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Alt 04-12-2005, 11:04   #110
621Paul
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Die Grenzen des Wachstums

Von Dr. Bernd Niquet

Kapitalgelenkte Marktwirtschaften haben stets etwas von einem
Schneeballsystem. Das mag auf den ersten Blick wie eine linke
Phrase klingen, erweist sich bei naeherem Hingucken jedoch
als nuechterner Fakt. Wir muessen immer weiter wachsen,
ansonsten kann das System in eine Krise geraten. Das hat
einerseits sehr viel mit der menschlichen Natur zu tun, ande-
rerseits aber auch mit den Funktionsbedingungen des Kapita-
lismus.

Menschen wollen stets mehr verdienen und mehr haben. Die
Arbeitnehmer wollen hoehere Loehne, die Konsumenten mehr
kaufen und die Kapitalanleger hoehere Ertraege. Fuer den Pro-
duktionsprozess bedeutet das: Es muss stets mehr herauskommen
als hinein gesteckt wurde, da nicht nur die Vorprodukte und
die Loehne erwirtschaftet werden muessen, sondern auch die
Bedienung des Eigenkapitals respektive die Zinsen auf Fremd-
kapital.

Wir sind also dazu verdonnert, immer weiter zu wachsen. Inso-
fern entspricht der Kapitalismus vollstaendig den menschli-
chen Praeferenzen. Temporaere Phasen des Stillstandes sind
durchaus denkbar - und ebenfalls mit der menschlichen Natur
kompatibel. Dauern sie jedoch laenger an, dann wird es auf
der Kapitalseite kritisch. Denn das Kapital, das nicht mehr
aus Ertraegen bedient werden kann, wird notleidend. Passiert
dies im grossen Stil, dann entsteht die Gefahr einer kumula-
tiven Entwicklung, einer kumulativen Abwaertsspirale.

Entscheidend fuer den Wachstumsprozess ist die Entwicklung
neuer Produkte und damit neuer Beduerfnisse. Natuerlich haben
heutzutage Familien, die wirklich etwas auf sich halten,
nicht nur einen, sondern bereits zwei oder drei Gelaendewagen
vor der Tuer. Doch die Grenze ist absehbar. Spaetestens bei
fuenf Gelaendewagen wird auch der Letzte den Ueberblick ver-
lieren. Um dann noch vorwaerts zu kommen, benoetigen wir Hub-
schrauber, Flugzeuge, Sexmaschinen, virtuelle Realitaeten.
Oder etwas ganz anderes. Denn das Entscheidende an jeder
wirklichen Entwicklung ist, dass man sie inhaltlich nicht
antizipieren kann. Wir wissen nicht, was die naechsten Erfin-
dungen und neuen Produkte sein werden. Wir wissen nur, es
wird welche geben.

Der Preis fuer ein derartiges Leben im Wohlstand ist natuer-
lich nicht zu vernachlaessigen. Ich kann mich noch sehr gut
an die Sechziger Jahre erinnern. Damals reichte ein Arbeits-
einkommen aus, um eine Familie zu ernaehren. Kindergarten
waren Phaenomene der Unterschicht, in der Mittelschicht auf-
waerts blieb stets ein Elternteil zu Hause. Und selbst wenn
Vater selbstaendig war, dann kam er doch abends zum Abendbrot
stets wieder zu Hause. Dringende Termine, noch schnell etwas
fertig zu machen, gab es nicht. Die Maerkte waren abgeschot-
tet, die Unternehmen hatten ihre Nischen. Die Gewinne waren
hoeher als sie bei liberalisierten Maerkten entstanden wae-
ren. Die Preise allerdings auch. Die Ueberschuss-Ertraege
konnten an die Arbeitnehmer ausgeschuettet werden. Das nannte
sich Soziale Marktwirtschaft.

Doch auf welchem Niveau haben wir damals gelebt? Nur ein paar
Familien in der Strasse hatten ein Auto. Urlaub, wenn es hoch
kam, einmal im Jahr in Oesterreich. Und Essen gehen nur an
Geburtstagen oder Feiertagen.

War das besser oder schlechter als heute? Ich moechte als
Antwort eine Jugendgeschichte zitieren, die ich selbst erlebt
habe. Auch hier ging es um Expansion, um die Lust und die Un-
lust an dem Neuen. Bei einer Klassenfete bestuermten alle den
koerperlich etwas zurueckgebliebenen Peter doch endlich ein-
mal mit Hilde, die nicht aussah, als ob sie mit Jungs etwas
zu tun haben wollte, zu tanzen.

Es entspann sich folgender Dialog:
"Hilde, hast du mal Lust zu tanzen?"
"Nein, habe ich nicht", antwortet sie.
Peter ist sichtlich erleichtert und sagt:
"Ein Glueck, ich habe naemlich auch keine Lust."

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Bernd Niquet ist Boersenkolumnist und Buchautor.
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Wenn viele Anleger dasselbe glauben, dann muss dies noch lange nicht bedeuten, dass es stimmt oder wahrscheinlich ist. Das Gegenteil ist oft der Fall.
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