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Alt 13-02-2005, 17:25   #46
Tester32
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Original geschrieben von 621Paul
Hallo Tester,
vielen Dank für deinen obigen Beitrag.

Gruß
621Paul
Hallo Paul,

ich freue mich, daß Du meine Ausführungen gelesen hast und als interessant gefunden hast. Das war wirklich ein zeitaufwendiges Posting, an dessen Ende ich es fast bereut habe, daß ich es angefangen hatte (habe gerade nicht viel Zeit). Die angegebenen Preise sind übrigens Monatsgehälter, nicht jährlich. Man kann momentan in Dubai eine Menge mehr Kohle verdienen, als ich in München verdiene. Aber ich würde dann wohl in der Firma leben müssen, daher (noch) uninteressant.
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Alt 14-02-2005, 14:23   #47
621Paul
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Montag, den 14.02.2005

Die ultimative Provokation

Was ist die größte Provokation, die man heutzutage überhaupt begehen kann? Gibt es aktuell überhaupt noch einen Weg, so richtig zu provozieren? Lange Haare, Glatzenschnitt, Death Metal Musik, Brustimplantate – alles langweiliges Zeug. Gähn, haben wir gehabt, war schon gewesen. Es scheint nur noch eine echte Provokation zu geben – und dass ist, für die gegenwärtige US-Regierung zu sein und das augenblickliche Wirtschaftsverhalten in den USA zu loben. Doch muss eine gute Provokation natürlich fachlich solide untermauert sein.

Also los:

Die Sparquote in den USA ist auf 1 Prozent abgesunken, lautet der Kanon aller „Wirtschaftsexperten“ hierzulande. Die USA sparen nicht mehr, sondern konsumieren nur noch und leben unsäglich über ihre Verhältnisse. Lange kann das nicht gut gehen.

Das klingt zwar plausibel, ist jedoch völlig falsch. Denn die wirklichen Ersparnisse in den USA liegen gegenwärtig bei 18 % des BIP. Sie setzen sich nur anders zusammen als in unserem Lande, wo sie ebenfalls bei 18 % liegen. In den USA betragen die privaten Ersparnisse tatsächlich bei nur etwa 1 % des BIP, wohingegen wir etwa 10 % ausweisen. Doch daraus eine Überlegenheit des Deutschen Modells zu folgern, könnte falscher nicht sein.

Dazu folgende Überschlagsrechnung: Die Ersparnisse in jeder Volkswirtschaft müssen immer der Höhe der Investitionen entsprechen und setzen sich aus den Ersparnissen der privaten Haushalte, der Unternehmen, des Staates und (in Höhe des Außenbeitrages) des Auslandes zusammen.

In den USA ergibt sich dabei: Haushalt + 1%, Staat – 4%, Ausland +4%. Daraus folgt, dass in etwa 17 % des BIP im Unternehmenssektor gespart werden, hauptsächlich durch Lagerinvestitionen und nicht ausgeschüttete Gewinne, Rückstellungen und sonstige Eigenkapitalaufstockungen.

In Deutschland sparen die privaten Haushalte ungefähr 10 %, der Staat entspart 4 % und in das Ausland werden netto etwa 4 % exportiert, so dass auf das Unternehmenslager etwa 8 % entfallen.

In der Quintessenz bedeutet das: Während hierzulande die Unternehmen für ihre Investitionen etwa die Hälfte ihrer Mittel als Fremdmittel einwerben müssen, stehen den US-Unternehmen praktisch die gesamten Finanzierungsmittel als Eigenmittel zur Verfügung. Die Investitionen in den USA können daher viel unproblematischer durchgeführt werden als bei uns, wo alle Investmittel erst aufwändig und problembehaftet über Bankkredite und Ähnliches beschafft werden müssen.

Im Gegensatz zur öffentlichen Meinung zeigt eine niedrige Sparquote der privaten Haushalte in Verbindung mit einer hohen Gewinnquote der Unternehmen also keine Schwäche, sondern die Stärke einer Volkswirtschaft an. Die Unternehmen müssen viel verdienen; nicht die Haushalte müssen viel sparen. Dann flutscht es auch in der Wirtschaft. Ginge es nach unseren deutschen Vorstellungen, dann wären die Amis bald ebenso lahme Enten wie wir. Doch glücklicherweise geht es danach ja nicht.

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Wenn viele Anleger dasselbe glauben, dann muss dies noch lange nicht bedeuten, dass es stimmt oder wahrscheinlich ist. Das Gegenteil ist oft der Fall.
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Alt 16-02-2005, 13:52   #48
621Paul
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16.02.05
Wie in den besten Zeiten am Neuen Markt

In Italien kann man beim Lotto auch auf die Ziehung einzelner Zahlen wetten. Hier werden nicht wie bei uns wöchentlich 6 aus 49 Zahlen gezogen, sondern 5 aus 90. Bei einer Gleichmäßigkeit des Zufalls müsste also jede Zahl durchschnittlich bei jeder 18. Ziehung etwa einmal gezogen werden (5x18=90, dann sind alle einmal durch). Abweichungen gibt es natürlich, doch vor kurzem hat man ermittelt, dass die „53“ über 180 Ziehungen lang nicht gezogen worden ist.

