dann muss dies noch lange nicht bedeuten, dass es stimmt oder wahrscheinlich ist. Das Gegenteil ist oft der Fall.
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Alt 24-07-2005, 08:23   #92
621Paul
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Angela Merkels Brezel-Strategie

Von Dr. Bernd Niquet

Am Sonntagnachmittag kehre ich mit dem Fahrrad von einer
schweren Bergetappe zurueck und fahre die kleine Strasse am
See entlang. Auf dem Fussweg kommt mir eine Frau entgegen.
Schon von weitem sehe ich, dass sie sehr attraktiv ist. Eine
Frau, hier und jetzt, alleine? frage ich mich. Und dann
spiele ich intern das Spielchen, das ich sehr oft bei aehn-
lichen Gelegenheiten spiele: Was wird sein, wenn man sich be-
gegnet? Wird man sich angucken, sich nicht beachten, weg-
schauen?

Als ich kurz vor ihr bin, spricht sie mich an. Vor Schreck
falle ich fast vom Rad. Was Sie mir sagt, bleibt mir fest im
Gedaechtnis. Sie sagt: "Brezeln, frische Brezeln."

Selbst am Sonntag bei der unverdaechtigsten aller Taetigkei-
ten dominiert also bereits das Oekonomische. Diese Frau,
denke ich, hat also ein Gewerbe angemeldet, eine Steuernummer
beim Finanzamt beantragt, besitzt detaillierte Kenntnisse im
Steuerrecht, ist Mitglied der Berufsgenossenschaft, hat die
Arbeitsschutzverordnungen gelernt, zahlt Beitraege bei der
IHK und hat dann Brezeln eingekauft. Im Grosshandel fuer ei-
nen mittleren zweistelligen Cent-Betrag. Und jetzt verkauft
sie sie fuer vielleicht zwei Euro. Das ist eine Gewinnspanne,
die kein traditionelles Industrieunternehmen erzielt - und
von der selbst die New Economy nur traeumen kann.

Und ploetzlich begreife ich: Genau das scheint es zu sein,
was Angela Merkel mit uns machen will. Wir muessen alles tun,
damit neue Jobs entstehen. Das ist Deutschlands Zukunft. Und
Deutschlands Zukunft heisst: Wir gehen den Weg der Amerikaner
nach - und beschaeftigen uns gegenseitig dadurch, indem wir
uns gegenseitig Brezeln, Plunderstuecke und Whopper verkau-
fen. Und zwar so lange, bis wir selbst wie Brezeln, Plunder-
stuecke und Whopper aussehen. Anschliessend lassen wir uns
dann etwas anderes einfallen, verpflichten die Brieftraeger,
in jeden Briefschlitz dieses Landes taeglich mindestens zwei
Kreditkarten einzuwerfen, verdoppeln die Eigenheimpauschale
und beginnen ebenfalls mit dem grossen Immobilienroulette.
Selbst die Mehrwertsteuererhoehung bringt dann keinen Schaden
mehr, wenn die Brezel immer zwei Euro kostet.

Das bringt zwei grundsaetzliche Fragen auf: Was macht eigent-
lich ein Land und eine Bevoelkerung reich? Und wie entstehen
Arbeitsplaetze?

Arbeitsplaetze entstehen, wenn etwas verkauft werden kann,
wobei sich ein Ueberschuss der Erloese ueber die Kosten er-
gibt - oder zumindest an ein Entstehen eines derartigen
Ueberschusses geglaubt wird. Reichtum hingegen entsteht nur
dann, wenn mehr produziert als verbraucht wird. Wenn also auf
der einen Seite die Unternehmen Teile ihrer Erloese in neue
Anlagen stecken und andererseits die Haushalte Teile ihres
Einkommens sparen. Wird hingegen mehr verbraucht als produ-
ziert und mehr konsumiert als verdient, dann entsteht Verar-
mung.

Es gibt mithin zwei Moeglichkeiten, Arbeitsplaetze zu schaf-
fen: Einmal in Verbindung mit der Schaffung vom Reichtum -
und ein anderes Mal mit Verarmung. Der erste Weg ist der asi-
atische Weg. Der zweite der amerikanische. Wir Europaeer ste-
hen in der Mitte. Was sollen wir tun? Sollen wir Merkels Bre-
zel-Weg gehen? Oder sollen wir nicht eher kaempfen und uns
gegen die vermeintliche Zwangslaeufigkeit unseres (amerikani-
schen) Schicksals stellen?


++++++

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Alt 07-08-2005, 17:03   #93
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Was eigentlich erforderlich waere

Von Dr. Bernd Niquet

Nehmen wir einmal an, wir haben eine Flasche mit Apfel- und
eine mit Birnensaft. Der Birnensaft kostet die Produktions-
kosten plus den Gewinnaufschlag - und der Apfelsaft zusaetz-
lich noch eine Steuer von 30 Prozent, Krankenkassenbeitraege
fuer die Apfelpfluecker, Altersabsicherung fuer die Apfel-
baeume sowie eine Nicht-Herunterfallpraemie fuer die einzel-
nen Aepfel. Es ist nicht schwer zu erraten, wie es auf den
Maerkten fuer Apfel- und Birnensaft aussehen wuerde. Es wird
bald kaum noch Apfelsaft geben, der Birnensaft hingegen wird
unsere Muender nur so fluten.

Die gleiche Situation finden wir auf den Maerkten unserer Re-
publik wieder. Es gibt zwei wichtige Produktionsfaktoren, die
gleichzeitig die Quellen unseres gesamten Einkommens sind -
naemlich Arbeit und Kapital. Waehrend die Arbeit mit hohen
Steuern und Sozialabgaben belastet ist, ist das Kapital von
Sozialabgaben sowieso befreit und steuerlich entweder voellig
von jeder Abgabenpflicht freigestellt oder in extremer Weise
subventioniert.

Kann sich angesichts dieser Situation eigentlich noch jemand
wundern, dass das Kapital ueberall im Ueberfluss vorhanden
ist und derzeit selbst die letzte Anlage-Nische mit dickem
Strom ueberschwemmt, wohingegen die Arbeitsplaetze immer wei-
ter verschwinden? Eigentlich kann sich da niemand wundern.
Und trotzdem scheinen sich alle zu wundern, was das wirkliche
Wunder der aktuellen Gegenwart ausmacht.

Ein gerechtes und effizientes Steuersystem verlangt eine Be-
steuerung nach dem Reinvermoegenszugangsprinzip. Das heisst:
Alle Vermoegenszuwaechse, sei es durch Einkommen oder durch
realisierte Gewinne auf Vermoegen, sind zu besteuern - und
zwar in gleicher Hoehe. Davon sind wir gegenwaertig aller-
dings weiter entfernt als das Raumschiff Discovery von der
Erde. Die aktuelle Situation ist vielmehr: Diejenigen, die
vom Arbeitseinkommen leben, werden geknebelt und ausgepluen-
dert wie die Sklaven. Und diejenigen, die ueber Vermoegens-
einkuenfte verfuegen, werden hofiert wie die Feudalherren.

Arbeitseinkommen werden belastet mit voller Einkommensteuer,
Sozialabgaben, Krankenkassenbeitraegen. Und wer als Arbeit-
geber auftritt, zahlt zusaetzlich noch IHK-Beitraege, Gewer-
besteuer und diverse sonstige Abgaben. Wer hingegen sein Ver-
moegen einsetzt, der bleibt bei realisierten Kursgewinnen
nach einen Jahr voellig steuerfrei. Dividenden werden nur mit
dem halben Satz besteuert, und kommt die Union an die Regie-
rung, wird es bei den Zinsen eine aehnliche maue Regelung ge-
ben. Vor allem: Hier ist nichts an die Gemeinschaft zu ent-
richten, keine Sozialbeitraege, keine Krankenkassenbeitraege,
nix. Das lastet man alles der Arbeit auf.

