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Alt 12-06-2006, 10:22   #1
simplify
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Rohstoffe, Seuchen, Migrantenströme

VON BURKHARD BISCHOF (Die Presse) 12.06.2006

Interview: Der Konfliktforscher Herfried Münkler über Probleme, die uns künftig am meisten beschäftigen werden.



Die Presse: Wenn Sie Ihren Blick über den Nahen und Mittleren Osten schweifen lassen: Riecht es da für den Kriegs- und Konfliktforscher Herfried Münkler im Umfeld des Iran nach einem neuen Krieg?



Professor Herfried Münkler: Ein gewisser Geruch ist schon da. Im Augenblick sehe ich aber keine aktuelle Kriegsgefahr. Krieg ist zwar eine Option, aber derzeit keine sehr wahrscheinliche. Solange die USA im Irak in derartigen Problemen stecken, werden sie die Finger von einem räumlich und bevölkerungsmäßig noch viel größeren Problem lassen. Auch die weltwirtschaftliche Abhängigkeit vom gesicherten Ölzufluss ist ein starker Indikator dafür, dass man versucht, unterhalb der Ebene einer militärischen Konfrontation die Sache zu regeln. Was man natürlich nie ausschließen kann, dass es wegen der Vielzahl involvierter Mitspieler zu einer plötzlichen Eskalation kommt.


Was einen Atomwaffenstaat Iran anbetrifft, gibt es ja auch die provozierende These: "More may be better". Soll heißen, je mehr Atomwaffenstaaten es in der Nahostregion gibt, desto eher wird das die dortige labile Sicherheitssituation stabilisieren, nicht destabilisieren. Sehen Sie das auch so?


Münkler: Das ist ein ganz schwieriger Punkt. Wovor wir im Westen uns ja vor allem fürchten, ist, dass es nicht beim Iran bleibt, sondern wenn der einmal Kernwaffen hat auch Ägypten, die Türkei, Syrien, Saudiarabien dazukommen. Ich bin nicht davon überzeugt, dass Atomwaffen Stabilität generieren. Die Verfügbarkeit über Atomwaffen bindet die Akteure ja vielfach mehr, als sie ihnen zusätzlich Optionen verschafft. Und der Nahe Osten ist eine besondere Region mit der völlig unklaren Aussicht, was einmal passieren wird, wenn nach einiger Zeit die Öleinnahmen zurückgehen. Werden diese Staaten, wie es sie gegenwärtig gibt, in zehn Jahren überhaupt noch existieren? Oder wird die nahöstliche Staatenwelt sich aufgelöst haben? In so einer Situation können Atomwaffen zur sicherheitspolitischen Katastrophe führen.


Auf der jetzigen Weltkrisenkarte sticht der Nahe und Mittlere Osten klar heraus. Sehen Sie auch noch andere potenzielle Gefahrenherde auf dieser Karte?


Münkler: Also die Region der Großen Seen im subsaharischen Afrika. Das ist ein Gebiet, in dem bereits seit zehn, 15 Jahren sich transnationale Kriege entwickelt haben. Der Krieg im Kongo etwa mit fast vier Millionen Toten ist der verlustreichste Krieg seit dem Zweiten Weltkrieg. Besorgniserregend ist auch die Entwicklung in Zentralasien und in Südostasien. Was sich in Mittelamerika und im nördlichen Südamerika durch die Machtübernahme national-chauvinistischer Präsidenten mit gewissen linkem Anstrichen entwickelt, ist noch nicht absehbar.


Es gibt also einen regelrechten Krisengürtel rund um die Weltkugel?


Münkler: Ja, einen Krisengürtel entlang der Wohlstandszone, der in Mittel/Südamerika beginnt, der den ganzen afrikanischen Kontinent erfasst und sich dann nach Zentral- und Südasien weiterzieht. Wenn man über diese Krisenkarte mit den aktuellen militärischen Konflikten auch noch die Karte mit gefährlichen gesellschaftlichen Faktoren, etwa HIV, legt, dann sieht man, dass es noch einen zweiten südlicheren Problemgürtel gibt: Seuchen, und alles was damit zusammenhängt. Ich habe schon früher festgestellt, dass eine der wahrscheinlich riskantesten und dramatischsten Entwicklungen des 21. Jahrhunderts die Amalgamierung von gewaltsamen Auseinandersetzungen mit Seuchen und Hungerepidemien sein wird. Aus diesem Grund gehöre ich auch nicht zu denen, die in Indien eine kommende Supermacht sehen.

Gilt das auch für China?


Münkler: Was die Kollegen da machen, ist, die gegenwärtigen Zuwachsraten zu extrapolieren und hochzurechnen. Was in ihren Berechnungen aber überhaupt nicht drinnen ist, sind die hunderte Millionen proletarisierter Bauern im Landesinnern. Und was sie obendrein nicht mitberechnet haben, sind die gewaltigen ökologischen Kosten, die in China anfallen. Der Preis der Modernisierungspolitik seit Mao ist gewaltig. Vor ein paar Tagen hat der Chef der chinesischen Umweltbehörde erklärt, die Entwicklung sei außer Kontrolle geraten. Die Rede ist von 200 Milliarden US-Dollar an Umweltschäden im Jahr. Also die Chinesen werden sehr mir ihren inneren sozialen und ökologischen Problemen beschäftigt sein.


Geografie ist die eine Sache: Wie setzt sich Ihre Liste der größten Gefahren zusammen?


Münkler: Die Probleme Nationalismus, Ethnoseparatismus, Identitätspolitik werden im globalen Maßstab keine so zentrale Rolle mehr spielen. Auf mittlere Sicht wird das Ressourcenproblem an Bedeutung gewinnen. Eine zentrale Rolle werden auch die Seuchenentwicklung sowie die Migrationsströme spielen. Kampf um Ressourcen, Epidemien, Migrationsströme sind die drei Punkte, die uns in der ersten Hälfte des 21. Jahrhunderts sicherheitspolitisch den meisten Kummer machen werden.

Was halten Sie von den bisherigen Bemühungen des Westens, sogenannte "failed states" wieder zu stabilisieren?


Münkler: Ich habe den Eindruck, dass der Versuch der Stabilisierung von "failed states" durch die Abhaltung von Wahlen, misslungen ist. Man muss klar sehen, dass in vielen dieser Staaten die Abhaltung von Wahlen die Konflikte nicht gelöst hat: nicht in Afghanistan, nicht im Irak und auch im Kongo wird es nicht so sein. Wenn man mit Wahlen nur korrupte Eliten austauscht, wird man nichts weiterbringen. Wir sollten uns deshalb wieder viel stärker auf die Ausbildung von Eliten konzentrieren, die korruptionsresistent sind.
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Der ideale Bürger: händefalten, köpfchensenken und immer an Frau Merkel denken
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