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Alt 03-11-2008, 15:41   #150
621Paul
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12:03 03.11.08


Noch mehr schockiert als über die Finanzkrise bin ich über das, was über die Finanzkrise so alles gesagt und geschrieben wird. Und vor allem über das, was nicht gesagt und nicht geschrieben wird.



Warum beispielsweise lese ich nirgendwo das Wort „Liquiditätsfalle“? In der Japan-Krise hat noch jeder pubertierende Ökonom darüber lamentiert. Doch da gab es so etwas gar nicht. Denn die Liquidität wurde schließlich nicht von den Japanern gehalten, sondern im Wege der Carrytrades in den Rest der Welt exportiert.



Jetzt jedoch haben wir eine klassische Liquiditätsfalle. Die Geldmengen in den westlichen Industrieländern explodieren regelrecht. Man schaue nur auf die Geldbasis in den USA, die sich binnen weniger Monate schlichtweg verdoppelt (!) hat. Doch parallel dazu müssen Nationalstaaten wie Österreich und Spanien die Auktionen ihrer Staatsanleihen absagen, weil keine Nachfrage da ist.



Daher jedoch von der Möglichkeit von Staatspleiten zu reden, ist unverantwortlich und unsäglich dumm. Die Anleihen der großen Staaten stehen so hoch – und die Renditen sind spiegelbildlich so niedrig – wie beinahe noch nie in der Geschichte. Da ist nichts von einem Vertrauensverlust, ganz im Gegenteil. Denn warum sind die „Spreads“ der Anleihen der Industrie und der Finanzinstitute so hoch? Genau, auch deswegen, weil die Renditen der Staatsbonds so niedrig stehen.



Wir befinden uns in der klassischen Liquiditätsfalle. Niemals in der Neuzeit war sie so exemplarisch zu besichtigen. Die Geldmengen werden extrem ausgedehnt, doch das Geld wird nicht an den Märkten angelegt, sondern gehalten. Keynes hat die Liquiditätsfall bereits 1936 in seiner „General Theory“ ausführlich thematisiert. Im Vergleich zu den Dreißiger Jahren sind wir jedoch in einer ungleich besseren Situation. Denn damals gelang es nicht, die allgemeinen Zinssätze zu senken, so dass die Wirtschaft ins Trudeln kam. Heute hingegen befinden sich die Zinsen fast auf einem Allzeittief.



Jeder Vergleich der gegenwärtigen Krise mit der Weltwirtschaftskrise der Dreißiger Jahre ist daher ebenso dumm und dreist wie das Gerede von den Staatspleiten. Mögen diejenigen, die das machen, doch nur einmal ein einziges Buch über die damalige Zeit zur Hand nehmen. Dann würden sie sehen, dass sich damals der Welthandel von 1929 bis 1933 mehr als gedrittelt (!) hat. Heute reden wir um Rückgänge der Zuwachsraten (!) von zwei Dritteln – und damals wurde tatsächlich um zwei Drittel geschrumpft. (Das wäre heute unvorstellbar. Dann müsste, um die Proportion zu den bisherigen Entwicklungen zu halten, der Dax auf etwa minus 50.000 Punkte fallen.)



Das möge sich also tatsächlich jeder einmal selbst ausmalen, ein Schrumpfen um zwei Drittel! Doch so etwas passiert natürlich nicht. Dafür schreiben dann Journalisten selbst renommierter Zeitungen und Magazine, wenn sie hören, dass irgendein chinesischer Importeur einem Reeder mitteilt, ein Schiff könne bereits auf hoher See umkehren, weil er die Waren nicht abnehmen würde, von derartigen Vergleichen.



Die Menschheit ist wirklich ein Wunder. Man kann immer nur von Neuem staunen, dass wir mit diesem ungenügenden Material überhaupt so weit gekommen sind.





Mit den besten Grüßen!



Bernd Niquet





berndniquet@t-online.de
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Wenn viele Anleger dasselbe glauben, dann muss dies noch lange nicht bedeuten, dass es stimmt oder wahrscheinlich ist. Das Gegenteil ist oft der Fall.
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