Wir subventionieren also das Kapital und bestrafen die Ar-
beit. So koennen keine Arbeitsplaetze entstehen. Was eigent-
lich erforderlich waere, ist, die Steuer und die Abgaben auf
Arbeit radikal zu senken - und gleichzeitig das Kapital (zu
den dann gemaessigten Saetzen) voll zu besteuern und sozial-
abgabenpflichtig zu machen. Ich hoere natuerlich sofort den
Aufschrei. Das Kapital wuerde fluechten, unsere private Al-
tersversorgung behindert ... Doch sind die Punkte stichhal-
tig? Tatsache ist, dass eine private Altersvorsorge nur aus
versteuertem Einkommen gespeist werden kann. Gibt es keine
Jobs und wird das Einkommen weitgehend weggesteuert, dann
bleibt ueberhaupt nichts uebrig, um es zurueckzulegen. Alle
Kapitalsubventionierung fliesst somit denjenigen zu, die
ohnehin schon ueber ein gutes Vermoegen verfuegen. Die gegen-
waertige Regelung bevorzugt diejenigen, deren Alter bereits
abgesichert ist und behindert diejenigen, die dies erst noch
machen muessen. Das kann nicht so weiter gehen.

Und die Kapitalflucht? Die Auslaender, die den Kapitalmarkt
hierzulande bereits dominieren, treffen diese Regelungen
ohnehin nicht. Und die anderen? Die grossen Vermoegenden? Die
reden doch dauernd von der Sanierung unseres Landes. Da wer-
den sie sich doch nicht verweigern koennen, die Loehne wieder
bezahlbar zu machen.

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Alt 14-08-2005, 10:38   #94
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Die groesste aller Blasen

Von Dr. Bernd Niquet

Wir gehen jetzt also alle zugrunde. Nichts funktioniert mehr
in diesem Staate, hoert man von ueberall her. Und dass wir vor
der Verarmung stuenden. Ob wohl bald schon der Hunger regier?
Ich habe ein interessantes Selbstexperiment vorzuschlagen:
Gehen Sie einmal voellig nuechtern und mit dem festen Vorsatz,
an diesem Tag weder zu essen noch zu trinken, auf eine oeffent-
liche Veranstaltung, vielleicht auf ein Open-Air-Konzert oder
ein Volksfest.

Was ihnen dort passiert, wird sein: Es draengen sich ihnen ein
paar Naturgesetze auf, nach denen unser gesamtes Leben zu
funktionieren scheint. Eines dieser Naturgesetze ist: Das
menschliche Dasein strebt danach, so viel wie moeglich ins
sich oder in andere hineinzustecken beziehungsweise in sich
selbst hinein gestopft zu bekommen. Dies ist die Gravitation,
die unser Leben bestimmt. Die liberalisierte Marktwirtschaft hat
mittlerweile alle Reibungswiderstaende abgebaut, so dass die
Gravitation jetzt zur vollen Wirkung kommt.

Daraus ergibt sich eine faktische Schichtung des Lebens:
So lange es etwas zu essen und zu trinken gibt, tritt alles
andere in den Hintergrund. Wo frueher gelauscht und ge-
schnuppert wurde, da wird heute brutal gestopft und ge-
schuettet. Und das hat ja auch seine Folgerichtigkeit in der
heutigen Zeit, schliesslich muss doch immer und ueberall alles
in guten Zahlen ausgedrueckt werden koennen. Was anderes ist
denn unsere Dienstleistungsgesellschaft? Jeder muss den
anderen etwas verkaufen, was diese in sich (und ersatzweise
in deren Besitztuemer wie Haus, Auto oder Partner) hinein-
stecken koennen. Und was sich zaehlen, messen, wiegen und in
Zahlen quantifizieren laesst. Alles andere hat keine Bedeutung
mehr.

Auf den Punkt gebracht: Wenn jeder Mensch autonom und
vernuenftig leben wuerde, dann braeche unsere gesamte Wirtschaft
in sich zusammen. Deswegen sollten wir uns auch nur auf das
Beobachten konzentrieren und nicht zu viel herummaekeln und
kritisieren. Denn das waere wirklich das Schlimmste, wenn alles
zusammenbrechen wuerde. Eine Ueberflussgesellschaft kann nur
von Unvernunft leben, also froenen wir dem Ueberfluss!

Die wirkliche Blase unseres Wirtschaftssystems ist also eine
riesige Fettblase. Und wir alle tragen sie mitten im Gesicht,
am Bauch und auf den Oberschenkeln. Doch diese Fettblase ist
kein Menetekel. Sie weist nicht auf Risiko und Gefahr, wie
das bei anderen Blasen - zum Beispiel am Aktienmarkt - der
Fall ist. Nein, sie weist vielmehr auf die exzellente Funktion
des Systems. Wir alle stopfen wesentlich mehr in uns hinein
als wir vertragen koennen. Und das ist auch gut so. Wuerden
wir Schluss machen, wo es die ausserwirtschaftliche Vernunft
fordert, dann waere das Ende laengst da.

Die voellige Freisetzung des Konkurrenzmechanismus durch die
Liberalisierung aller Maerkte treibt uns immer weiter an. Wer
erfolgreicher sein will als die anderen, der muss weiter,
schneller und tiefer stopfen als diese. Die Wirtschaft kann
nur wachsen, wenn in uns alle immer mehr hinein geht. So ist
das - alles laeuft nach einer erstaunlichen naturgesetzlichen
Zwangslaeufigkeit ab. Deswegen hilft auch kein Wahlprogramm
keiner Partei, weder eines dafuer noch eines dagegen.
Wir haben keine Alternative. Ausser das Platzen.

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Alt 21-08-2005, 08:36   #95
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Mentalitaetsunterschiede - oder: Nilpferd auf Nilpferd

Von Dr. Bernd Niquet

Es ist nicht leicht, das alles auf die Reihe zu bekommen.
Einerseits waechst die Welt immer schneller zusammen, wird
alles in quantitativen Groessen vergleichbar gemacht und in
Kategorien wie Einkommen, Konsum und Ersparnis auf einen
Nenner gezwungen. Andererseits sind die Unterschiede, die
sich hinter dieser Fassade verbergen, so gross wie eh und je
und damit beinahe unueberwindlich.

Eben noch lese ich auf der Internetseite des Manager-Magazins
einen sehr instruktiven Bericht "Die USA im Shopping Fieber".
Es geht um ein Paar in einem 300-Quadratmeter-Haus, zusammen
mit Sohn und Dackel. Sie sitzen auf der Terrasse mit Heiz-
strahlern gegen die Abendkuehle und elektrisch verstellbaren
Blenden gegen die Mittagssonne. Die Frau nennt Shopping als
ihr Hobby. Beide halten Konsum fuer eine patriotische Pflicht
und haben sich nach dem Anschlag auf das World Trade Center
einen Tennisplatz gebaut und ein neues Auto bestellt, um die
amerikanische Wirtschaft zu unterstuetzen.

Ich weiss nicht, ob man das glauben kann, doch die Kehrseite
dieser Medaille ist auf jeden Fall, dass beinahe jegliches
Vermoegen hoch kreditbelastet ist. Es gibt zwar eine positive
Nettoposition des Vermoegens gegenueber den Schulden, doch es
fragt sich, wie - und zu welchem Preis - diese im Altersfall
einmal zu liquidieren ist, um davon den Lebensunterhalt zu
bestreiten. Allgemein ausgedrueckt: Ist der Konsum der Gott,
dann bleibt nichts (anderes) mehr uebrig. Denn du sollst
keine anderen Goetter haben neben mir - so heisst es doch.

Etwas angewidert wende ich mich ab. Sind wir vermeintlich so
verqueren Deutschen da nicht irgendwie klueger? Und ueber-
legen? Geht es uns nicht um ganz andere Werte, ja um Werte
ueberhaupt? Auf jeden Fall: Eine Welt, in der sich alles nur
um den Konsum dreht, das kann nicht unsere Welt sein.

