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Alt 16-05-2008, 11:40   #1
william hill
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Der Weltmarktverführer

Der Weltmarktverführer

von Lorenz Wagner (Windhagen)

Die Geschichte des Dorfes Windhagen klingt wie ein Märchen: Allein drei Weltmarktführer sitzen hier, Dutzende Firmen, und jedes Jahr kommen neue hinzu: Aber es ist kein Märchen. Es ist die Geschichte eines Mannes, der ein einzigartiges Hobby hat.


Irgendwo im Nirgendwo, zwischen Siebengebirge und Westerwald liegt ein Landstrich, in dem der Wind von vier Seiten pfeift und die Menschen lieber Kartoffeln als Blumen pflanzen. Die Hügel sind karg, die Äcker steinig, den Dörfern fehlt es an Licht und Trottoirs. Doch mitten in diesem toten, vergessenen Land liegt ein Dorf, das so anders ist als die anderen: Windhagen. Seine Gassen sind geputzt, die Kirche leuchtet, und am Marktplatz plätschert ein Brunnen vor sich hin. Josef Rüddel, der Bürgermeister, hat wahrlich viel vorzuweisen, wenn Besucher kommen. Und es kommen viele. Sogar der Dalai Lama war in Windhagen.

Am liebsten aber zeigt Rüddel den Gästen nicht das adrette Kirchdorf, nein, sein Mercedes biegt schon weit vorher ab, in eine Straße hinein, auf der matschige Reifenspuren kleben und sich Dieselgestank mit Landluft mischt. Hier gibt es ein Wunder zu erleben. Das Wunder von Windhagen.

"Dort links", sagt Rüddel mit rheinischer Singsangstimme, "liegt die Firma Batex, eine Topfirma, die machen Badezimmergarnituren, ich sage Ihnen, das läuft sehr gut. Daneben, das ist Noma, auch eine Superfirma, die machen Getriebe. Hier rechts, Noelken, Hygienesachen, die müssen jetzt erweitern. Dort die Firma Kornmeyer, Grafitverarbeitung, ich sag Ihnen, da läuft es, die sind doppelt so groß, wie sie mal waren, die Tennishalle da oben gehört ihnen auch. Da unten ist Geutebrück, Sicherheitstechnik, die sind Weltmarktführer. Und hier diese Firma, die macht nur Paletten für die anderen. Die Baustelle dort, da legen wir gerade Breitbandkabel. Und rechts die freie Fläche ist schon verkauft, an JK Ergoline, die sind Weltmarktführer für Solarien. Auch die Wiese links haben wir verkauft, die Firma kommt in einem Jahr, wir haben schon mal einen Wendehammer gebaut. So, und jetzt fahren wir zu Wirtgen. Auch eine Superfirma, Weltmarktführer, die beschäftigen hier mehr als 1200 Menschen."


"Mein Hobby ist es, Firmen anzusiedeln"

Der Bürgermeister redet und redet, dabei bräuchte er nur zu schweigen und zu fahren, man staunt auch so, über dieses Dorf. 600 Menschen leben in Windhagen, rechnet man die sechs Nachbardörfer ein, sind es 4500. Und doch ist Windhagen der Sitz von Dutzenden Firmen und gleich dreier Weltmarktführer. Und sie haben nicht zusammengefunden, weil sie Märkte und Wissen teilen, weil sie sich an ein Cluster, an ein Netz an Firmen und Forschern anschließen wollten. Sie sind nach Windhagen gekommen, weil das Dorf ihnen etwas bietet, was in Deutschland selten geworden ist: Freiheit.

Begonnen hat alles mit einem kleinen Mann mit weißem Haar, roter Haut und fleischigem Gesicht: Josef Rüddel. Er ist 83 Jahre alt und hat ein eigentümliches Freizeitvergnügen: "Mein schönstes Hobby ist es, Firmen anzusiedeln."

Als ihn die Windhagener vor 45 Jahren zum ersten Mal zu ihrem Bürgermeister wählen, ist ihr Dorf so arm wie die anderen in der Gegend. Gott scheint sie beim Verteilen seiner Schätze vergessen zu haben. Nur Wind und Steine haben sie im Überfluss, sie wurschteln auf ihren Höfen vor sich hin, nur von Zeit zu Zeit kommt etwas Glanz in die Gemeinde. Die Vorstände von Bayer haben die Jagd gepachtet.

