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Alt 22-07-2007, 13:32   #145
621Paul
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Die Verbitterung ueber unseren Staat

von Dr. Bernd Niquet

Auch an diesem Morgen hat die Mutter ihre Kinder in die Schu-
le gebracht. Im Park neben der Schule sind die Drogenhaendler
bereits wach. Zwei Polizisten kommen vorbei, und es ergibt
sich ein kurzes Gespraech. Schon ueber zwanzig Mal haben die
Polizisten die Drogenhaendler – teilweise unter Gefaehrdung
der eigenen Person und der eigenen Gesundheit – festgenommen.
Doch exakt genauso oft, naemlich ueber zwanzig Mal, sind sie
von der Justiz anschliessend sofort wieder auf freien Fuss
gesetzt worden. Die Verbitterung und Verzweiflung ist
verstaendlicherweise gross. Irgendetwas hat sich veraendert.
Frueher war das nicht so.

Anschliessend faehrt die Frau ihren Vater im Pflegeheim besu-
chen. Alle zwei Tage geht sie dort vorbei, denn ihr Vater hat
Alzheimer und niemand weiss, wie lange er sie noch erkennt.
Der Pfoertner wartet bereits und drueckt ihr einen dicken
Briefumschlag mit Arztrechnungen in die Hand. So ist das je-
des Mal. Fuer jede Stunde, die die Frau bei ihrem Vater ist,
muss sie in etwa die gleiche Zeit aufwenden, um den Papier-
krieg mit den Aerzten und der Krankenkasse abzuwickeln. Ir-
gendetwas hat sich veraendert. Frueher war das nicht so.

Vor kurzem ist entschieden worden, dass die Frau zur gesetz-
lichen Betreuerin ihres Vaters ernannt wird. Damit darf sie
seine Rechte gegenueber Aerzten, Krankenhaeusern, dem Pflege-
heim und den Behoerden vertreten. Wirksam wird das allerdings
nur, wenn sie dem Gericht eine lueckenlose Vermoegensaufstel-
lung ihres Vaters vorlegt. Das bedeutet, von drei Banken und
zwei Fondsgesellschaften auf den Stichtag terminierte Be-
scheinigungen anzufordern, die Kosten zu tragen, sowie andere
Wertgegenstaende aufzulisten und notariell beglaubigen zu
lassen. Auch hierfuer sind die Kosten zu tragen. Doch was
geht das Gericht das eigentlich an? Irgendetwas hat sich ver-
aendert. Frueher war das nicht so.

Die Frau weigert sich, diesen Dingen nachzukommen. Dem Rich-
ter gegenueber gibt sie an, sich persoenlich dafuer zu ver-
buergen, dass ihre Angaben korrekt sind. Aber sie will keinen
Notar und keine kostenpflichtigen Vermoegensaufstellungen.
Der Richter erklaert daraufhin schriftlich, dass in diesem
Falle das Gericht einen anderen Betreuer bestellen wuerde, um
sich um die Vermoegensfragen ihres Vaters zu kuemmern. Ir-
gendetwas hat sich veraendert. Frueher war das nicht so. Die
Drogenhaendler werden freigelassen, und am normalen Buerger
wird der Kontrollzwang ausgelebt.

Als die Frau nach Hause kommt, ruft sie beim Finanzamt an.
Den letzten Einkommensteuerbescheid hatte sie nur kurz durch-
geschaut und dann weggelegt, weil es wichtiger war, sich um
ihren Vater zu kuemmern. Jetzt hat sie gesehen, dass ihre
Werbungsausgaben nicht anerkannt worden sind, obwohl sie sie
korrekt angegeben hat. Leider jedoch sei der Termin fuer ei-
nen Einspruch bereits vergangen, sagt die Dame aus dem Fi-
nanzamt. Ja, sagt unsere Frau, aber sie wolle ja jetzt nicht
nachtraeglich etwas einreichen, sondern das, worum es gehe,
stehe ja von Anfang an klar auf dem Papier. Trotzdem, beharrt
die Finanzbeamtin. Resigniert beendet unsere Frau das Telefo-
nat. Natuerlich muss es Fristen geben, aber ist das nicht
irgendwie Betrug? Das Finanzamt hat einen Fehler gemacht,
doch es muss diesen Fehler nicht korrigieren, weil der Buer-
ger es erst spaeter als einen Monat gemerkt hat?

Irgendetwas hat sich veraendert. Frueher war das nicht so.
Und unsere Frau spuert ein Gefuehl, das vielleicht ungerecht
ist, aber es ist ein vehement starkes Gefuehl, dass es sich
kaum noch unterdruecken laesst: Wenn schon sie selbst, der es
doch eigentlich rundherum sehr gut geht, so einen Hass auf
diesen Staat hat, was soll dann eigentlich mit all den ande-
ren sein, die hier leben und denen es nicht so gut geht wie
ihr selbst?

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Bernd Niquet ist Boersenkolumnist und Buchautor.
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Wenn viele Anleger dasselbe glauben, dann muss dies noch lange nicht bedeuten, dass es stimmt oder wahrscheinlich ist. Das Gegenteil ist oft der Fall.
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