Mit diesen Gedanken im Kopf gehe ich mit meiner Tochter in
den Berliner Zoo. Vor dem Nilpferdhaus steht ein grosses aus
Bronze gegossenes Nilpferd, das an vielen Stellen bereits
blankgescheuert ist von den Schuhen und Hosenboeden der dar-
auf wild herumkletternden Kindern. Beachten Sie an dieser
Stelle bitte die Metapher: Das Geschehen an den Weltmaerkte
und die wild herumturnenden Kinder. Alles ist einerseits
voellig chaotisch, andererseits trotzdem geordnet - eine
riesige, sich stets wandelnde spontane Ordnung.

An diesem Tag ist jedoch alles anders. Eine ziemlich dicke
Frau hat drei Kinder auf dem Nilpferd platziert und will sie
nun in aller Ruhe fotografieren. Mit bemerkenswerter Gemuets-
ruhe gibt sie Regieanweisungen, die Kinder moegen doch bitte
versetzt sitzen, damit man jedes von ihnen besser sehen kann.
Zudem sollten nicht so dumme Gesichter gemacht werden. Als
das alles verwirklicht scheint, greift sie langsam zu ihrem
Fotoapparat. Ich stelle mir unweigerlich vor, die Frau waere
das weibliche Pendant zu Loriots Dr. Mueller-Luedenscheid und
erklaere dem genervten Sozialarbeiter, dass sie mit dem, was
er ihr anbietet, nun wirklich nicht ihren Beduerfnissen ent-
sprechend leben koenne, weshalb man doch in aller Ruhe einmal
konstatieren muesse, dass die Gesellschaft in dieser Hinsicht
voellig versagt habe.

Mittlerweile haben sich neben dem Nilpferd mehrere Gruppen
mit vielen Kindern angesammelt, die ebenfalls das Nilpferd
erklimmen wollen. Aus Taktgefuehl werden diese Kinder jedoch
zurueck gehalten. Als die Frau nunmehr allerdings ankuendigt,
dass jetzt noch Einzelfotos von jedem der drei Kinder ge-
schossen werden, platzt einem Vater der Kragen und er gestat-
tet seinen Kindern, ebenfalls das Nilpferd zu erklimmen. An-
schliessend zueckt auch er seinen Fotoapparat.

Die dicke Frau kann in diesem Moment die Welt nicht mehr ver-
stehen. So etwas hat sie noch niemals erlebt - nicht einmal
von einem aufmuepfigen Mitarbeiter des Sozialamts. Das nor-
male Chaos dieser Welt soll ihre Kreise stoeren? Nein, das
kann nicht sein, das darf nicht sein. Schnell entscheidet sie
sich, was nun zu tun ist. Ihre Maxime lautet: Wenn ich nicht
bekommen darf, was ich will, dann sollen die anderen es auch
nicht haben. Spricht es und wuchtet den uebergewichtigen
Koerper ohne Ruecksicht auf den Verlust von Kinderhaenden,
die sich am Nilpferd festhalten, um nicht herunter zu fallen,
auf den Koloss hinauf.

Nun thront das eine Nilpferd auf dem anderen und verkuendet
lauthals: So, jetzt koennt ihr schoene Fotos machen! Wissend,
dass jeder Mensch, der seinen Verstand und vor allem seine
Aesthetik noch nicht voellig verloren hat, Abstand von seinem
Unterfangen nehmen wird. Denn der Preis eines Fotos ist jetzt
schlichtweg zu hoch, da dieses Monstrum dann ebenfalls darauf
verewigt wird. In diesem Moment erscheint - ploetzlich und
wie von Geisterhand gezeichnet - ueber dem Kopf der dicken
Frau eine Sprechblase, auf der alle Umherstehenden in Gross-
buchstaben lesen koennen: WENN ICH ES NICHT HABEN KANN, DANN
SOLLT IHR ES AUCH NICHT HABEN.

Entsetzt hebt daraufhin der Vater seine Kinder vom Nilpferd
und wendet sich ab. Wir verlassen ebenfalls den Ort des Ge-
schehens. Einige Umstehende applaudieren der Frau. Endlich
hat es wieder einmal jemand der Welt gezeigt. Ich drehe mich
noch einmal um, sehe die beiden Nilpferde aufeinander und
muss unwillkuerlich lachen. Dabei ist mir eigentlich gar
nicht zum Lachen zu Mute. Die Amis mag ich nicht, aber jetzt
habe ich den Eindruck, dem typisch Deutschen mitten ins Ant-
litz gesehen zu haben. Es wird langsam Abend, doch es ist
noch hochsommerlich warm. Mich hingegen froestelt es.

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Ein Lob auf die Buerokratie

Von Dr. Bernd Niquet

Wenn etwas nicht so funktioniert, wie man es gerne haben
will, dann ist es immer angenehm, wenn man einen Schuldigen
ausmachen kann, der mit einem selbst nicht identisch ist. Ein
beliebtes Opfer aller Scheiternden dieser Welt ist die Poli-
tik. Und natuerlich die Buerokratie. Sie eignet sich ganz be-
sonders fuer deutsche Weinerlichkeiten jeglicher Art.

"Mammi, Mammi", schreit da der Unternehmer, so dass es durch
den Wald hindurch im ganzen Land zu hoeren ist, "es schadet
mir gar nichts, wenn mir die Haende frieren. Warum kauft mir
Pappi auch keine Handschuhe." Weinerlichkeit in Verbindung
mit Masochismus - und anschliessend geschuettelt mit etwas
Weltverschwoerung und einer Prise vermeintlich gesundem Men-
schenverstand. Das ist der Cocktail, der uns Deutschen am
besten mundet. Klarer Fall natuerlich, dass wir diesen Cock-
tail heimlich zu uns nehmen, also heimliche Trinker sind.
Denn so etwas wuerden wir niemals zugeben.

Die Welt hat sich durch die Globalisierung in den letzten
zehn, fuenfzehn Jahren vollkommen veraendert, doch die Schul-
digen sind fuer uns die Gleichen geblieben. Bleiben wir bei
der Wirtschaft: Die Politik, einst so maechtig, nationale
Waehrungs-, Wachstums- oder Beschaeftigungspolitiken durchzu-
fuehren, ist von der Regentschaft der globalen Maerkte voll-
ends entmachtet worden. Und trotzdem wird ihr die Schuld
hierfuer zugewiesen. (Was natuerlich durchaus folgerichtig
ist, da von den frueheren Allmachtstraeumen kein Abstand ge-
nommen wurde. Das allerdings relativiert diesen gleich dop-
pelten Irrtum keineswegs.)

Und die Buerokratie? Sie ist von jeher die Verkoerperung
eines verhassten Obrigkeitsdenkens. Doch seitdem es keine
Obrigkeiten mehr gibt, seitdem das Normalniveau der Welt-
maerkte und Welt-Finanzmaerkte unsere Geschicke lenkt,
muesste es da nicht auch ein Umdenken geben? Davon ist aller-
dings weit und breit nichts zu sehen. Alle schimpfen genauso
wie vorher auf die Buerokratie. Der einzige Unterschied ist,
dass sie heute zusaetzlich noch auf die Globalisierung
schimpfen. Doch ist das eigentlich konsistent, wenn wir uns
bei der Bedienung des Restaurants beschweren, dass die Suppe,
die wir gerade essen, eigentlich viel zu salzig ist, an man-
chen Stellen hingegen zu wenig gewuerzt?

Im Brockhaus ist die Buerokratie als Verwaltungsform defi-
niert, "... die durch eine hierarchische Befehlsgliederung
(Instanzenweg), durch klar abgegrenzte Aufgabenstellungen,
Befehlsgewalten, Zustaendigkeiten und Kompetenzen ... sowie
durch genaue und lueckenlose Aktenfuehrung saemtlicher Vor-
gaenge gekennzeichnet ist." Ist das nicht wunderbar? Ein Hort
der Stabilitaet und Ordnung in einer voellig chaotisch gewor-
denen und von der Dynamik des Zauberbesens zerfetzten Welt!

