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Alt 13-02-2005, 07:54   #43
621Paul
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13.02.2005

Ein Alptraum?

Von Dr. Bernd Niquet

Eigentlich wollte ich ja nur das alte Schloss besichtigen.
Doch dann war ich der Einzige bei der Fuehrung - und auf
einmal war alles so neblig. Ploetzlich sah ich lauter
Menschen an Bildschirmen sitzen. Was machten die denn hier
in diesem alten Gemaeuer? Hier hat es frueher doch ganz
anders ausgesehen. Was war nur geschehen, dass in diesem
traditionellen Ort der Abgeschiedenheit ploetzlich die
moderne Zeit eingezogen ist? Das konnte wohl wirklich nur
ein Alptraum sein.

Ich naeherte mich den Leuten an den Bildschirmen und
schaute ihnen ueber die Schulter. Sie schienen mich
zwar zu bemerken, beachteten mich aber nicht. Nachdem
ich mich etwas akklimatisiert hatte, fragte ich einen
von ihnen, was sie hier denn machen wuerden.

"Wir stellen Forderungen an die Industrielaender, die
Steuern fuer unsere Unternehmen zu senken. Und wenn
sie das nicht tun, dann drohen wir, unsere Standorte
in Niedrigsteuerlaender abzuziehen."

"Und was ist, wenn sie darauf eingehen und die Steuern
senken?" wollte ich wissen.

"Dann gehen wir in die naechste Runde und fordern erneut
Senkungen", antwortete er.

Ich ahnte bereits, was er antworten wuerde, wenn ich ihn
fragen wuerde, was sie denn anschliessend tun wuerden.
Deshalb ging ich lieber zum naechsten Tisch hinueber und
fragte, was man denn dort gerade tat.

"Wir stellen Forderungen an die Industrielaender, die
Loehne zu senken. Und wenn sie das nicht tun, dann drohen
wir, unsere Standorte in Niedriglohnlaender abzuziehen."

"Und was ist, wenn sie darauf eingehen und die Loehne
senken?" wollte ich wissen.

"Dann gehen wir in die naechste Runde und fordern erneut
Senkungen", antwortete er.

Puuh, dachte ich, das ist ja ganz schoen hart. Doch ehe
ich weiter nachdenken konnte, zog eine Karawane
Familienvaeter durch den Raum, die alle mit einer Eisen-
kette an den Fuessen aneinander gekettet waren. Ich lief zu
ihnen herueber und fragte einen von ihnen, was das denn
zu bedeuten haette.

"Wir fordern eine Eigenkapitalrendite von 25 Prozent
auf unsere Ersparnisse", sagte er zu mir.

"Und warum sind Sie dann wie Sklaven aneinander
gefesselt?" fragte ich zurueck.

"Ich habe keine Ahnung", antwortete er, "denn natuerlich
machen wir das alles freiwillig."

Ich gab noch keine Ruhe. "Und wie wollen Sie das schaffen?"

"Es muessen so viele Leute herausgeschmissen werden, bis
die Zielmarke erfuellt ist." Er zeigte mit dem Finger auf
die beiden Tische mit den Bildschirmen, an denen ich
vorher gestanden hatte und sagte: "Und dann kommen ja
noch deren Bemuehungen hinzu."

"Aber was ist, wenn es nun genau ihre Arbeitsplaetze sind,
die durch ihre hohen Forderungen abgebaut werden? Sind
Sie dann nicht selbst schuld an ihrem Schicksal?"

"Das mag sein", gab er mir zu verstehen, "doch darauf koennen
wir keine Ruecksicht nehmen. An der oekonomischen Logik kommt
niemand vorbei. Die oekonomische Logik hat zwar manchmal
nichts mit der normalen Logik zu tun, aber das aendert
nichts an ihrer Wahrheit." Er drehte sich zu den anderen
Familienvaetern an und sagte: "Los, jetzt singen wir
unser Lied, das Hohelied auf die oekonomische Logik."

Spaetestens jetzt, dachte ich muesste ich wirklich aufwachen.
Ich kniff mich und biss mir in den Arm. Aber nichts
passierte.
Das, was passierte, das passierte draussen in der Welt.


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Bernd Niquet ist Boersenkolumnist und Buchautor.
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Wenn viele Anleger dasselbe glauben, dann muss dies noch lange nicht bedeuten, dass es stimmt oder wahrscheinlich ist. Das Gegenteil ist oft der Fall.
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