In diesem Zeitraum haben viele Menschen ihre Waschmaschinen und Autos verkauft, Kredite auf ihre Häuser aufgenommen und Geld unterschlagen, nur um alles auf die „53“ zu setzen – und sich damit zu ruinieren. Glaubt man den Zeitungen, dann hat der italienische Fiskus in dieser Zeit alleine durch das Setzen auf diese Zahl 4,4 Mrd. (!) Euro eingenommen. (Und als sie schließlich gezogen wurde, nur 800 Mio. ausschütten müssen.)

Im Grunde genommen ging es hier also zu wie an der Börse. Doch während die Börse zu keinem Zeitpunkt klar objektiv zu analysieren und zu beurteilen ist, ist die Lotto-Geschichte relativ trivial. Denn da jeweils aus der vollen Grundgesamtheit gezogen wird, es sich also um wöchentlich eine „Ziehung mit Zurücklegen“ handelt, ist die Wahrscheinlichkeit, dass die „53“ gezogen wird, völlig unabhängig von der Anzahl ihrer Ziehungen in der jüngeren Vergangenheit. Irgendwann muss sie zwar gezogen werden, doch ihre Ziehung ist keineswegs wahrscheinlicher als die jeder anderen Zahl.

Die Lottospieler sind also verrückt – und handeln sogar extrem gegen ihre eigenen Interessen, da die Quote bei Ziehung dieser Zahl viel niedriger ist als bei jeder anderen Zahl.

Am Junk-Bond-Markt sind 4,4 Mrd. Euro keine besonders hohe Summe. Hier wird derzeit zu historisch niedrigen Zinsen geborgt, was das Zeug hält. Man ist fast an die beste Zeit des Neuen Marktes erinnert, denn jeder, der gerade einmal seinen Namen schreiben kann, findet momentan problemlos den Zugang zu den Finanztöpfen der Anleger.

Ausgehen wird dieses Spiel nicht anders als die Lotto-Geschichte in Italien. Das Risiko, lang und länger laufende Staatsanleihen zu halten, wird täglich größer Sollten die Zinsen wieder steigen, wird es hier deutliche Verluste geben. Bei den Junk-Anleihen werden sich diese Verluste dann über eine Ausweitung der Spreads regelrecht multiplizieren. Wer jetzt so etwas kauft, kann nicht recht bei Trost sein. Dann doch lieber Lotto spielen, denn da ist die Einsatzsumme gemeinhin deutlich kleiner.

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Alt 20-02-2005, 12:06   #49
621Paul
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Sonntag, den 20.02.2005

Eine grosse Konfusion

Von Dr. Bernd Niquet

"Die USA leben ueber ihre Verhaeltnisse. Dort muss mehr ge-
spart und weniger konsumiert werden. Und hierzulande muss
abgespeckt, muessen die Kosten und die Loehne/Lohnnebenkosten
gesenkt werden." So oder so aehnlich heisst es immer wieder
in der oeffentlichen Diskussion. Doch ist das eigentlich
richtig? Sind diese Sprechblasen, die heute bereits als All-
gemeinbildung gelten koennen, weil sie von allen, von Politi-
kern, Unternehmern bis hin zum Mann auf der Strasse bei jeder
Gelegenheit in identischer Form wiederholt werden, eigentlich
wahr?

In der Wirtschaftsbetrachtung ergibt sich sehr oft eine
grosse Konfusion, wenn einzelwirtschaftliche Tatbestaende auf
die Gesamtwirtschaft angewendet werden - also wenn das, was
einer macht oder machen soll, ploetzlich gedanklich auf alle
ausgedehnt wird. Senkt ein Unternehmen seine Kosten, indem es
Arbeitnehmer entlaesst und/oder die Lohnkosten drueckt, dann
kann es sich damit sanieren. Tun das jedoch alle Unternehmen,
dann muessen sie damit scheitern, da der Kostensenkung auf
Unternehmensseite stets eine proportionale Einkommenssenkung
auf der Haushaltsseite entspricht. Die von den Unternehmen
produzierten Gueter koennen folglich nicht abgesetzt werden.

Eine derartige Strategie kann daher nur dann aufgehen, wenn
die Unternehmen erstens ihre Produkte zum grossen Teil im
Ausland verkaufen und zweitens im Ausland eine derartige
Politik nicht verfolgt wird. Die Welt als Ganzes kann sich
jedoch nicht ueber Kostensenkungen sanieren, sie kann das nur
ueber Wachstum. Dieser Fall ist sicherlich leicht einzusehen
und zu verstehen, was sich auch daran zeigt, dass er in man-
chen Teilen unserer Gesellschaft ebenfalls zum Allgemein-
wissen aufgestiegen ist. In diesem Bereich gibt es also
gleichsam bereits zwei Arten von Allgemeinwissen, die sich
beide allerdings extrem widersprechen.

Viel schwieriger ist hingegen der Fall USA. Nehmen wir einen
US-Privathaushalt. Dieser Haushalt hat im Monat ein Einkommen
von 3.000 Dollar, die er voll ausgibt. Sparen will er nicht,
weil er das nicht muss, denn schliesslich besitzt er ein Haus
im Wert von 300.000 Dollar, also dem hundertfachen Monatsein-
kommen, sowie darueber hinaus noch Aktien im Wert von drei
Jahreseinkommen. Grosse Teile seines Einkommens gibt der
Haushalt im Ausland aus, denn in diesem Haushalt wird aus-
schliesslich original chinesisches Essen gegessen.