Doch es ist ja alles nicht bezahlbar, so hoert man immer wie-
der. Die Buerokratie frisst das Geld auf, was wir anderswo so
dringend brauchen. Wer so etwas sagt, ist jedoch selbst noch
nicht angekommen im Heute, schliesslich wissen wir heute,
dass alle Kosten spiegelbildlich auch Einkommen sind. Natuer-
lich gibt es ueberall auch Auswuechse. Doch sind die Aus-
wuechse der Maerkte nicht viel schlimmer als diejenigen der
Buerokratie? Dieses taegliche Trommelgewitter an Werbebot-
schaften, zu hohen Lohnkosten, Marktpreisen, staendiger Er-
reichbarkeit und voelligem Orientierungsverlust. Welche Hoff-
nung dagegen in einer verstaubten Amtsstube!

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Warum heute alles anders ist

Von Dr. Bernd Niquet

Viele Dinge sind isoliert betrachtet nur schwer zu verstehen.
Warum sind heute die Zinsen so niedrig? Warum die Arbeits-
losigkeit so hoch? Warum gibt es trotz exzessivem Geldmengen-
wachstum keine Inflation? Wenn wir die oeffentliche Diskus-
sion beobachten, dann merken wir, dass alle diese Fragen jede
fuer sich aus einem ganz speziellen Blickwinkel heraus be-
trachtet werden. Die Zinsentwicklung sei ein spezielles
Markphaenomen, eine Blase, die Arbeitslosigkeit bestehe auf-
grund einer Ueberregulierung des Arbeitsmarktes und beim In-
flationsthema ist man voellig ratlos. Dies sind einige von
vielen der gaengigen Erklaerungsansaetze. Hat man Magen-
schmerzen, dann muss also etwas mit dem Magen sein. Zwickt es
hingegen im Ruecken, dann muss man dort suchen, roentgen,
computertumographieren, kernspinnen, hineinschauen, herumwer-
keln.

Die grosse Kunst ist es nun, auf den ersten Blick unverbun-
dene Dinge auf einen Nenner zu bringen. Also gleichsam ein
"verbindendes Gesetz" zu finden. Das ist nur wenigen gelun-
gen. Freud war sicherlich einer von ihnen. Er hat gezeigt,
dass Magenbeschwerden und Rueckenziehen durchaus ein und die
selbe Ursache haben koennen. Keynes war ein anderer. Er hat
die verengte klassische Sichtweise, dass nicht geraeumte
Maerkte nur auf Marktineffizienzen zurueckzufuehren sind, da-
durch aufgebogen, dass er aufzeigt, dass Arbeitslosigkeit
eben nicht auf dem Arbeitsmarkt entsteht, sondern das Geld
hier den entscheidenden Einfluss ausueben.

Mir wird Adaequates nicht gelingen - und dennoch stoesst mir
etwas ins Auge, das hierfuer durchaus geeignet waere, jedoch
weder in der Theorie noch in der oeffentlichen Diskussion
auch nur ansatzweise eroertert wird. Es ist fast so etwas wie
ein Gravitationsprinzip oder ein Magnetismus, welcher jedoch
historischen Bedingungen unterworfen ist und dementsprechend
unterschiedlich wirkt in unterschiedlichen Epochen.

Ich unterscheide hierzu die Zwischen- und die unmittelbare
Nachkriegszeit auf der einen Seite (hierzu sage ich "frueher"
oder "damals") von unserer aktuellen Gegenwart auf der ande-
ren Seite. Damals hatten wir eine Nachhol- oder Mangelwirt-
schaft, heute hingegen eine Ueberflusswirtschaft. Das ist ei-
gentlich eine triviale und allseits bekannte Feststellung.
Doch uebertraegt man sie in allgemeine oekonomische Katego-
rien, dann ergibt sich durchaus Interessantes und Neues:

Frueher, also bis etwa zum Ende der Sechziger Jahre, regier-
ten die Guetermaerkte - seitdem jedoch haben die Vermoegens-
maerkte die Herrschaft uebernommen. Frueher war das entschei-
dende wirtschaftliche Problem die Bereitstellung von Guetern
- heute ist es die Anlage und Verwertung von Vermoegen. Frue-
her gab es nur geringe Vermoegen, aber einen riesigen Nach-
holbedarf an Guetern. Deswegen waren die Ersparnisse eine
wichtige oekonomische Groesse. Man brauchte sie dringend, um
die notwendigen Investitionen zur Gueterproduktion finanzie-
ren zu koennen. Heute hingegen gibt es riesige Vermoegen,
aber eine weitgehend gesaettigte Gueternachfrage. Die Erspar-
nisse sind daher sekundaer und die Guetermaerkte nur noch ein
Vehikel der Vermoegensmaerkte.

Noch praeziser auf den Punkt gebracht: Frueher zogen die Gue-
termaerkte die Vermoegensmaerkte hinter sich her. Heute hin-
gegen schieben die Vermoegensmaerkte die Guetermaerkte vor
sich her. Und noch enger gefasst: Damals regierte ein Gueter-
vakuum die Welt. Heute hingegen ist es ein Vermoegensberg.

Adaptiert man diese Loesung, dann gelingt es ploetzlich wie
von Zauberhand, alle am Anfang genannten speziellen Betrach-
tungen unter diesem allgemeinen Paradigma zu subsumieren: Das
Guetervakuum fuehrte zu tendenzieller Inflation, also hohen
Preissteigerungsraten, hohen Investitionen, hohen Zinsen und
hoher Beschaeftigung. Dieses Vakuum sog also gleichsam alles
in sich hinein. Der Vermoegensberg heutzutage bewirkt hinge-
gen das genaue Gegenteil. Er drueckt unter seiner Last alles
zusammen, weswegen wir niedrige Zinsen, niedrige Investitio-
nen, niedrige Preise und niedrige Beschaeftigung beobachten.

Der Sog der Gueter ist durch die Flutwelle der Vermoegen ab-
geloest worden. Die wirtschaftliche Welt musste damit eine
voellig andere werden. Die entscheidende Frage lautet nun:
Was folgt aus dieser Sichtweise fuer die Zukunft? In dieser
Hinsicht bitte ich jedoch um eine Woche Bedenkzeit und werde
mich erst am naechsten Wochenende an dieser Stelle dazu
aeussern koennen.

++++++

Bernd Niquet ist Boersenkolumnist und Buchautor.
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Alt 04-09-2005, 14:09   #98
Tester32
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Zitat:
Original geschrieben von Bernd Niquet
Frueher, also bis etwa zum Ende der Sechziger Jahre, regier-
ten die Guetermaerkte - seitdem jedoch haben die Vermoegens-
maerkte die Herrschaft uebernommen.
Man merkt, daß Herr Niquet nicht in der Industrie tätig ist. Der Markt wendet sich seit dem Eintritt der Sättigung vom Güter- zum Service-Markt. Einfach zu produzierenden Massenwaren bekommen zunehmend den Status von Rohstoffen, die immer weniger Geld bringen. Dagegen nimmt die Gewichtung des Services in der Wertschöpfungskette zu. Z.B. bekommt der Kaffee-Produzent für den Kaffee einer Tasse ca. 0,03-0,005 USD, der Kunde zahlt für den gemahlten und verpackten Kaffe im Discounter bereits mehr als das Doppelte: ca. 0,10 USD/Tasse und bei Starbacks oder wie diese Kette genau heißt, kostet die Tasse scheinbar bereits ca. 2,5 USD.

Das konnte ich auch bei dem Kauf eines neuen DVD-Rekorders vor ein paar Monaten beobachten:
1. ohne Garantie als reine Commodity-Ware kostete der Panasonic DMR ES-10 bei ebay ca. 160 EUR,
2. mit Garantie aber ohne Beratung bei amazon.de - 199 Euro
3. mit Garantie und Beratung bei Saturn - 260 Euro.

Da merkt man schnell den Wert des Services in der Wertschöpfungskette.

