Sind Maerkte tatsaechlich irrational?
von Dr. Bernd Niquet
Neulich schrieb mir ein Leser, die Kurse an den Maerkten be-
faenden sich derzeit auf einem laecherlichen Niveau. Darauf-
hin fragte ich zurueck, was er denn konkret damit meine,
laecherlich hoch oder laecherlich niedrig?
Als Antwort bekam ich die folgende Liste: Standardaktien USA:
grotesk hoch, Standardaktien EUR: zu hoch, Rohstoffaktien:
deutlich unterbewertet, Edelmetalle: viel zu niedrig, Leit-
zinsen USA: zu niedrig, Leitzinsen EUR: zu hoch, Langfrist-
zinsen weltweit: grotesk zu niedrig, USD: grotesk ueberbewer-
tet.
Das ist wie ein Blick in ein Gehirn, denke ich. Auch ohne
diesen Menschen naeher zu denken, kann ich jetzt genau sagen,
wie er denkt, woran er glaubt und was er befuerchtet. Doch
mir geht noch etwas anderes dabei im Kopf herum: Anscheinend
glauben wir heute alle, klueger als der Markt zu sein.
Nach der Effizienzmarkttheorie bringt der Markt stets die
vorhandenen Informationen in bestmoeglicher Weise hervor, und
niemand kann prinzipiell klueger als der Markt sein. Darueber
mag man anlaesslich vielfach zu beobachtender Marktkapriolen
schmunzeln und daran mag man auch zweifeln. Doch niemand
sollte vergessen, dass hier die Wurzeln unserer gesamten
Wirtschaftsverfassung und Demokratie liegen! Ziel jeder frei-
en Wirtschaftsverfassung ist es naemlich, die dezentral ver-
streuten Informationen sich in optimaler Weise ueber einen
Abstimmungsprozess (=Markt) buendeln zu lassen.
Dahinter steht der Glaube, dass das Ergebnis dieses Prozesses
jeder Einzelmeinung ueberlegen ist. Doch was fuer ein merk-
wuerdiger Befund, dass wir das zwar so entschieden haben und
dies auch immer wieder vertreten, es jedoch anscheinend
selbst nicht glauben. Weil wir uns ueberlegen fuehlen. Und
ich schliesse mich keinesfalls aus, schliesslich gehe auch
stets davon aus, dass viele Dinge entweder ueber- oder unter-
bewertet sind - und es von daher lukrativ ist, sie zu kaufen
oder zu verkaufen.
Doch ist es eigentlich legitim, das zu tun? Je laenger ich
darueber nachdenke, desto ehe tendiere ich dazu, diese Frage
zu verneinen. Natuerlich koennen wir stets versuchen, die
Wahrnehmung der Millionen von Haendler und Marktteilnehmer zu
hinterfragen, die sie dazu treiben, die Kurse so festzuset-
zen, wie sie sie gerade festsetzen. Doch erinnert das nicht
eher an den Witz vom Insassen in der Psychiatrie, der sich
selbst fuer den Pfleger und den Pfleger fuer den Insassen
haelt?
Kann es nicht vielleicht wirklich sein, dass der Verlauf der
Maerkte in der gegenwaertigen Finanzkrise gar noch so irrati-
onal ist. Zuerst hat man nicht an die Groessenordnung der
Kalamitaeten geglaubt. Menschen sind jedoch so. Natuerlich
waren einige schlauer. Doch was ist eigentlich mit denjeni-
gen, die in den Jahren 2000 bis 2003 dem Dax den groessten
Verlust in seiner Geschichte beschwert haben, einen Verlust,
der sich groesser zeigte als sogar derjenige in den Schick-
salsjahren von 1929 bis 1933? Da waren anscheinend auch viele
vermeintlich "schlauer". Doch deren Schlauheit hat sich im
Endeffekt als Dummheit heraus gestellt.
Maerkte bilden also - im Unterschied zur konventionellen
Weisheit - niemals die Faktenlage ab, sondern stets und immer
den Glauben von Menschen. Und wenn Menschen an Untergang
glauben, dann ist Untergang. Das ist rational. Ich akzeptiere
daher den heftigen Kursrutsch zum Ende dieser Woche. Die Men-
schen glauben jetzt an Schlimmeres. Und ich akzeptiere diese
Weisheit.
Doch ob es sich nun um eine Ueber- oder Unterbewertung han-
delt, darueber akzeptiere ich, keine Aussage machen zu koen-
nen. Denn dazu muesste ich ja glauben, dass der Markt die
Fakten abbildet, was jedoch nicht der Fall ist. Das Einzige,
was ich also gegenwaertig recht sicher weiss, ist, dass Men-
schen gemeinhin recht schnell wieder die Lust am Untergang
verlieren. Und dass man wirtschaftliche Untergaenge an den
Finanzmaerkten zwar antizipieren, aber niemals direkt herbei
fuehren kann.
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Wenn viele Anleger dasselbe glauben, dann muss dies noch lange nicht bedeuten, dass es stimmt oder wahrscheinlich ist. Das Gegenteil ist oft der Fall.
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