Demenzstation Deutschland
von Dr. Bernd Niquet
"Wo finde ich denn bitte die Station 4?" frage ich den
Pfoertner am Eingang.
"Das vierte Reich?" antwortet er mit einem Zwinkern in den
Augen, "diesen Weg dort, immer gerade aus. Dann kommen Sie
direkt zum Schwesternzimmer."
Im Tagesraum sitzt der Praesident der Industrie- und Handels-
kammer in einem Rollwagen, der eher an das Gefaehrt des Paps-
tes als an einen Rollstuhl erinnert. Mit ausladenden Gesten
redet er auf seinen Sohn ein, der neben ihm sitzt: "Ich sage
dir, wir muessen das Land weiter reformieren. Das habe ich
schon immer gesagt, und das werde ich auch weiter sagen."
"Ja Vater, es ist ja gut", beschwichtigt sein Sohn.
Der Praesident der Industrie- und Handelskammer faehrt mit
seinem Rollwagen einen halben Meter zurueck, dreht die Raeder
zur Seite und wirkt kurzzeitig irritiert. "Wo bin ich hier
eigentlich?" fragt er seinen Sohn.
"Du bist im Krankenhaus", luegt dieser ihn an.
"Ach so. Und was habe ich?"
"Nichts Schlimmes. Es ist nur dein Gedaechtnis. Und hier ver-
sucht man deine Medikamente noch etwas besser einzustellen."
"Mein Gedaechtnis ist sehr gut!" entgegnet der Praesident der
Industrie- und Handelskammer und fuegt mechanisch hinzu: "Ich
habe schon immer gesagt, dass wir mit den Reformen weiter
machen muessen. Ich habe das schon immer gesagt, und ich wer-
de es auch weiterhin sagen."
"Ich weiss Vater."
"Na bitte, dann sind wir doch klar, oder?"
"Ja Vater, es ist alles in Ordnung. Wir machen mit den Refor-
men weiter."
In diesem Moment betritt eine Schwester den Raum und wendet
sich an den Sohn des Praesidenten der Industrie- und Handels-
kammer: "Ist Ihr Vater eigentlich Selbstzahler?"
"Natuerlich nicht!" entruestet sich der Sohn.
"Gut", sagt sie, "dann muessen Sie diese Rechnung hier beim
Bezirksamt zur Begleichung einreichen." Und drueckt ihm einen
Umschlag in die Hand.
Der Praesident der Industrie- und Handelskammer hat den Blick
starr geradeaus gerichtet, wird ploetzlich jedoch neugierig.
"Was ist denn das?" fragt er und zeigt auf den Briefumschlag
in den Haenden seines Sohnes.
"Vater, das ist eine Rechnung. Aber das jetzt genau zu
erklaeren, ist sicherlich ein bisschen zu kompliziert. Er-
zaehl mir doch lieber, was es heute zum Mittag gab."
"Ich habe dir schon immer gesagt und werde es dir auch immer
weiter sagen, dass wir mit den Reformen weiter machen mues-
sen", erregt er sich, zeigt nervoes mit der Hand auf die
Rechnung und versucht, aus seinem Rollwagen aufzustehen.
"Ich weiss Vater", entgegnet sein Sohn sichtlich genervt.
"Wir machen ja weiter mit den Reformen. Schon morgen werde
ich die Rechnung beim Bezirksamt zur Begleichung einreichen."
Jetzt kommt eine weitere Schwester in den Raum. Sie haelt
einen winzigen Messbecher in der Hand, in dem sich ein
Schluck einer durchsichtigen Fluessigkeit befindet. "So,
jetzt trinken wir das fein aus", sagt sie und drueckt dem
Praesidenten der Industrie- und Handelskammer den Becher in
die Hand: "Jetzt trinken Sie nur Ihren Reformsaft aus und
danach wird ganz bestimmt alles gut."
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Bernd Niquet ist Boersenkolumnist und Buchautor.
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Wenn viele Anleger dasselbe glauben, dann muss dies noch lange nicht bedeuten, dass es stimmt oder wahrscheinlich ist. Das Gegenteil ist oft der Fall.
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