An sich ist diese Entwicklung nichts Ungewöhnliches, denn auch früher gab es schon immer die Prozesse der ständigen Abwertung der Warenproduktion durch die Massenproduktion, man denke nur daran, was Salz und Pfeffer einmal kosteten! Der Vermögensmarkt hat schon die gesamte Wertschöpfungskette begleitet, aber das der Gütermarkt durch den Vermögensmarkt ersetzt worden wäre, das kommt mir wie eine Schnapsidee vor. Der Grund für die ausbleibende Inflation ist übrigens gar nicht so rätselhaft, wie ihn Niquet darstellt, sondern liegt nach allgemeiner Überzeugung an den sinkenden Produktionskosten und hoher Arbeitslosigkeit durch die Auslagerung der Produktion in Niedriglohnländer.
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Alt 11-09-2005, 10:42   #99
621Paul
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Die Wirtschaft in der Zitronenpresse

Von Dr. Bernd Niquet

In der letzten Woche habe ich eine Theorie erfunden. Unsere
Wirtschaft, so behaupte ich, hat sich grundlegend gewandelt:
Bis in die Nachkriegszeit war die Versorgung mit Guetern das
beherrschende Problem der fuehrenden Wirtschaftsnationen. Der
Guetermarkt war folglich das Gravitationszentrum. Seitdem hat
sich eine entscheidende Veraenderung ergeben, denn heute ist
der Einsatz des Vermoegens zum neuen Regenten geworden. Das
erklaert, warum wir keine Inflation mehr beobachten, niedrige
Preise, niedrige Zinsen und niedrige Beschaeftigung haben.

Marc Faber vertritt eine ganz aehnliche These - und mit ihm
alle anderen, die ebenfalls eine pessimistische Grundhaltung
haben. Ueberall steht die Dominanz und die Groesse der Fi-
nanzmaerkte im Mittelpunkt: "Fuer meinen Geschmack", schreibt
Faber, "sind die westlichen Finanzmaerkte zu gross, vergli-
chen mit der realen Volkswirtschaft. Und es gibt auch zu
viele smarte Leute und Schaetzjaeger in der Finanzindustrie,
die es fuer den durchschnittlichen Anleger schwierig
machen, eine gute Performance zu erzielen ... Diese Trends
fuehren zu einem im Vergleich zur realen Wirtschaft ueberpro-
portionalen Wachstum der Finanzmaerkte. Wenn das so weiter-
geht - und ich bezweifle, dass das fuer immer so weiter geht
- werden die westlichen Industrienationen nur noch sehr wenig
(als Anteil am BIP) selbst produzieren, aber eine immer
groesser werdende Armee von Finanz-Zauberern wird ihre Tage
mit dem Handeln von Finanzinstrumenten wie Aktien, Anleihen,
Optionsscheinen und so weiter verbringen!"

Klare Sache fuer Faber also. Das kann eigentlich nicht gut
gehen fuer die Finanzmaerkte. Es muss eine Anpassung geben.
Und das kann eigentlich nur bedeuten, dass es eine Krise an
den Finanzmaerkten geben muss, um das Gleichgewicht wieder-
herzustellen. Doch die Geschichte lehrt uns, dass man Ent-
wicklung niemals antizipieren kann, dass das, was passiert,
wenn wirklich Epochales passiert, immer ueberraschend ge-
schieht. Gerade neulich ist mir das an einem anderen und sehr
gravierenden Beispiel noch einmal vor Augen gefuehrt worden.
Denn wie war das, als Hitler bei uns an die Macht kam? Jeder
dachte damals: hoechstens durch ein Putsch. Aber ein Umsturz
lag nicht in der Luft, waere voellig chancenlos gewesen. Nir-
gendwo stand jedoch zur Diskussion, dass das Verderben ver-
fassungsmaessig zur Macht kommen koennte. Das war denk-
unmoeglich! DENKUNMOeGLICH! Voellig absurd. Doch gerade das
geschah schliesslich.

Was ist also an obigem Ungleichgewicht fuer die meisten denk-
unmoeglich? Kann es nicht vielleicht sein, dass die Anpassung
zu einem neuen Gleichgewicht gar nicht ueber die Finanz-
maerkte, sondern durch die Wirtschaft ablaufen wird? Meine
Theorie suggeriert das - und meine Theorie ist damit um Laen-
gen umfassender als Fabers doch sehr einseitige Sichtweise.
Denn bei Faber sind die Finanzmaerkte stets nur ein - mehr
oder eben heutzutage weniger zutreffendes -Spiegelbild der
realen Wirtschaft. Bei meinem Modell hingegen dominieren die
Finanzmaerkte die Realwirtschaft. Und ich bin fest davon
ueberzeugt, dass diese Vorstellung die Realitaet wesentlich
besser erklaert als alles andere.

Wenn also die Finanzmaerkte die Realwirtschaft dominieren und
determinieren - und die Finanzmaerkte dem Geschehen in der
Wirtschaft bereits vorausgelaufen sind -, wie kann die Anpas-
sung der Wirtschaft dann vonstatten gehen?

Ich sehe zwei Wege: Der optimistische ist eine Ausweitung des
Wirtschaftsvolumens ueber die Menge. Das heisst, die Wirt-
schaft waechst gleichsam in den Vorlauf der Finanzmaerkte
hinein. Der pessimistische hingegen ist derjenige der Anpas-
sung ueber die Marge oder die Rendite. Das heisst: Die Wirt-
schaft wird von den Finanzmaerkten ausgepresst wie eine
Zitrone. Die Wirtschaft schrumpft oder stagniert, die Preise,
Zinsen und Beschaeftigung bleiben niedrig und sinken noch
weiter. Und genau dadurch werden die Ertraege des produktiven
Kapitals weiter gesteigert.

Eine Aschenputtelwirtschaft also. Die Guten ins Toepfchen
(der Finanzmaerkte), die Schlechten ins Kroepfchen (der Real-
wirtschaft). Die Finanzen sonnen sich im Glanz der Sterne und
die Menschen strampeln in der Zitronenpresse.

++++++

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Alt 18-09-2005, 16:01   #100
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The Island of the Disabled

Von Dr. Bernd Niquet

Heute ein paar Herbstimpressionen aus England. Weil wir ja
vielleicht auch bald eine Kanzlerin haben werden, und natuer-
lich, weil ich gerade dort in Britannien ein paar Runden ge-
dreht habe. Von Lady Thatcher total umgekrempelt, so so. Man
liest es immer wieder und man liest immer wieder zu viel, an-
statt den eigenen Augen zu trauen.

Doch vorerst konnte ich mit den Augen nichts erreichen, denn
das Geschehen spielte sich in meinem Ruecken ab. Ich stand
gerade auf der Seepromenade Sheerness auf der Insel Sheppey,
wenn man es ueberhaupt noch nennen darf, denn eigentlich ist
es nur ein Betonweg neben Betonmauern, um das kostbare Land
gegen die Flut zu sichern. Ich betrachte die Einsamkeit, die
Rauheit und die Haesslichkeit der Szenerie und bilde mir ein,
ploetzlich zu verstehen, warum der Schriftsteller Uwe Johnson
sich an diesem Ort umgebracht hat.

Ich zuecke den Fotoapparat und werde im selben Moment beinahe
von hinten ueberfahren, zudem von lauten Fluechen ueberzogen.
Unhoerbar hatte sich ein Rollstuhlfahrer von hinten genaehert
- und nun stand ich ihm ploetzlich im Weg. Zuerst etwas aer-
gerlich, kam ich wenig spaeter zu der Erkenntnis, gerade ei-
nen Blick in die Zukunft geworfen zu haben. Eine durchaus
wunderbare Zukunft. Denn es passierte ja noch mehr.

Auf dem Weg zurueck zum Auto Rollstuhlfahrer auf dem Buerger-
steig in Zweierreihen, in Margate vor dem Hotel-Restaurant
saemtliche Parkplaetze reserviert fuer die Disabled. Wer
nicht behindert ist, muss also hinter dem Hotel parken. Und
in Broadstairs schliesslich ein ganzes Schaufenster dekoriert
mit Aufklebern fuer die Disabled. Rollstuhlzeichen der ver-
schiedensten Groessen und Farben, Schilder wie "Disabled
Driver" und viele sonstige Dinge noch. Die Betreffenden park-
ten begeistert davor und schauten.

