Einzelnen Beitrag anzeigen
Alt 06-03-2005, 10:51   #57
621Paul
TBB Family
 
Benutzerbild von 621Paul
 
Registriert seit: Jan 2004
Ort: Bayern
Beiträge: 10.026
Das wort zum Sonntag, den 06.03.05

Die oeffentliche Vernebelung

Von Dr. Bernd Niquet

Welcher Unterschied besteht eigentlich zwischen Sozialismus
und Demokratie hinsichtlich des Wissenserwerbs der Bevoelke-
rung? Bei ersterem wird der Wissensstand zentral vermittelt.
Und bei letzterem auch.

Dieser Befund ist erstaunlich, doch er ist in vielen Berei-
chen nicht von der Hand zu weisen. Der Wissensstand grosser
Teile der Bevoelkerung ist in vielen Bereichen derart uni-
form, dass einem das Grausen kommt. Nehmen wir als Beispiel
die Wirtschaft. Hier gibt es prinzipiell zu jeder Thematik
verschiedene Sichtweisen, doch durch permanente Wiederholun-
gen auf allen Ebenen unserer Gesellschaft (Unternehmensver-
baende, Politik, Medien) hat sich mittlerweile ein Dogma her-
auskristallisiert, welches die Mehrheit der Menschen mittler-
weile wohl schlichtweg fuer die Wahrheit haelt. In Wirklich-
keit handelt es sich jedoch nur um die Interessen einer
bestimmten Klientel - und damit um ein Halbwissen, aus dem
bewusst die zweite Haelfte ausgeblendet worden ist.

Wichtig fuer unsere Zukunft sind danach: Reformen, Flexibili-
taet, Steuerermaessigungen fuer Unternehmenssteuern,
Lohn(nebenkosten)senkungen, Kostenreduktion der Unternehmen,
Produktivitaetssteigerungen, Gewinnerhoehungen, Rueckfuehrung
des Staatsbudgets, des Staatsdefizits, der Staatsverschuldung
... Wir muessen also alles tun, so diese Sichtweise, dass den
Unternehmen ein guenstiges Szenario geboten wird, um hierzu-
lande wieder zu investieren.

Doch werden sie das tun? Natuerlich nicht! Denn wem sollten
sie schliesslich auch die Produkte verkaufen, die sie dann
zusaetzlich produzieren koennen? Die kann doch keiner kaufen,
wenn man vorher die Leute alle rausgeschmissen hat - und der
Staat auch nicht mehr handlungsfaehig ist. Darueber redet
freilich kaum einer, denn dann wird es ploetzlich kompliziert
und nicht mehr plakativ. Es geht ja auch nicht um das Ganze,
sondern nur um Partikularinteressen. Und die Unternehmen wer-
den natuerlich dennoch investieren. Vielleicht in eine Fabrik
in Indien oder auch in ein paar chinesische Aktien. Ist doch
auch gut so. Denn dann koennen wir alle stolz sein auf die
Groesse der deutschen Unternehmen. Wie die Kinder in den
Favelas von Rio auf ihre Fussballstars.

Einen anderen, noch leichter zu durchschauenden Fall hat mir
neulich ein netter und sehr kompetenter Mensch im Kaffeehaus
erlaeutert. Ueberall herrscht der Glaube vor, dass die US-
Konsumenten gut gegen Produktschaeden geschuetzt sind, weil
die Gerichte stets horrende Schadensersatzforderungen be-
schliessen. Was jedoch die meisten nicht wissen, ist, dass es
sich dabei ausschliesslich um Urteile der ersten Instanz
handelt. In der zweiten Instanz gibt es hingegen stets einen
Vergleich, ueber den alle Beteiligten dann jedoch schweigen
muessen. Die Zahlungen werden dadurch deutlich reduziert -
und fuer den klagenden Konsumenten bleibt durch hohe Streit-
werte und entsprechend hohe Gerichts- und Anwaltsgebuehren
meistens kaum noch etwas uebrig.

Alles sieht also danach aus, als ob der Konsument gut ge-
schuetzt ist. Doch er ist es nicht. Dieses System aufrecht zu
halten ist allerdings - trotz mancher zu leistender Zahlungen
- ein wunderbares Geschaeft, denn exakt dadurch laesst sich
die Einfuehrung eines fuer den Unternehmenssektor wirklich
kostentraechtigen Produkthaftungsgesetzes verhindern.

++++++

Bernd Niquet ist Boersenkolumnist und Buchautor.
__________________
Wenn viele Anleger dasselbe glauben, dann muss dies noch lange nicht bedeuten, dass es stimmt oder wahrscheinlich ist. Das Gegenteil ist oft der Fall.
621Paul ist offline   Mit Zitat antworten