Eines Tages hört der Bürgermeister, dass die Bayer-Tochter Agfa aus Leverkusen wegwill. Nach Bad Honnef, heißt es, keine 20 Kilometer von Windhagen entfernt. Also setzt er sich zu den Herren, trinkt einen mit und macht sie "parat", wie er es nennt: Sie brauchen Land? Besorge ich Ihnen. Straßen? Bauen wir. Elektrik und Wasser? Kein Problem! Genehmigungen? Sie scherzen! Gewerbesteuer? Sie werden erfreut sein!

Von nun an lockt Rüddel Firmen nach Windhagen, kleine Betriebe, Mittelständler, größere Firmen, alle im Ort verdienen mit, der Schmied, der Krämer, das "Hotel zur Post", und das Dorf, die Windhagener verändern sich. Was als Ansiedlung begonnen hat, wird zu einer Inspiration, in einige Einheimische fährt der Unternehmergeist, allen voran in Reinhard Wirtgen, der einen Betrieb für Baumaterialien gründet und Straßenfräsen baut - ein Zukunftsgeschäft in den Wirtschaftswunderjahren.

Der Bürgermeister hilft, wo er kann, besorgt Grundstücke, setzt sich mit dem neuen Freund zusammen. Sie planen und bauen, und die Firma wächst, und Windhagen wächst mit, das Dorf baut die Schulden ab und ist mit seinem Überfluss an Bauland und Mangel an Bürokratie bald ein Geheimtipp für Unternehmer. Und wer es noch nicht weiß, dem erklärt es Rüddel auf seine ganz besondere Art.

Eines Tages gesellt er sich in einer Bar zu Thomas Geutebrück. Der Gründer baut Sicherheitskameras, und sein Erfolg ist so groß, dass die Firma in ihrem Werk in Bad Honnef schier erstickt. Rüddel erzählt ihm, wie gut sich in Windhagen Geschäfte machen ließen, und verrät Geutebrück auch sonst alles Mögliche, etwa wo und wann er am besten anrufe - nur eine Sache, die verschweigt er: dass er der Bürgermeister der Gemeinde ist, auf die er gerade eine Ode singt. "Sie kenn ich doch!", staunt der Angelockte, als er sich nach einigen Telefonaten mit den Gemeinderäten trifft.


Ein Angebot, das man nicht ablehnen kann

"Es war ein Angebot, das wir nicht ablehnen konnten", sagt Katharina Geutebrück, die heutige Chefin. "So viel Platz, wie wir wollen, voll angeschlossen, für 15 Mark den Quadratmeter." Bad Honnef wollte 60 Mark. Und Windhagen liegt zwar in der Einöde, ist aber leichter zu erreichen als manche Stadt. Bis zur Autobahn sind es drei Kilometer, bis zum ICE-Bahnhof Siegen 30 Autominuten, bis zum Flughafen Köln-Bonn 40 Kilometer.

Von hier lassen sich leicht Geschäfte machen, sogar für Weltmarktführer. Da sind Ergoline, dessen Solarien zwei von drei Verbraucher kennen. Und Geutebrück, der in seiner Branche Siemens und IBM übertrumpft und im Mittleren Osten wächst. Und Wirtgen, der mehr als 1 Mrd. umsetzt und Rüddel bei seiner Besichtigungsfahrt den Stolz in die Stimme treibt.

Nur ungern lässt Wirtgen Fremde auf sein Gelände. Aber Rüddel braucht nur zu winken, schon schwingt das Tor auf. Haushohe Fräsen in militärischer Reihe. "Das sind Klamotten, gewaltig", sagt der Bürgermeister. Und er erzählt vom Aufstieg der Firma, als sei sie seine eigene, zeigt die Garage, in der alles begonnen hat, fährt weiter zum neuen Firmengelände, das Wirtgen von Agfa gekauft hat. "Wenn wir fertig sind, sind das 40 Hektar. Das alles kommt weg." Er deutet auf ein Häuschen. "Die kriegen ein neues Haus. Ist alles in der Mache, alles in der Reihe."

Alles in der Mache, alles in der Reihe - daraus entspringt Windhagens Erfolg. Auch andere Orte haben in ihrer Nähe Bahnhof, Autobahn und Flughafen. Aber sie haben keinen, der alles in die Reihe bringt. "Ohne Herrn Rüddel wäre das alles nicht möglich gewesen", sagt Katharina Geutebrück. Und Reinhard Wirtgens Sohn Jürgen lobt das "oft unkonventionelle Vorgehen" Rüddels. "Die Wege sind kurz und direkt. Der Standort Windhagen ist so erst groß geworden."

Lob überall. Und gar keine der üblichen Unternehmerklagen: über Bürokratie und Vorschriften, über Sachzwänge und den Menschen, der in Strukturen gefangen sei.

