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Alt 09-07-2006, 09:51   #137
621Paul
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Die kleinen Moritze

von Dr. Bernd Niquet

Neulich war ich wieder einmal auf einem Seminar. Wie steht es
um die Welt und um die Weltfinanzen? Ein junger Mann ergreift
sein Notebook und bringt eine PowerPoint-Praesentation: Ja-
pans Waehrungsreserven haben sich zwischen Januar 2003 und
Maerz 2004 fast verdoppelt, Chinas Waehrungsreserven reichen
trotzdem schon beinahe daran, insgesamt liegen ueber 52 Pro-
zent der US-Staatsanleihen im Ausland, die US-Schulden betra-
gen ueber 300 % der Wirtschaftsleistung - kurzum, das kann
alles nicht mehr lange weiter gehen und ist zum Untergang
verurteilt.

Der junge Mann ist ein sehr junger Mann. Wenn es lange ist,
wird er vielleicht fuenf oder sechs Jahre sich aktiv mit der
Materie befasst haben. Er erzaehlt von der Zwangslage des US-
Notenbankpraesidenten, die aus obiger Situation resultiert.
"Egal was dieser machen wird", so der sehr junge Mann, "er
kann dabei nur scheitern." Erhoehe er die Zinsen weiter,
wuerge er die Wirtschaft ab und dadurch wuerden die Probleme
nur noch groesser werden. Damit stabilisiere man zwar den
Dollar, aber dann gehe die Wirtschaft in die Knie. Erhoehe
er die Zinsen jedoch nicht, dann gehe der Dollar in den Kel-
ler und reisse das gesamte System aus den Angeln. "Wenn man
mich fragen wuerde", schliesst er, "ob ich den Job von Ben
Bernanke machen wuerde, ich wuerde "nein" sagen!"

Der junge Man, der wirklich noch sehr jung ist, hat in den
fuenf oder sechs Jahren, die er sich jetzt mit der Materie
beschaeftigt, gelernt, das Weltfinanzsystem als eine Maschine
zu sehen, die vor ihm steht und die wie ein mechanisches Sys-
tem funktioniert. Dieses System kann man erkunden und weiss
dann, wie es funktioniert. Fuer diesen sehr jungen Mann ist
das Weltfinanzsystem eine kleine mechanische Maschine, deren
Funktionsweise er in Gaenze uebersieht und beurteilen kann.
Und da das Weltfinanzsystem nur eine kleine mechanische Ma-
schine ist, glaubt der noch sehr junge Mann, dass er spiegel-
bildlich dazu sehr gross sei, weil er eben vor dieser mecha-
nischen Maschine steht und sie und ihre Funktionsweise in
Gaenze ueberblicken und ihren Mechanismus mit apodiktischer
Richtigkeit erkennen und beurteilen kann.

Das wirkliche Problem unserer Gegenwart und Zukunft ist je-
doch: Die Welt wird ueberschwemmt von kleinen Moritzen, die
sich selbst nicht fuer kleine Moritze halten und folglich
erstaunt darueber sind, warum die anderen (kleinen Moritze)
das, was sie selbst sagen, nicht verstehen, nicht sehen,
nicht begreifen wollen, koennen oder duerfen - und daher auch
nicht die notwendigen Schluesse und Handlungen daraus ergrei-
fen wollen, koennen oder duerfen.

Die ganze Welt wird von kleinen Moritzen ueberschwemmt, die
glauben, die Dinge dieser Welt waeren kleine Maschinen, die
man in kleine Schachteln stecken und die man in Gaenze ueber-
blicken und verstehen koennte, weil sie ja allesamt nur nach
mechanischen Gesetzen funktionieren wuerden. Wobei allenfalls
das richtig ist, dass man die kleinen Moritze, die sich als
gross und die mechanischen Maschinen weit ueberblickend ver-
stehen, selbst als mechanische Maschinen begreifen kann, die
stets nach vorgegeben Gesetzmaessigkeiten funktionieren, was
allerdings nicht allzu viel heisst. Was einen aber auch vor
den groebsten Formen der Selbstueberschaetzung und den gigan-
tischsten Anfaengerfehlern bewahren sollte.

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Bernd Niquet ist Boersenkolumnist und Buchautor.
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Wenn viele Anleger dasselbe glauben, dann muss dies noch lange nicht bedeuten, dass es stimmt oder wahrscheinlich ist. Das Gegenteil ist oft der Fall.
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