Was ist anders auf der Insel als hier? Bei uns regieren die
Hunde die Gruenflachen und die Autos den Rest. Dieser Laerm
und diese andauernde Gefahr! Welche Wohltat dagegen das leise
Surren eines Rollstuhls! Keine Aggressionen, kein politischer
Extremismus. Friede und Verstaendigung. Keine Experimente,
schon gar nicht politisch. Unuebersehbare Risiken auch lieber
nicht. Ruhe und Ordnung sind die hoechsten Gueter.

Wuerden wir doch nur unsere Politiker auch saemtlich in
Rollstuehle verfrachten. Und die Triebtaeter gleich mit dazu.
Die Flakhelfergeneration stirbt nun aus, der Rest hat ohnehin
nichts Wichtiges zu berichten. Und in England ersetzen die
Rollstuhlfahrer die Kriegsveteranen. Die Opfer des Wohlstan-
des die Opfer des Mangels. Und dann diese unsaegliche demo-
graphische Komponente. Die Insel macht uns vor, wo die wirk-
lichen Wachstumsmaerkte zu finden sind. Es ist wie in der Mu-
sik. Das, was dort heute passiert, schwappt zu uns erst Jahre
oder Jahrzehnte spaeter herueber.

Ich habe einen Blick in die Zukunft erheischt, doch wo ist
sie bei uns? Und was streiten wir ueber nebensaechliche Dinge
wie Steuern? Die zentralen Themen sind andere. Das Comeback
des Rentners, auf allen Ebenen. Dem Normalen, dem Haftpflich-
tigen, das alles sichtbar. Und nicht zu vergessen, dem Wich-
tigsten, dem Rentier. Er allerdings unsichtbar, dafuer jedoch
der wichtigste Regent unserer Welt.

++++++

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Alt 25-09-2005, 07:59   #101
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Der Fehler mit der Wettbewerbsfaehigkeit

Von Dr. Bernd Niquet

Wir muessen unsere Kosten senken, um international wettbe-
werbsfaehig zu sein. Das troetet auch nach dem Wahlkampf noch
in unseren Ohren. Die Indoktrination laeuft auf Hochtouren.
"Wir muessen immer um so viel besser sein wie wir teurer sind
als die anderen", hat Angela Merkel gesagt. Eine derbere
Fehleinschaetzung kann man kaum von sich geben. Sie ist zu
Recht nicht eindeutig zur Kanzlerin gewaehlt worden.

Wie komme ich zu dieser auf den ersten Blick kuehnen Behaup-
tung? Warum liegt die herrschende Orthodoxie hier so falsch?
Auf dem Weltmarkt konkurrieren wir mit anderen Nationen nur
in Hinsicht auf weltmarktfaehige Produkte. Wir sind jedoch
eine grosse Volkswirtschaft, in der der ueberwiegende Teil
aller Produkte und Dienstleistungen im Inland abgesetzt wird.
Und hier gilt das internationale Wettbewerbs- oder Kosten-
argument eben nicht, nein, hier gilt fast das Gegenteil da-
von. Denn Kostensenkungen von Produkten und Dienstleistungen,
die im Inland hergestellt und auch im Inland abgesetzt wer-
den, entsprechen gleichzeitig immer Einkommensreduktionen un-
serer Buerger. Und das fuehrt auf keinen guten Weg.

Das ausschliessliche Wettbewerbsargument fuehrt in letzter
Konsequenz, wenn wir die Dinge gedanklich einmal auf die
Spitze treiben, dazu, dass unsere Binnenwirtschaft ruiniert
wird, damit unsere Gueter schliesslich auf dem Weltmarkt gut
abgesetzt werden koennen. Dieser Weg ist jedoch kein erfolg-
versprechender Weg! Kann das unser Ziel sein? Wohl eher kaum.
Wir muessen vielmehr eine schwierige Gratwanderung beschrei-
ten, aussenwirtschaftlich erfolgreich zu sein und uns binnen-
wirtschaftlich nicht zu ruinieren. Doch Gratwanderungen ent-
ziehen sich schon per Definition einer Patentloesung à la
Merkel.

Natuerlich "bedroht" uns auch in der Binnenwirtschaft stets
das Ausland. Die Waesche der Berliner Hotels wird in Polen
gewaschen, und vom Broetchenbacken alleine koennen wir nicht
leben. Es ist jedoch stets ein Trade-off - und mit den wirk-
lichen Billigproduzenten koennen wir sowieso nicht mithalten.
Hohes Augenmerk muss daher stets die Binnenwirtschaft haben.
Und dass wir es hier derzeit nicht mit Angebotsproblemen,
sondern eher mit einer Schwaechung der Nachfrage zu tun ha-
ben, ist wohl offensichtlich. Also: Kein Dogma, sondern eher
Pragmatismus! Machen doch die anderen und die weiseren Natio-
nen auch!

Mindestens ebenso gravierend - jedoch weitgehend in seinen
Folgen unbeachtet - scheint mir hingegen der Ausverkauf zu
sein, den unser Land gegenwaertig hinsichtlich seiner Assets
erlebt. Die besten mittelstaendischen Unternehmen gehen an
auslaendische Fonds - und unsere heimischen Kapitalsammel-
stellen interessieren sich nicht einmal dafuer. Und die
Kommunen verkaufen die Wohnungen schneller als die Baecker
die Semmel. Vielleicht leben wir daher bald in einem Land,
das in einem ganz anderen Sinne ueberfremdet ist als wir uns
das bisher gemeinhin stets so vorgestellt haben.

++++++

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Alt 02-10-2005, 09:06   #102
621Paul
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Was hat man uns nur erzaehlt?

Von Dr. Bernd Niquet

Die Lohnnebenkosten sind ein Uebel. Ein ganzes Volk wuerde
sie am liebsten in den Boden stampfen. Es gibt wohl niemanden
mehr, der nicht fuer eine Senkung der Lohnnebenkosten ein-
treten wuerde. Die Politik sowieso, die Arbeitgeber natuer-
lich auch, denn eine Senkung der Lohnnebenkosten bedeutet
fuer sie geringere Lohnzahlungen. Und die Arbeitnehmer sind
ebenfalls dafuer, schliesslich bleibt bei einer Senkung der
Lohnnebenkosten bei gleichbleibendem Bruttolohn netto mehr in
der Kasse. Also weg damit! Zumindest: deutlich herunter!

Man ist fast an die Zeiten vor 1989 erinnert. "Die Mauer muss
weg!" hiess es damals - und sicherlich mit einigem Recht.
Doch lange halten diese Parallelitaeten natuerlich nicht.

Wenn ich mir die vielen Mail anschaue, die ich auf meine
Kolumnen der letzten Wochen bekommen habe, wird mir die
Tragik von Angela Merkel noch deutlicher als vorher. Wie
leicht haette sie als leuchtende Wahlsiegerin dastehen
koennen, wenn sie einfach nur gesagt haette: Die Lohnneben-
kosten muessen herunter. Und nichts von Mehrwertsteuererhoe-
hung und sonstigem. Die Mauer muss weg! Damit konnte man
schon immer Wahlen gewinnen - und heute sicherlich genauso.
Der Rest sind doch oekonomische Zusammenhaenge - und wer ver-
steht denn schon davon etwas? Der durchschnittliche Waehler
ganz gewiss nicht. Wer also die Chance haben will, ehrliche
Politik zu machen, muss vorher betruegen. Wie das geht, hat
Schroeder zwei Mal erfolgreich vorexerziert.