Lebt dieser Haushalt ein gefaehrliches Leben? Lebt er ueber
seine Verhaeltnisse? Schliesslich hat er doch eine Sparquote
von null und ein extrem hohes Leistungsbilanzdefizit mit dem
Ausland.

Nein, dieser Haushalt ist gesichert und lebt keinesfalls
ueber seine Verhaeltnisse. Warum sollen dann jedoch hundert
oder tausend oder viele Millionen derartiger Haushalte, die
einzeln nicht ueber ihre Verhaeltnisse leben, zusammen hin-
gegen sehr wohl ueber ihre Verhaeltnisse leben? Ist es wirk-
lich richtig, dass sie das tun?

Eine Antwort darauf ist schwer zu geben. Hier muessen sehr
komplexe Prozesse analysiert, sowie Vermoegenspositionen,
Leistungsfaehigkeiten und internationale Konkurrenzsitua-
tionen bewertet werden. An einfachen Daten wie der Sparquote
oder dem Leistungsbilanzdefizit kann man das jedoch nicht
festmachen. So etwas zu machen, hat letztlich keinen anderen
Stellenwert als beispielsweise aufgrund des Geburtszeitpunk-
tes eines Menschen auf seinen Charakter zu schliessen. Doch
so etwas soll es ja geben. Das jedoch zeigt nur: Manche Wirt-
schaftsdoktrinen haben letztlich keinen anderen Status als
die reine Sternendeuterei.
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Alt 21-02-2005, 15:07   #50
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Montag, den 21.02.2005
In dieser Woche kommt ein neuer Hollywood-Film mit dem schönen Namen „White Noise“ in unsere Kinos, der davon handelt, Botschaften von Verstorbenen aus dem Weltraum per Antenne und Tonbandgerät empfangen zu können. Man ist natürlich sofort an die Börse erinnert, denn sitzen hier nicht auch Zehntausende, ja Millionen täglich vor ihren Geräten und glauben, Stimmen zu hören?

Ob diese Stimmen nun von Verstorbenen aus dem Weltraum oder aus dem Markt kommen sollen, ist dabei letztlich egal. Ein Vertreter der Gesellschaft zur Untersuchung von Parawissenschaften sagt dazu, das alles wäre ein reines Wahrnehmungsphänomen. Das menschliche Gehirn sei so konditioniert, bekannte Muster zu erkennen, weshalb man selbst auf einem orientalischen Basar, auf dem niemand deutsch spricht, deutsche Worte hören wird, wenn man es darauf anlegt. Und dann kommt natürlich sofort auch noch das Massenphänomen hinzu: Einer hört etwas und sagt es – und plötzlich hören es auch alle anderen.

Während früher also der Onkel Egon in Klapse gekommen ist als er Stimmen gehört hat, wird er heute Marktanalyst und von einer internationalen Großbank mit viel Geld dafür bezahlt, herauszuhören, was der Markt uns zu sagen hat.

Aber auch ansonsten haben die Börse und der Weltraum durchaus eine Menge gemein: In beiden gibt es schwarze Löcher, verglühende Sterne und eine ganze Menge unendliche Dunkelheit und Ratlosigkeit. Eine Unendlichkeit und Unerfassbarkeit, mit der die Menschen einfach nicht leben können. Deswegen hören sie lieber Stimmen und sehen Bilder, die es gar nicht gibt, als sich einzugestehen, wie unwissend sie sind und für immer bleiben muss. Einbildung ist schließlich auch eine Bildung – und für viele die einzig mögliche. Gerade an der Börse.

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Alt 23-02-2005, 19:41   #51
621Paul
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Mittwoch, den 23.02.05

Die Blase am Aktienmarkt bis zum Jahr 2000 bestand darin, dass das Wachstum als beinahe unendlich angenommen wurde. Und nicht nur das. Es wurde strenggenommen gar nicht mehr über das Wachstum selbst gesprochen, sondern nur noch über das Wachstum des Wachstums – also über die Beschleunigung des Wachstums, über die bekannte Exponentialfunktion. Ich habe diese Zeit deshalb schon damals „Das Zeitalter der zweiten Ableitung“ genannt. Doch es währte ja nur recht kurz.

Heute gibt es wieder eine Übertreibung, schreiben die Leute von „Das Kapital“ in der FTD, doch dieses Mal liegt es nicht im Wachstum, sondern in den Annahmen zur Rentabilität der Unternehmen. Ich zitiere: „In Europa wird für 2005 im Mittel eine operative Marge von elf Prozent unterstellt, gegenüber etwa acht Prozent im langjährigen Schnitt ... Mikroökonomisch macht das Aktien wertvoll. Aber wiewohl die Globalisierung den Firmen derzeit zugute kommt, ist es makroökonomisch quasi undenkbar, dass diese Margen nachhaltig sind.“

Hier ist es wieder, mein Lieblingsthema, nämlich die Differenz zwischen dem Einzelnen und dem Aggregat. Ein einzelnes Unternehmen kann dauerhaft besser als im Schnitt verdienen. Alle Unternehmen können das jedoch nicht. Wenn nicht etwas ganz Besonderes passiert.

Aus meiner Sicht wird allerdings etwas ganz Besonderes passieren – doch das geht eher in die gegenteilige Richtung. Gegenwärtig profitieren die Unternehmen von den Kostenreduktionen. Doch da den Kostenreduktionen spiegelbildlich gleich hohe Einkommensreduktionen entsprechen, wird es auf der Absatzseite Probleme geben.

