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Alt 14-03-2008, 20:32   #815
Starlight
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Wall Street glaubt Washington nicht
Freitag, 14. März 2008

Selten hat die Wall Street so geringschätzig nach Washington geschaut wie in diesen Tagen. Was sich in Regierung und Ministerien abspielt, ist aber auch zuviel – vor allem am Freitag: George W. Bush spricht von einer „US-Wirtschaft, auf die der Rest der Welt neidisch ist“, und das Arbeitsministerium bestätigt, dass Inflation kein Thema ist.

Beides ist Blödsinn! Auf Präsident Bushs Äußerungen vor dem „Economic Club of New York“ möchte man gar nicht näher eingehen, so falsch sind sie. Angesichts des aktuellen Haushaltsdefizits, eines dramatisch fallenden Dollars, steigender Preise, hoher Entlassungen und gewaltiger Unsicherheit and den Aktienmärkten dürfte zur Zeit kaum eine Industrienation neidisch auf die USA sein.

Interessanter ist hingegen eine Debatte über die aktuellen Zahlen aus dem Arbeitsministerium. Dort meldete man zum Wochenschluss, dass die Verbraucherpreise im Februar nicht gestiegen seien. Das heißt: Die Inflationssorgen der Anleger sind überzogen; die Fed hat die Lage im Griff.

Das heißt in weiterer Konsequenz, dass die Notenbank am Dienstag keine Vorbehalte haben dürfte, den Leitzins um die vom Markt erwarteten 75 Basispunkte zu senken.

Doch wer sich den Bericht über die Verbraucherpreise genauer ansieht, wird stutzig. Die Energiepreise sollen im Februar um 0,5 Prozent zurückgegangen sein. Das ist angesichts von Rekordpreisen bei Rohöl, Heizöl, Benzin und Erdgas nicht möglich. Und ebenso wenig sind die dramatischen Preisanstiege bei Lebensmitteln, bei Krankenversicherungen und in anderen Alltagsbereichen in dem Bericht aus Washington widergespiegelt.

Es drängt sich die Frage auf, ob die Regierung die – offiziell unabhängige – Notenbank geradezu zu weiteren Zinssenkungen drängen will. Das würde man am einfachsten durch die Zerstreuung von Inflationsängsten erreichen. Einen Grund gäbe es dafür: Washington könnte seine Dollar-Schulden einfacher abbauen.

Die Skepsis der Wall Street gegenüber offiziellen Konjunkturdaten ist in den letzten Wochen gestiegen. Dazu beigetragen hat erst vor wenigen Tagen der Arbeitsmarktbericht, der auf breiter Basis angezweifelt wurde. Obwohl seit Jahresbeginn mehr als 80 000 Stellen vernichtet worden sind, freut sich Washington über eine geringere Arbeitslosenquote von aktuell 4,8 Prozent. Insider wissen, dass viele Langzeitarbeitslose die Hoffnung auf einen Job längst aufgegeben und ihre Stellensuche eingestellt haben – sie tauchen nun in der Statistik nicht mehr auf.

Diese Hintergründe sind dem politisch motivierten Kommentatoren egal; in seiner Rede am Freitag erwähnt George W. Bush die niedrige Arbeitslosenquote sogar explizit als Zeichen der wirtschaftlichen Stabilität im Land. An der Börse drückt sich solches Spinning immer öfter dadurch aus, dass die sonst Nachrichten-bessessenen Broker den zahlreichen TV-Schirmen den Rücken kehren und ungeachtet der Kommentare aus der Hauptstadt ihren Geschäften nachgehen.
© Inside Wall Street
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