Doch weg jetzt von der Politik und hin zum Oekonomischen. Die
Geschichte mit den Lohnnebenkosten ist ein Nullsummenspiel.
Und ein Spiel, bei dem es ausschliesslich um Elastizitaeten
geht. Was bringt der Gesamtwirtschaft mehr: zwei Prozent mehr
Gewinn oder zwei Prozent mehr Konsum? Die wichtigsten Posi-
tionen der Lohnnebenkosten sind die Versicherungsbeitraege
der Arbeitnehmer fuer Krankheit und Arbeitslosigkeit, die
Leistungen fuer die Rentenzahlungen an die jetzigen Alten und
die Lohnzahlungen im Krankheits- und Urlaubsfall.

Wenn die Lohnnebenkosten reduziert werden, dann muss irgend
jemand das bezahlen. Es gibt mehrere Moeglichkeiten, wobei
eigentlich nur eine Gruppe aus dem Schneider ist, naemlich
die Unternehmen. Denn eine Finanzierung der Senkung der Lohn-
nebenkosten im Unternehmerlager waere zwar theoretisch
moeglich, jedoch reichlich widersinnig. Die Senkung der Lohn-
nebenkosten ist also so etwas wie ein Lastenausgleich einer
ganzen Gesellschaft zu Gunsten der Arbeitgeber. Ein ganzes
Land sammelt fuer seine Athleten, damit sie dieses bei den
internationalen Wettkaempfen gut vertreten.

Und wen kann man hier am trefflichsten zur Kasse bitten? Die
Steuerzahler, die Arbeitnehmer und die Konsumenten. Eine
Steuererhoehung faellt weg, denn hiermit wuerde man auch die
Selbstaendigen und die Personengesellschaften treffen, die
doch ebenfalls als Athleten auftreten. Bleiben mithin die
Arbeitnehmer und die Konsumenten. Der Mehrwertsteuerfall ist
der Merkelfall. Doch die anderen Politiker sind sicherlich
kreativ genug, sich noch eine Vielzahl anderer Varianten ein-
fallen zu lassen.

Angesichts der Kombination von Rekordgewinnen mit totaler
Konsumflaute sind das jedoch alles Holzwege. Lassen wir doch
die Lohnnebenkosten so wie sie sind! Auch eine Senkung von
zwei Prozent macht den legalen deutschen Arbeitnehmer nicht
konkurrenzfaehig gegenueber dem auslaendischen Schwarzarbei-
ter. Investieren wir lieber mehr in Ueberpruefungen! Denn wir
muessen immer bedenken: Zwei Prozent zu Gunsten der Unterneh-
men sind zwei Prozent zu Lasten des Konsums. Und das bei der
gegenwaertigen Situation. Das duerfte nicht einmal ein weit-
sichtiger Unternehmer so recht befuerworten.

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Alt 09-10-2005, 07:52   #103
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Ein zwiegespaltenes Land

Von Dr. Bernd Niquet

Ueberall Risse, genau mitten durch. Ein ganzes Land gespal-
ten. In der Mitte entzwei. Die Risse mehrdimensional. Zwi-
schen Norden und Sueden. Zwischen Osten und Westen. Zwischen
oben und unten. Und am bedeutsamsten: Zwischen dem, was man
sieht - und dem, was man hoert. Zwischen dem, was ist - und
demjenigen, wovon behauptet wird, dass es sei und dass man es
glauben moege.

Alles zerrissene Gestalten. Ueberall nur zerrissene Gestal-
ten. In Politik und in der Wirtschaft. Von den Kuenstlern
weiss man, dass sie viele Seelen in sich vereinigen. Kauf-
leute hingegen sind eindimensional. Bei ihnen laeuft der Riss
mitten durch das einzige Ego hindurch. Kaum ein Kaufmann in
unserem Land, der keine Zuege von Schizophrenie traegt: Ei-
nerseits sind sie die grossen Macher, andererseits jedoch nur
arme Wichte, denen von der Politik und von den Gewerkschaften
nur Knueppel zwischen die Beine geworfen werden.

Immer nur Knueppel zwischen die Beine! Und dann dieses ewige
Klagen! Das andauernde Jammern. Hier hat es seinen Ursprung.
Man spricht immer von der Wehleidigkeit der Deutschen. Doch
es ist nicht das Volk, es ist die Elite, die das Jammern
hierzulande erfunden hat. Und mit Erfolg praktiziert. Denn je
groesser das Jammern aus dem Unternehmerlager, umso groesser
die Zugestaendnisse der Politik. Das hat natuerlich der Buer-
ger begriffen und faengt jetzt seinerseits ebenfalls an zu
jammern.

Die Probleme des Standorts Deutschland, die Verunsicherung
der Konsumenten, die Sorgen um den Arbeitsplatz, die die Kon-
sumnachfrage so deutlich daempfen - all das kommt vom Gejam-
mer der Unternehmen. Hier wird aus egoistischen Motiven ein
ganzes Land zugrunde gejammert. Schaut man sich die Gestalten
an, die hier an vorderster Front stehen, dann fragt man sich:
Wenn denn wirklich alles so toll ist auf Arbeitnehmerseite,
der Kuendigungsschutz so unantastbar und die Unternehmen ver-
gleichsweise so arm dran sind, ja warum sind diese Leute dann
bloss Unternehmer geworden und nicht Arbeitnehmer???

Seit Angela Merkel springt nun auch noch die Politik auf den
Jammerzug auf. Mit einem Wahlkampf, ausschliesslich darauf
ausgerichtet, ein Land schlecht zu machen. Doch der Buerger
hat es bemerkt, was hier geschieht. Und hat die Kanzlerin ab-
gewaehlt bevor sie es geworden ist. In der Politik hat der
Buerger naemlich genau die Macht, die ihm in der Wirtschaft
fehlt. Denn hier hat er gegen das Jammern der Konzerne keine
Chance.

Die Bundestagswahl hat denn auch gezeigt, was wirklich los
ist in unserem Land. Und schauen wir nur auf die anderen
Dinge. In Muenchen, das Oktoberfest ueberfuellt. Selbst beim
Berliner Oktoberfest schon ueber 100.000 Zuschauer. Im Fuss-
ball die meisten Bundesliga-Spiele ausverkauft, im Schnitt
ueber 40.000 Zuschauer pro Begegnung. In den Herbstferien
alle Strassen leer, die Buerger verreist. Jeder Basar und
jedes Volksfest mit Menschen ueberschwemmt.

Die Deutschen sind kein Volk von Sauertoepfen und auch keine
Konsumverweigerer. Es scheint viel eher so, dass ihnen die
Produkte mit dem jaemmerlichen Kundenservice der ganzen Jam-
merbande irgendwie an der Huefte vorbei gehen. Das Volk
scheint wieder einmal viel vernuenftiger zu sein als seine
hochgepuschten Eliten. Wie eigentlich fast immer in unserer
Geschichte. Es sollte sich nur nicht immer so infiltrieren
lassen mit dem ganzen Unsinn, der aus Machtgruenden publi-
ziert wird.

++++++

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Alt 16-10-2005, 10:24   #104
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Tatsaechlich eine demografische Katastrophe?

Von Dr. Bernd Niquet

Es gibt derzeit wohl kein Thema, bei dem eine derartige Kon-
formitaet der Meinungen herrscht wie in Hinsicht auf die
behauptete demografische Katastrophe, auf die wir zusteuern.
Ob die Bayern Meister werden, ob die Zinsen weiter steigen
und uns vielleicht ein Aktiencrash bevorsteht. Ueber alles
gibt es eine Vielfalt der Meinungen. Nur ueber die Demografie
nicht. Wir werden immer aelter und immer weniger. Um Gottes
willen, das kann nicht gut gehen. Da sind sich alle einig.

Ich glaube, dass es in der gesamten juengeren Geschichte kein
Beispiel einer derartigen Verfestigung der Meinungen gegeben
hat wie in diesem Thema. Selbst dem Krieg haben noch viele
Leute eine positive Seite abgewonnen. Doch bei der Demografie
kann es nur eine Katastrophe geben, das scheint bereits heute
festzustehen.