Und dann gibt es ja auch noch meine These von der „Rückkehr zum klassischen Szenario“. Man möge dazu einmal einen Blick in ein Makro-Lehrbuch werfen. Denn da steht: Im Gleichgewicht bei vollständiger Konkurrenz sind die Unternehmensgewinne gleich null. So wird das natürlich nicht eintreten, doch je größer die internationale Konkurrenz wird, umso größer der Druck auf die Preise und die Gewinne. Die Zukunft wird nicht unbedingt leicht werden.

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Alt 25-02-2005, 14:29   #52
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Freitag, den 25.02.2005

Ein Börsianer aus einem fernen Land findet in einem alten Buch der Wahrheiten, dass ein kleiner Kopf und ein langer Bart bei einem Mann ein untrügliches Zeichen von Dummheit sind. Er schaut in den Spiegel und sieht, dass das durchaus auch auf ihn auch zutrifft. „Nein, das kann nicht sein.“ Er stemmt sich gegen diese Wahrheit. Doch dann hält er es nicht mehr aus. Seine Kopfgröße kann er natürlich nicht verändern, doch dass Männer mit kleinem Kopf und kurzem Bart dumm seien, davon steht nichts im Buch der Wahrheiten.

Da er keine Schere zur Hand hat, greift er zum Leuchter ... Mit verbranntem Gesicht und schwarz vor Russ schreibt er noch kurz vor dem Abtransport ins Krankenhaus: „Dieser Satz hat sich auch in der Praxis als wahr herausgestellt.“

Ein Börsianer aus heimischen Landen liest in einer Zeitschrift der Wahrheiten, dass Börsenjahre, die mit einer „5“ enden, stets gute Börsenjahre sind. „Nein, das kann nicht sein. Es sprechen wirklich alle Fakten dagegen.“ Er stemmt sich gegen diese Wahrheit. Doch dann hält er es nicht mehr aus. Seine Order ist groß und treibt den Markt nach oben. „Ob die anderen auch in der Zeitschrift der Wahrheiten geblättert haben?“

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Alt 27-02-2005, 12:46   #53
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Das Wort zum Sonntag , den 27.02.2005

Das Psychogramm eines erfolgreichen Pessimisten

Von Dr. Bernd Niquet

Als der Boersianer noch ein kleiner Junge war, stritten die
Eltern oft. Er zog sich dann in sein Zimmer zurueck und ord-
nete seine Spielsachen. Angstvoll fragte er sich: "Was
passiert nur Schlimmes als naechstes?" Dann war wieder alles
gut. Fuer eine gewisse Zeit. Doch der naechste Streit wurde
noch heftiger, denn jetzt stritten die Eltern sogar ueber ihn
selbst. Er rannte in sein Zimmer, zog sich die Bettdecke
ueber den Kopf und ueberlegte: "Was passiert nur Schlimmes
als naechstes?"

Heute weiss er von all dem ueberhaupt nichts mehr. Man muss
es ihm sagen, denn die Erinnerung daran ist verschuettet. Und
waere sie nicht verschuettet, dann waere sie verblasst. Denn
die Zeit, die vergeht, neigt dazu, das Schlechte verschwinden
und das Gute bestehen zu lassen. Laengst vergangene Zeiten
sind immer gute Zeiten. Angst und Sorge liegen immer nur in
der Zukunft: "Was passiert nur Schlimmes als naechstes?"

Nur in seinem Zimmer war der Boersianer als Junge ungestoert.
Was fuer ein Glueck, dass er wenigstens diese Zuflucht hatte.
In seinem Zimmer entwickelte er alternative Welten, Welten,
in denen die Zukunft berechenbar war, in der nicht dauernd
Schlimmes befuerchtet werden musste. Denn das Schlimme war ja
bereits eingetreten, warum sich davor also noch fuerchten?
Wenn das Eintreffen des Allerschlimmsten bereits als Tatsache
behandelt wird, dann hat die Angst keine Grundlage mehr, dann
kann die Angst nicht mehr bohren und nicht mehr nagen. Der
Boersianer hat dieses Refugium zeitlebens nicht verlassen. Es
war ihm immer Stuetze und Halt.

Schon in fruehester Jugend hat der Boersianer jedem anerkann-
ten Wissen misstraut. "Hinter jeder Lektion steht ein per-
soenliches Interesse von jemandem", hat er schon zur Schul-
zeit gesagt. Er hat immer alles anders gesehen als alle sei-
ner Mitschueler. Darueber ist zum Aussenseiter geworden mit
dem man ueber nichts mehr reden konnte, weil er ueberall nur
boese Absichten gesehen hat. Selbst bei den Maedchen.

Dann kam irgendwann die grosse Krise. Er ist schlichtweg aus-
gerast bei der kleinsten Kleinigkeit. Am liebsten haette er
jeden, der ihn nur im Entferntesten stoerte, umgebracht. Die
ganze Welt haette er jetzt in die Luft sprengen koennen. Und
dann ist er krank geworden. Schwindelgefuehle, dauernde ra-
sende Kopfschmerzen. Sein Arzt riet ihm zu psychologischer
Hilfe. Doch so etwas haette der Boersianer niemals in An-
spruch genommen. Er war doch kein Schlappschwanz. Und an
diesem psychologischen Mist ist doch sowieso nichts dran,
dass wusste er eh.

