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Alt 08-03-2005, 13:39   #58
621Paul
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Dienstag, den 08.03.05

An den Finanzmärkten kann man genau die gleichen Phänomene beobachten wie in fast allen anderen Disziplinen des normalen Lebens auch. Passiert etwas, das einem Angst macht und das man daher nicht recht einordnen kann, dann muss etwas geschehen. Die erste Maßnahme ist stets, einen Namen für die Bedrohung zu finden.

Aufgrund meiner Liebe für aktuelle französische Literatur bin ich auf das bemerkenswerte Buch „Borderline“ von Marie-Sissi Labrèche gestoßen. Interessehalber habe ich anschließend einmal im Netz geschaut, was eigentlich unter dem Borderline-Phänomen zu verstehen ist und was es für Sachbücher zu diesem Thema gibt. Was ich gefunden habe, hat mich sehr überrascht. Keine Angst, ich verliere die Börse dabei nicht aus den Augen.

„Borderline“ ist die Bezeichnung für eine psychische Störung, die als Kombination von Neurose und Psychose auftritt – also etwas ganz Normales. Man hat also nur einen schicken neuen Namen für einen alten Hut gefunden, wahrscheinlich, um dadurch dem Staat neue Forschungsmittel für vermeintlich völlig neue Forschungsprojekte aus den Taschen zu ziehen.

Noch erstaunlicher ist jedoch, was die Leser von Sachbüchern über Borderline im Netz schreiben. Zwei exemplarische Beispiele: „Ich habe vor einigen Wochen selbst die Diagnose „Borderline“ bekommen und daraufhin unheimlich viele Bücher zu diesem Thema gelesen ...“ Und: „Wenn man gerade erfahren hat, dass man an Borderline leidet und noch keine Ahnung hat, was los ist, ist das Buch sehr hilfreich.“

Was geht hier nur vor? frage ich mich, habe die Antwort jedoch bereits gegeben: Es ist genau der gleiche Scheiß wie an den Finanzmärkten! Psychische Störungen kann man nicht dadurch bekämpfen, indem man ihnen ein Etikett anhaftet. Jemanden nach Hause zu schicken und ihm zu sagen, er habe „Borderline“, ist grotesk. Und – und das ist das Wichtige (!) – es verschlimmert die Situation für alle Beteiligten auf ungeheure Weise.

Plötzlich wird die Diagnose nämlich zur sich selbst erfüllenden Prophezeiung. Würde an den Finanzmärkten nicht die Mär umgehen, das US-Leistungsbilanzdefizit verursache eine Dollarkrise und führe damit die Weltfinanzen an den Abgrund, dann würde das US-Leistungsbilanzdefizit auch keine Dollarkrise verursachen und die Weltfinanzen nicht an den Abgrund führen.

Doch genauso wie man mit dem Patienten „Weltfinanz“ umgeht, geht man auch mit den kleinen Borderline-Mädchen um: Anstatt ihnen eine Therapie schmackhaft zu machen, und dann mal zu sehen, was passiert, drückt man ihnen einen dicken, schmerzhaften und niemals mehr abwaschbaren Stempel mitten ins Gesicht. Borderline, auf der Grenze balancierend, zum Absturz freigegeben. Hier wie da. Im Kleinen wie im Großen.

berndniquet@t-online.de

Urlaubsbedingt erscheint die nächste Kolumne von Bernd Niquet an dieser Stelle erst wieder am Montag, den 14. März.
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Wenn viele Anleger dasselbe glauben, dann muss dies noch lange nicht bedeuten, dass es stimmt oder wahrscheinlich ist. Das Gegenteil ist oft der Fall.
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