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Alt 08-06-2008, 15:00   #146
621Paul
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Gefühlte Wirtschaftsdaten

von Dr. Bernd Niquet

Was für ein Wetter ist das im Moment. Der Westen versinkt im
Gewitterregen, während es sich bei uns im Osten anfühlt wie
in der Sahara. Die Hitze staut sich wie im Hochsommer, und
der Rasen wird zur staubigen Steppe. ?So viel wie in diesem
Jahr habe ich in meinem ganzen Berufsleben noch nicht gegossen?,
sagt der alte Friedhofsgärtner. Und man nimmt ihm das durch-
aus ab.

Jetzt ein kühles Bier. Unter 3,50 Euro ist der halbe Liter
allerdings heute an guten Orten nicht mehr zu bekommen. Drei-
fuffzig, das klingt jedoch nicht viel. Doch das sind sieben
Mark. Und die Pizza dazu kostet einen Zehner. Das sind zwanzig
Mark. Hätten wir heute noch die D-Mark, würde sich niemand
trauen, diese Preise zu nehmen, da bin ich ganz sicher.
Sieben Mark für ein Bier, so viel kostete es nicht mal im
Kempi oder im Edel-Puff. Doch mittlerweile ist ja die ganze
Republik so geworden.

Die gefühlten Preise sind also nicht hoch ? und trotzdem sind
die Leute Pleite wie noch nie zuvor seit dem Krieg. Die Preise
fühlen sich niedrig an, weil die Menschen in ihrem Bezugssystem
weiterhin auf DM-Preise geeicht sind, doch in Wirklichkeit sind
sie so hoch, dass sie die Menschen in großer Zahl in den Ab-
grund treiben.

Das Phänomen des Unterschieds zwischen den objektiven Daten und
der subjektiven Wahrnehmung, also den gefühlten Werten, ist ein
weithin bekanntes Thema. Doch normalerweise läuft es anders
herum. Da kommt es zu einer Überschätzung und nicht zu einer
Unterschätzung, wie beispielsweise beim Wetter, wenn es sich
durch Wind wesentlich kälter anfühlt als es eigentlich ist. Auch
sei das so bei der Inflation, sagen die Statistiker. Die gefühlte
Inflation liege über der wirklichen. Doch jeder Mensch, der
noch recht bei Verstand ist, weiß, dass das nicht stimmt.

Andere gefühlte Zahlen habe ich in dieser Woche so mitbekommen,
frisch zur bald anbrechenden Reisezeit: 42 Prozent der Deutschen
fühlen sich im Auto am sichersten von allen Verkehrsmitteln. Nur
knapp 25 Prozent haben dieses Gefühl in der Bahn und gerade einmal
16 Prozent im Flugzeug. Die objektiven Zahlen hingegen lauten:
Europaweit starben im Jahr 2005 bei Bahnunfällen 62 Menschen, bei
Flugzeugunfällen 135, im Auto jedoch 5.361. Und selbst für den
Kilometer zurückgelegte Wegstrecke verändern sich die Zahlen kaum:
Je Milliarde zurückgelegter Personenkilometer starben 2005 im
Schnitt 0,2 Bahnpassagiere, 0,4 Fluggäste, aber immerhin
6 Autoinsassen.

Auch in diesem Bereich scheint sich also der Mensch, der recht bei
Verstand ist, in der Minderheit zu befinden. Kann man daraus viel-
leicht sogar ein allgemeines Gesetz ableiten? So, wie an der Börse,
in der ja auch die Mehrheit stets falsch zu liegen scheint? Darüber
sollte man einmal nachdenken, abends, wenn es im Biergarten etwas
kühler wird. Bei einem schönen Halben für dreifuffzig. Denn ob
man nun ein Bier für 3,50 oder ein Mineralwasser für 3 Euro trinkt,
man zumindest finanziell auch keinen Unterschied mehr. Auf jeden Fall:
Schöne Wochenendgrüße in die Regengebiete sollte man keinesfalls
vergessen.
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Wenn viele Anleger dasselbe glauben, dann muss dies noch lange nicht bedeuten, dass es stimmt oder wahrscheinlich ist. Das Gegenteil ist oft der Fall.
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