Der Boersianer meisterte die Krise, in dem er sich ganz in
die Arbeit stuerzte. Morgens war er der erste im Buero und
abends sass er noch bis in die Nacht. Heute ist er der Leiter
der Handelsabteilung eines grossen Wertpapierhauses, hat eine
bildhuebsche Frau und zwei wohlerzogene Kinder. Seine drei
Autos sind allesamt schwarz, tragen seine Initialen im Kenn-
zeichen und sind stets blitzblank gewaschen. Seine Freunde
meinen, dass er seine damalige Krise blendend ueberstanden
hat.

In das Innere des Boersianers koennen wir nicht hinein
schauen. Doch wenn es die Boerse nicht gegeben haette, dann
waere er ganz sicher zum Terroristen geworden. So ist er aber
auch zum Terroristen geworden. Denn jede Marktwirtschaft, in
der Gutes getan wird, braucht dazu auch das Boese. Fuer je-
den, der an die Prosperitaet und an den Wohlstand glaubt,
braucht man ein Spiegelbild, der dem allem misstraut und ver-
kauft.

Nachts liegt der Boersianer oft wach im Bett. "Was passiert
nur Schlimmes als naechstes?" Das, was frueher eine existen-
tielle Bedrohung war, ist heute seine Existenz. So koennen
sich die Dinge im Leben umdrehen. Der Boersianer fuerchtet
das Schlimme nicht mehr. Das war einmal so. Heute hingegen
wettet er aggressiv und mit viel Geld auf sein Eintreffen.
"Was passiert nur Schlimmes als naechstes?" Morgens ist er
schon frueh aus dem Haus. Seine Kinder muessen heute zum
Schulpsychologen, weil sie ihre Fingernaegel bis zu den
Fingerkuppen abgenagt haben.

++++++

Bernd Niquet ist Boersenkolumnist und Buchautor.
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Alt 28-02-2005, 13:12   #54
621Paul
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28.02.2005
Es ist anscheinend mal wieder soweit: Überall liest und hört man derzeit Weltuntergangsstimmung an den Finanzmärkten. Die Kurse der Aktien und Bonds sind hoch – und der Pessimismus wächst beinahe ins Abstruse. Eigentlich ist das ein gutes Zeichen.

Doch die Argumente der Pessimisten sind natürlich überzeugend. Wenn man nicht weiter denkt. „Alle Experimente mit nicht metallgedecktem Geld sind in der Vergangenheit gescheitert“, lese ich gestern. Das ist natürlich schlimm – und das ist (fast) richtig. Dieser Satz ist ein schlimmer Satz, und er kann einem Angst und Bange machen. Krachen demnächst wirklich alle unsere Währungen zusammen? Und gibt es dann wieder einen Goldstandard oder Ähnliches?

Worüber jedoch niemand öffentlich redet, ist Folgendes: Alle Experimente mit metallgedecktem Geld sind in der Vergangenheit ebenfalls gescheitert. Oho.

Die Lage ist jedoch noch etwas krasser: Metallgedeckte Währungen sind bisher alle (!) gescheitert. Denn es gibt heute keine einzige mehr. Und das hat seinen guten Grund. Bei den Papierwährungen gibt es hingegen zumindest einen Fall, der bis heute Bestand hat. Es steht also 0:1.

„Das US-Leitungsbilanzdefizit ist kaum noch tragbar, weil der Rest der Welt es nicht mehr zu finanzieren bereit ist“, lese ich ebenfalls gestern. In der Tat, hier gibt es ein besorgniserregendes Ungleichgewicht. Das ist schlimm und kann einem Angst und Bange machen.

Doch was wäre eigentlich, wenn die USA kein Defizit, sondern einen Überschuss aufweisen würden? Dann würde Asien und Europa wirtschaftlich in einer tiefen Depression nieder liegen – und die USA müssten die gesamte Welt finanzieren. Und die selben Leute, die sich aktuell über das Damoklesschwert der hohen Dollarguthaben der Asiaten sorgen, würden dann die Katastrophe der fehlenden Dollarguthaben und der entsprechenden Kreditfinanzierung in Fremdwährung der Wirtschaften in Asien und Europa an die Wand malen.

Man kann es den Leuten eben einfach nicht Recht machen. Ist es so, dann ist es falsch. Ist es anders, ist es auch schlecht. Und selbst wenn es keine Bedrohungen mehr gäbe, dann, da bin ich ganz sicher, würden postwendend erfinderische Leute auftreten, die sofort eine neue Bedrohung erfunden hätten. Der Mensch ist eben ein erfinderisches wie furchtsames Wesen. Eine Zeit ohne Bedrohungen ist daher undenkbar. Wir sollten die gegenwärtigen Bedrohungen daher ruhig ausgiebig feiern. Denn sie sind die nahezu kleinsten, die man sich überhaupt vorstellen kann.

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Alt 02-03-2005, 14:40   #55
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Mittwoch, den02.03.2005
Für manche Dinge gibt es ganz präzise und klare Vergleiche. In den sechziger und siebziger Jahren lebten wir hierzulande wirtschaftlich wie in einem Zoo. In einem Zoo ist es eng und miefig, man kann keine großen Würfe machen, doch dafür findet jedes Töpfchen sein Deckelchen – und jeder hat täglich sein Fresschen.