Wie kommt man eigentlich darauf? Weil man die Wirklichkeit
nur mit einem Auge sieht, sich dessen jedoch nicht bewusst
ist und folglich das Gesehene fuer das Ganze haelt. Eines ist
sicherlich gewiss. Fuer das, was uns in den naechsten Jahr-
zehnten bevorsteht, gibt es kein historisches Beispiel. Wir
betreten voelliges Neuland. So etwas wie den Baby-Boom der
Nachkriegszeit hat es noch niemals gegeben. Ebenso noch nie-
mals einen volumenmaessig derart ausgepraegten Rueckgang der
Bevoelkerung, wie er sich jetzt abzeichnet.

Doch das ist nur die eine Seite der Medaille. Die andere ist:
Es hat auch noch niemals in der Geschichte eine derartige
Hoehe von angesammeltem Vermoegen gegeben. Und in diese
divergierenden Linien hinein gesellen sich zwei weitere ent-
scheidende auseinanderstrebende Sichtweisen. Einerseits: Der
Bevoelkerungsschwund fuehrt dazu, dass demnaechst die Versor-
gung der vielen Alten durch die wenigen Jungen nach den jet-
zigen Regeln nicht mehr gewaehrleistet ist. In diesem Sinne
ist die Bevoelkerungsentwicklung also tatsaechlich eine Kata-
strophe.

Andererseits gibt es jedoch einen heftigen Produktivitaets-
fortschritt und wir befinden uns mitten im Eintritt in das
postindustrielle Zeitalter. Beides bedeutet, dass uns sukzes-
sive die Arbeit ausgeht. Erste Vorlaeufer sind bereits zu
merken. Vieles, was bisher der Mensch gemacht hat, laeuft
bereits ueber Computer und Maschinen. Und dieser Trend wird
sich weiter beschleunigen. Bald werden wir nur noch Bruch-
teile der Arbeit - und damit auch der Beschaeftigten - benoe-
tigen, um sogar einen hoeheren Lebensstandard zu erreichen
als bisher. In diesem Sinne ist unsere Bevoelkerungsentwick-
lung also ein regelrechter Segen! Denn wohin ansonsten mit
den ganzen Menschen, wenn man keine Arbeit hat fuer sie?

Es sieht also alles danach aus, als ob es in jedem Fall einen
Ueberhang geben wird. Laender mitwachsender Bevoelkerung wer-
den die Jungen ausserhalb des Erwerbslebens alimentieren
muessen. Und schrumpfende Bevoelkerungen dasselbe mit den
Alten. Betrachtet man die Dinge einmal von dieser Warte aus,
haben wir es vielleicht gar nicht mit einer Katastrophe, son-
dern vielmehr mit einem Glueckslos zu tun. Denn sind Massen
an Jugendlichen ohne Arbeit durchzufuettern, dann birgt das
enorme soziale Spannungen. Schaut man hier auf die moslemi-
schen Staaten, kann einem nur das Grauen kommen. Zudem die
Jungen auch noch alle voellig vermoegenslos sind. Dann lieber
Alte, Ruhige und Konservative durchfuettern, die ueberdies
wenigstens zum Teil schon selbst vorgesorgt haben fuer ihr
Alter. Und ihre Vermoegen nicht vererben muessen, sondern
frei verkonsumieren koennen.


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Alt 23-10-2005, 07:44   #105
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Die Frau mit der Eisenmaske

Von Dr. Bernd Niquet

Altweibersommer an der Ost-Ostsee. Seit Tagen nicht eine ein-
zige Wolke am Himmel. Seit Wochen kein Regen. Ein Wetter wie
es das nur ganz selten gibt. Doch wenn erst einmal wieder ein
paar Regentage da sind, werden die Menschen sich wieder ueber
das Wetter beschweren. Dann wird sich niemand mehr erinnern,
niemand mehr abwaegen, dann kommen die Urteile direkt aus den
aktuellen Wahrnehmungen der Sinne.

Das Hallenbad des Hotels ist aufgrund des guten Wetters ver-
gleichsweise leer. Das kleine Maedchen paddelt mit hochgebun-
denen Haaren und Schwimmfluegeln sowie Schwimmreifen durch
das Becken. Wen dieses Bild nicht ergreift, den ergreift nie-
mals mehr etwas. Die Frau mit der Brille durchschwimmt den
Pool nach einem vorgegebenen Rhythmus. Am vorderen Rand der
Laenge nach brustschwimmend, dann in der Mitte rueckenschwim-
mend zurueck. Ganz dicht kommt sie an dem kleinen Maedchen
vorbei, da sie sich nicht umdreht und hinten keine Augen hat.

Die Gesichter der beiden begegnen sich. Das kleine Maedchen
lacht vergnuegt. Ihre Milchzaehne strahlen. Die Mimik der
Frau bleibt voellig unveraendert. Stumm und regungslos zieht
sie ihre Bahnen, eine nach der anderen. Keine Abweichung. Das
Gesicht voellig unveraendert. Abends ist sie im Restaurant
wieder zu sehen. Das Buffet beginnt um sechs. Um fuenf Minu-
ten vor sechs hat sie sich mit ihrem Mann an einem Platz am
Fenster hingesetzt. Reservierungen im Voraus sind nicht
moeglich. Ihr Gesicht ist immer noch voellig unveraendert.

Ihr Mann hat ein frisch gebuegeltes gestreiftes Oberhemd an,
das niemals einen Koffer von innen gesehen haben kann. Sein
Scheitel ist praezise gezogen, der Faconschnitt der Haare
perfekt. Die beiden essen schweigend. Gemeinsam trinken sie
eine Flasche Mineralwasser. Das Gesicht der Frau ist voellig
unveraendert. Das des Mannes ebenfalls. Die beiden blicken
jeder fuer sich im Restaurant herum. Die spaeter Gekommenen
sitzen nicht am Fenster. Manche lachen, manchen schmeckt das
Essen sichtlich. Einige trinken Bier, wenige Wein. Ein
Glueck, dass wir nicht so sind wie die, denkt die Frau. Doch
ihr Gesicht bleibt voellig unbeweglich.

Jeder Tisch wie eine Monade. Der Individualismus feiert jetzt
auch hier seine Triumphe. Doch sein Schicksal ist das Gleiche
wie ueberall. Je mehr die Menschen sich von den anderen ab-
setzen moechten, umso groesser wird die Konformitaet. Jedem
Individualisten und Egoisten sitzen die anderen, von denen er
sich absetzen moechte, ganz tief im eigenen Fleisch. Und je
mehr er strampelt, um so staerker schmerzt es. Das Gesicht
bleibt jedoch voellig unveraendert.

Der Abend geht zu Ende wie alle anderen Abende auch. Das
Buffet ist gut abgeraeumt, niemand ist betrunken, niemand ist
laut geworden, niemand ist aus der Reihe gefallen. Alle
Gespraeche bei Tischlautstaerke. Bei Neckermann kostet es ein
paar Euro weniger als bei TUI. Da hat man das Geld fuer
Kaffee und Kuchen wieder heraus. Doch das Gesicht bleibt
unbeweglich.

Soll man sich Sorgen um so ein Land machen? Sicher, es wird
keine grossen Experimente mehr geben und die Herausforderun-
gen der Zukunft wird man nur mittelmaessig bestehen. Doch
fast alle Katastrophen der Geschichte sind aus Experimenten
und Aktionismus entstanden. Der Ueberflieger kann durchaus
abstuerzen. Doch der Sitzenbleiber findet in der naechst
niedrigeren Stufe seinen Platz.

Soll man sich also Sorgen machen? Nein, denn es geht alles
seinen geordneten Gang. Und den wird es auch weiter so gehen.
Es gibt nur eine Tragik, doch sie ist keine oekonomische Ka-
tegorie: Das Gesicht bleibt dabei voellig unbeweglich.

++++++

Bernd Niquet ist Boersenkolumnist und Buchautor.
__________________
Wenn viele Anleger dasselbe glauben, dann muss dies noch lange nicht bedeuten, dass es stimmt oder wahrscheinlich ist. Das Gegenteil ist oft der Fall.
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