Die erste wirklich globale Börse
Zum Wochenschluss blickt die Wall Street ganz auf…die Wall Street. Denn mitten im Gewühl, zwischen Händlern auf dem Parkett und Managern in der Kantine, zwischen Papierschnipseln auf dem Boden und dem Leuchtdisplay mit dem Dollarkurs ereignet sich ein spektakulärer Merger, der die Wall Street für immer verändern wird.
Die NYSE Group schließt sich in einem 15 bis 20 Milliarden Dollar schweren Deal mit der Euronext zusammen. Der Merger kommt nicht ganz überraschend. Seit Tagen wird über den Stand der Verhandlungen zwischen New York und der pan-europäischen Börse spekuliert, und erst am Donnerstag hörten Aleger bei der ersten Jahreshauptversammlung, dass ein Merger durchaus „in den nächsten Tagen“ bekannt gegeben werden könnte.
So schnell hatte man dennoch nicht damit gerechnet. Doch steckt die altehrwürdige New York Stock Exchange nun eben mitten in einer Umbruchphase, wandelt sich vom elitären Alt-Herren-Club mit eigenem Friseur und verschworenen Ritualen zu einem modernen Konzern mit Aktionären und globaler Perspektive. Den Schwung, den die NYSE Group seit ihrer Entstehung aus dem Merger mit ArcaEx und der Emmission eigener Aktien vor knapp drei Monaten gewonnen hat, nutzt CEO John Thain jetzt voll aus.
Das Ergebnis kann sich sehen lassen. Das neue Unternehmen, das unter NYSE Euronext firmieren soll, bietet künftig Aktien-, Options- und Futureshandel fast rund um die Uhr. Das gemeinsame Handelsvolumen dürfte bis zu 100 Milliarden Dollar pro Tag betragen. Die an NYSE und Euronext notierten Unternehmen kommen auf einen gemeinsamen Marktwert von 27 Billionen Dollar.
Damit hängt das Unternehmen die Nasdaq sowie die Börsen in London und Tokio – bisher die Nummern zwei, drei und vier der Branche – deutlich ab. Experten rechnen damit, dass die Konsolidierung im Börsensektor weitergeht. Als nächstes könnte sich die Nasdaq London einverleiben, wo man schon mehr als ein Viertel der Anteile hält. Und auch die Deutsche Börse ist weiter an Wachstum interessiert. Aus einem eigenen Euronext-Deal dürfte zwar nichts mehr werden, der Trend zu einer eigenen Akquisition ist aber klar. Worauf NYSE-Chef John Thain stolz sein kann: Unter seiner Führung hat ausgerechnet die einst so schwerfällige NYSE den Stein ins Rollen gebracht.
Die NYSE und Euronext verstehen den Deal als Merger und gleichberechtigten Partnern. Allerdings werden elf von zwanzig Vorstandsposten von der NYSE besetzt und nur neun von der Euronext. NYSE-Chef John Thain wird das neue Unternehmen, einen amerikanischen Konzern mit dem Namen NYSE Euronext, leiten. Der bisherige Euronext-Chef Jean-Francois Theodore wird sein Vize und Chef des internationalen Geschäfts.
Für Aktionäre gestaltet sich das Geschäft wie folgt: Euronext-Eigner werden für jede Aktie 0,98 NYSE-Euronext-Papiere und 21,32 Euro erhalten, dazu gibt es eine einmalige Sonderdividende von 3 Euro. Zweifler können sich indes für eine All-Cash-Option entscheiden und sich im Rahmen des Mergers aus der Euronext auskaufen lassen. Doch dürfte es nicht allzuviele geben, die angesichts der global interessanten Strategie des neuen Handelskonzerns die Flucht ergreifen wollen – denn Optimismus ist allerorten zu spüren. Sandler O’Neill und J.P. Morgan äußern sich in Analysen am Freitagmorgen optimistisch zu dem Merger.
Die Experten berufen sich vor allem auf die zu erwartenden Kostensenkungen und den Fortschritt, den die NYSE in Richtung des elektronischen Handels erfahren könnte. Die NYSE Euronext kann mehrere bestehende Handelssysteme verbinden, die virtuelle Infrastruktur ausbauen und damit gleichzeitig regional unterschiedliche Stärken ausgleichen. Die nämlich sollen beibehalten werden: In New York wird weiterhin der Schwerpunkt auf Aktien liegen, in London auf Futures und Optionen, die Schwesterbörsen in Paris, Brüssel und Lissabon werden ihre eigenen Märkte betreuen und an das erste wirklich globale Netz anschließen können.
Markus Koch © Wall Street Correspondents Inc
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