Seit der Liberalisierung der Finanzmärkte – und ganz besonders seit dem Fall der Mauer zwischen Ost und West – sind die Gitterstäbe des Zoos verschwunden. Aus der Kulturlandschaft „Zoo“ ist wieder die freie Wildbahn geworden. Jetzt ist nichts mehr eng und miefig, heute kann, ja muss sich jeder selbst verwirklichen. Heute darf man sein Fresschen überall suchen und finden. Das Wildern ist zur neuen Ordnung geworden. Friss, finde dein eigenes Fresschen – oder stirb. So lautet heute die Maxime für die Unternehmenstierchen von heute. Dabei werden die einen dick wie die Walrosse und die anderen schmal wie die Eichhörnchen.

Und genau an dieser Stelle beginnt der Vergleich zu kippen. Denn wie würden sich verantwortungsbewusste Zoodirektoren diesem Wildwuchs gegenüber verhalten? Man würde sicherlich versuchen, die Tiere wieder einzufangen, ihnen Grenzen setzen, wo und wie sie sich ihr Futter beschaffen können.

Doch was tun unsere Zoodirektoren in Wirklichkeit? Sie werfen sich untertänigst auf den Boden und bitten die großen Tiere, doch lieb zu sein und sie nicht aufzufressen. Komische Zoodirektoren sind das, die da auf dem Boden kauern und nach der Pfeife der Tiere tanzen.

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Alt 06-03-2005, 10:38   #56
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Es war einmal ein Mann, der hatte Herzprobleme. Er ging zu einem Arzt. Der Arzt half ihm gut. Doch als er die Rechnung des Arztes sah, setzte sein Herzschlag aus und er starb.

Die internationale Finanzlage ist ebenfalls von einiger Komik gekennzeichnet. Einerseits will die ganze Welt den Amerikanern Waren verkaufen, andererseits wollen sie alle keine Dollars nehmen. Die Lösung dieses Problems ist eigentlich recht trivial. Es gibt drei verschiedene Lösungsmöglichkeiten:

(1) Wir verkaufen den Amis nichts mehr.
(2) Wir verkaufen weiter und hören auf zu jammern.
(3) Wir bleiben weiterhin die selben doppelmoraligen, tratschenden Klageweiber, Heulsusen und Muttersöhnchen, die wir schon immer waren.“

Was wird passieren? Ich tippe auf Variante (3). Mutti, Mutti, hilf uns. Diese gemeinen Amerikaner, die hauen uns ...

berndniquet@t-online.de

Bernd Niquet macht in der nächsten Woche Urlaub, so dass an dieser Stelle nur eine Kolumne (am Dienstag) erscheinen wird.



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Alt 06-03-2005, 10:51   #57
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Das wort zum Sonntag, den 06.03.05

Die oeffentliche Vernebelung

Von Dr. Bernd Niquet

Welcher Unterschied besteht eigentlich zwischen Sozialismus
und Demokratie hinsichtlich des Wissenserwerbs der Bevoelke-
rung? Bei ersterem wird der Wissensstand zentral vermittelt.
Und bei letzterem auch.

Dieser Befund ist erstaunlich, doch er ist in vielen Berei-
chen nicht von der Hand zu weisen. Der Wissensstand grosser
Teile der Bevoelkerung ist in vielen Bereichen derart uni-
form, dass einem das Grausen kommt. Nehmen wir als Beispiel
die Wirtschaft. Hier gibt es prinzipiell zu jeder Thematik
verschiedene Sichtweisen, doch durch permanente Wiederholun-
gen auf allen Ebenen unserer Gesellschaft (Unternehmensver-
baende, Politik, Medien) hat sich mittlerweile ein Dogma her-
auskristallisiert, welches die Mehrheit der Menschen mittler-
weile wohl schlichtweg fuer die Wahrheit haelt. In Wirklich-
keit handelt es sich jedoch nur um die Interessen einer
bestimmten Klientel - und damit um ein Halbwissen, aus dem
bewusst die zweite Haelfte ausgeblendet worden ist.

Wichtig fuer unsere Zukunft sind danach: Reformen, Flexibili-
taet, Steuerermaessigungen fuer Unternehmenssteuern,
Lohn(nebenkosten)senkungen, Kostenreduktion der Unternehmen,
Produktivitaetssteigerungen, Gewinnerhoehungen, Rueckfuehrung
des Staatsbudgets, des Staatsdefizits, der Staatsverschuldung
... Wir muessen also alles tun, so diese Sichtweise, dass den
Unternehmen ein guenstiges Szenario geboten wird, um hierzu-
lande wieder zu investieren.

Doch werden sie das tun? Natuerlich nicht! Denn wem sollten
sie schliesslich auch die Produkte verkaufen, die sie dann
zusaetzlich produzieren koennen? Die kann doch keiner kaufen,
wenn man vorher die Leute alle rausgeschmissen hat - und der
Staat auch nicht mehr handlungsfaehig ist. Darueber redet
freilich kaum einer, denn dann wird es ploetzlich kompliziert
und nicht mehr plakativ. Es geht ja auch nicht um das Ganze,
sondern nur um Partikularinteressen. Und die Unternehmen wer-
den natuerlich dennoch investieren. Vielleicht in eine Fabrik
in Indien oder auch in ein paar chinesische Aktien. Ist doch
auch gut so. Denn dann koennen wir alle stolz sein auf die
Groesse der deutschen Unternehmen. Wie die Kinder in den
Favelas von Rio auf ihre Fussballstars.