"Die Windhagener sind bereit, etwas anzupacken. Und dabei wird uns geholfen. Hier haut dir keiner die Paragrafen um die Ohren", sagt Martin Buchholz, ein Mittelständler, der alle zwei Jahre eine Gewerbeschau organisiert. Zuletzt haben 141 Firmen mitgemacht, es kamen 15.000 Besucher.

Und so weht ein besonderer Geist durch das Dorf. Der Windhagener ist frei. Für jeden, na ja, für fast jeden sächlichen Zwang gibt es einen menschlichen Ausweg. "Wir haben nicht so gerne mit Verordnungen zu tun", sagt Josef Rüddel. "Wir reden lieber mit den Leuten." Und ärgert sich ein Chef beim Kaffee darüber, dass er den Teich auf dem Firmengelände einzäunen muss, so kauft ihm die Gemeinde den eben ab.

Vielleicht ist es eine Frage der Generation. Rüddels Tun hat etwas von Wirtschaftswunder-Gebaren. Erst machen, dann fragen. Während der Nachbarort noch überlegt, ob er eine Taxikonzession vergibt, macht Rüddel dem Antragsteller schon ein Angebot. "So ist unser Josef", sagt der Taxiunternehmer. Die gleichen Worte sagt ein Chef, der vor einiger Zeit schnell anbauen wollte. "Da hat er gesagt: Fang einfach an, ich kümmere mich um die Genehmigung." Und er kriegte sie. Wenn Rüddel einen Baurat fürchtete, ging er eben zu dessen Sekretärin. Frauen können ihm nichts abschlagen, heißt es im Dorf.

So macht Rüddel seine Politik, so wird er seit vier Jahrzehnten gewählt und trotzt den Kritikern im Dorf, die sagen, Windhagen habe seine Tradition verkauft, sei von Firmen umzingelt und Enteignungen habe es auch gegeben. "Es ging immer ohne", widerspricht Rüddel. "Verfahren eingeleitet ja. Aber wir haben sie nie durchgezogen."

"Rüddel ist ein Schlitzohr", sagt ein befreundeter Architekt. - "Adenauer war auch ein Schlitzohr", sagt der Bürgermeister. "Was interessiert mich mein Geschwätz von gestern." Er hat viele solcher Sprüche drauf: "Das Geld gehört in die Wirtschaft. Wie schon Ludwig Erhard sagte." Gerade baut die Gemeinde für Wirtgen einen Tunnel. Und gerade hat sie die Gewerbesteuern gesenkt, um 20 Prozentpunkte.

Windhagen kann es sich leisten, hat einen Haushalt von 20 Mio. Euro. "Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen." Rüddel beugt sich vor, leckt die Lippen. Gleich zwei Kitas hat das Dorf, ein Designhotel, einen Golfplatz, ein Stadion mit Kunstrasen und eine Leichenhalle mit Platz für 80 Leute. Und da ist das Forum, der Bürgertreff mit 1500 Parkplätzen davor, oben, am höchsten Punkt Windhagens: ein Fest aus Glas und Beton, mit Sektbar und Spiegelsaal, Fußbodenheizung und 28-Meter-Bühne. "Wenn wir was machen, dann richtig", sagt Josef Rüddel beim Rausgehen.

Unten liegt das Dorf. Kleine Lichter im Kirchdorf, Flutlichter im Gewerbegebiet. "Früher war alles dunkel." Schweigen. Der alte Mann schaut auf sein Dorf.

Wie soll es weitergehen? 83 Jahre ist er alt. Im nächsten Jahr ist Wahl. Eigentlich wollte er aufhören. Aber er zaudert. "Noch ist ja nicht alles geregelt. Wir müssen dafür sorgen, dass die Firmen die nächsten 40 Jahre bleiben. Und der Wohnungsmarkt muss sich entwickeln. Und ich muss den Nachfolger einarbeiten. Dass es weitergeht. Um Gottes willen, es darf nicht zu Ende gehen."

Ein Kandidat wäre Rüddels Sohn Erwin. Er ist Beigeordneter im Gemeinderat. Aber Erwin hat Pläne. Er will in den Bundestag.

Vielleicht erlebt nach Windhagen nun auch Deutschland ein Wunder.

FTD.de

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Der Mann ist ein Kracher!
Wären nur 1% unserer Politiker aus diesem Holz geschnitzt, würde es
unserer Wirtschaft um mindestens 100% besser gehen!
Aber leider haben unsere Sesselpupser ja nichts anderes im Sinn, als
bestehende Bürokratie durch übergeordnete Bürokratie noch kompli-
zierter zu machen, als sie ohnehin schon ist.

Chapeau!
__________________
have a nice day

wh
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