Einen anderen, noch leichter zu durchschauenden Fall hat mir
neulich ein netter und sehr kompetenter Mensch im Kaffeehaus
erlaeutert. Ueberall herrscht der Glaube vor, dass die US-
Konsumenten gut gegen Produktschaeden geschuetzt sind, weil
die Gerichte stets horrende Schadensersatzforderungen be-
schliessen. Was jedoch die meisten nicht wissen, ist, dass es
sich dabei ausschliesslich um Urteile der ersten Instanz
handelt. In der zweiten Instanz gibt es hingegen stets einen
Vergleich, ueber den alle Beteiligten dann jedoch schweigen
muessen. Die Zahlungen werden dadurch deutlich reduziert -
und fuer den klagenden Konsumenten bleibt durch hohe Streit-
werte und entsprechend hohe Gerichts- und Anwaltsgebuehren
meistens kaum noch etwas uebrig.

Alles sieht also danach aus, als ob der Konsument gut ge-
schuetzt ist. Doch er ist es nicht. Dieses System aufrecht zu
halten ist allerdings - trotz mancher zu leistender Zahlungen
- ein wunderbares Geschaeft, denn exakt dadurch laesst sich
die Einfuehrung eines fuer den Unternehmenssektor wirklich
kostentraechtigen Produkthaftungsgesetzes verhindern.

++++++

Bernd Niquet ist Boersenkolumnist und Buchautor.
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Wenn viele Anleger dasselbe glauben, dann muss dies noch lange nicht bedeuten, dass es stimmt oder wahrscheinlich ist. Das Gegenteil ist oft der Fall.
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Alt 08-03-2005, 13:39   #58
621Paul
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Dienstag, den 08.03.05

An den Finanzmärkten kann man genau die gleichen Phänomene beobachten wie in fast allen anderen Disziplinen des normalen Lebens auch. Passiert etwas, das einem Angst macht und das man daher nicht recht einordnen kann, dann muss etwas geschehen. Die erste Maßnahme ist stets, einen Namen für die Bedrohung zu finden.

Aufgrund meiner Liebe für aktuelle französische Literatur bin ich auf das bemerkenswerte Buch „Borderline“ von Marie-Sissi Labrèche gestoßen. Interessehalber habe ich anschließend einmal im Netz geschaut, was eigentlich unter dem Borderline-Phänomen zu verstehen ist und was es für Sachbücher zu diesem Thema gibt. Was ich gefunden habe, hat mich sehr überrascht. Keine Angst, ich verliere die Börse dabei nicht aus den Augen.

„Borderline“ ist die Bezeichnung für eine psychische Störung, die als Kombination von Neurose und Psychose auftritt – also etwas ganz Normales. Man hat also nur einen schicken neuen Namen für einen alten Hut gefunden, wahrscheinlich, um dadurch dem Staat neue Forschungsmittel für vermeintlich völlig neue Forschungsprojekte aus den Taschen zu ziehen.

Noch erstaunlicher ist jedoch, was die Leser von Sachbüchern über Borderline im Netz schreiben. Zwei exemplarische Beispiele: „Ich habe vor einigen Wochen selbst die Diagnose „Borderline“ bekommen und daraufhin unheimlich viele Bücher zu diesem Thema gelesen ...“ Und: „Wenn man gerade erfahren hat, dass man an Borderline leidet und noch keine Ahnung hat, was los ist, ist das Buch sehr hilfreich.“

Was geht hier nur vor? frage ich mich, habe die Antwort jedoch bereits gegeben: Es ist genau der gleiche Scheiß wie an den Finanzmärkten! Psychische Störungen kann man nicht dadurch bekämpfen, indem man ihnen ein Etikett anhaftet. Jemanden nach Hause zu schicken und ihm zu sagen, er habe „Borderline“, ist grotesk. Und – und das ist das Wichtige (!) – es verschlimmert die Situation für alle Beteiligten auf ungeheure Weise.

Plötzlich wird die Diagnose nämlich zur sich selbst erfüllenden Prophezeiung. Würde an den Finanzmärkten nicht die Mär umgehen, das US-Leistungsbilanzdefizit verursache eine Dollarkrise und führe damit die Weltfinanzen an den Abgrund, dann würde das US-Leistungsbilanzdefizit auch keine Dollarkrise verursachen und die Weltfinanzen nicht an den Abgrund führen.

Doch genauso wie man mit dem Patienten „Weltfinanz“ umgeht, geht man auch mit den kleinen Borderline-Mädchen um: Anstatt ihnen eine Therapie schmackhaft zu machen, und dann mal zu sehen, was passiert, drückt man ihnen einen dicken, schmerzhaften und niemals mehr abwaschbaren Stempel mitten ins Gesicht. Borderline, auf der Grenze balancierend, zum Absturz freigegeben. Hier wie da. Im Kleinen wie im Großen.

berndniquet@t-online.de

Urlaubsbedingt erscheint die nächste Kolumne von Bernd Niquet an dieser Stelle erst wieder am Montag, den 14. März.
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Alt 14-03-2005, 13:13   #59
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Was war die richtige Überlebensstrategie im Zeitalter der Herrschaft der Kirche? Auf die Knie fallen, den Kopf senken und auf die Wohltaten des Herren warten.

Und was ist die richtige Überlebensstrategie im Zeitalter der Herrschaft der liberalisierten Finanzmärkte? Auf die Knie fallen, die Unternehmenssteuern senken und auf deren Wohltaten warten.

Es hat sich also nicht viel geändert.

Die Amerikaner sind vielleicht fleißiger im Beten als wir, doch beim Bücklingmachen sind wir die Könige, wie unsere Geschichte zeigt. Am Donnerstag ist Bücklingsgipfel – um Kapitalanlagen in Deutschland muss man sich wohl keine Sorgen machen.

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Alt 20-03-2005, 17:26   #60
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Das Wort zum Sonntag, den 20.3.2005

Es bleiben nur noch Illusionen

Von Dr. Bernd Niquet

Die Medizin hat in den letzten Jahrzehnten unglaubliche Fort-
schritte gemacht. Heute sind Krankheiten in den Griff zu be-
kommen, an deren Heilung man vor einiger Zeit nicht zu denken
gewagt hat. Und was heute noch nicht heilbar ist, das ist
sicherlich morgen heilbar. Der Fortschrittsglaube ist nahezu
ungebrochen.

Ganz aehnlich sieht es auch in der Geldpolitik aus. An Fi-
nanzmarktkrisen wie 1998 und 2000 ff. waeren wir vor einigen
Jahrzehnten noch elendig verreckt - ganz aehnlich wie in den
Dreissiger Jahren. Doch heute haben wir das Wissen und die
Strukturen, ihren entgegen zu wirken.

Betrachten wir hingegen die Wirtschaftspolitik im engeren
Sinne, dann sieht es ploetzlich voellig anders aus. Hier wird
zwar munter darueber gestritten, wie man die Arbeitslosigkeit
am besten bekaempfen kann, doch dieser Streit vernebelt, dass
er letztlich voellig substanzlos ist. Es ist eine reine Spie-
gelfechterei, eine gigantische Taeuschung. Es wird so getan,
als ob es verschiedene Wege gaebe, unsere Volkswirtschaft
durch aktives Handeln wieder aus der Talsohle zu holen.

Es wird von beiden Seiten des politischen Lagers so getan,
als ob jetzt an aktivem Management mangele, als ob es mehrere
Wege gaebe, einen erfolgreichen und einen weniger erfolgrei-
chen - wobei man sich gegenseitig vorwirft, dass die andere
Seite den falschen und nur man selbst den richtigen Weg ver-
folgt. Ein nuechterner Blick auf die nackten Tatsachen hinge-
gen zeigt, dass es gar keinen Weg gibt, etwas gegen die ge-
genwaertige Malaise zu tun. Die Wirtschaftspolitik ist ausge-
reizt. Sie ist am Ende. Und das Einzige, was jetzt noch
uebrig bleibt, ist, sich zurueckzulehnen und zu sehen, was
passiert.

Was soll man auch tun? Die deutsche Volkswirtschaft hat kein
Kostenproblem, sondern ein Nachfrageproblem. Doch wie soll
man die Nachfrage stimulieren? Der Staat faellt aus, er ist
ueber beide Ohren verschuldet. Mehr Staatsnachfrage gaebe es
nur in Verbindung mit hoeheren Steuern, doch das bringt gar
nichts. Es bleiben also nur die Privaten. Doch angesichts der
Arbeitsplatzrisiken und der demografischen Katastrophe, die
uns erwartet, tun die Konsumenten gut daran, ihr Vermoegen zu
horten und nicht zu verausgaben. Wer soll also einspringen?
Die Unternehmen koennten es tun, doch die streichen die Sub-
ventionen und Steuervorteile ein, lachen sich ins Faeustchen
und gehen woanders hin.

Was soll man also tun? Man kann nichts mehr tun. Es muss auch
ohne ein Tun gehen. Es muss so gehen, und es wird auch so ge-
hen. Ausser Reden kann man nichts mehr tun. Aber das koennen
wir natuerlich sehr gut, ganz besonders in den politischen
Kreisen. Hier muss die Illusion aufrechterhalten werden, dass
man etwas tun kann, weil man selbst ja ansonsten keine Exis-
tenzberechtigung mehr vorweisen koennte. Und so streitet man
dann um jedes Zehntel Prozent Sozialabgabenveraenderung als
ob davon das Schicksal unseres Landes abhaengen wuerde.

Alexander von Schoenburg hat gerade ein bemerkenswertes Buch
veroeffentlicht mit dem Titel "Die Kunst des stilvollen Ver-
armens". Besser kann man den Zeitgeist gar nicht treffen,
denke ich. Nach dem Sozialismus ist fuer Schoenburg nun auch
Ludwig Erhards "Wohlstand fuer alle"-Ideologie gescheitert:
"Wir alle werden lernen muessen, in Zukunft mit weniger aus-
zukommen. Wer heute verarmt, muss sich nicht laenger als per-
soenlich Scheiternder fuehlen - er verarmt als Teil eines
uebermaechtigen Prozesses. Damit bekommt sein Schicksal eine
historische Dimension."

Wir muessen endlich von dem Ludwig Erhard-Mythos herunter
kommen, sagte auch mein alter Professor Riese neulich zu mir.
Wir muessen die Erhard-Zeit entmythologisieren. Ich werde in
der naechsten Woche ausfuehrlicher darauf zurueckkommen.

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