Einzelnen Beitrag anzeigen
Alt 19-06-2004, 08:14   #2
Börsengeflüster
TBB Family
 
Benutzerbild von Börsengeflüster
 
Registriert seit: Apr 2004
Ort: Schleswig Holstein
Beiträge: 4.953
Italien nach dem Krieg
Gleich nach Kriegsende (1945) befand sich Italien in einer einzigartigen Situation. Das Land selbst hatte kaum unmittelbar Kriegsschäden erlitten. Der größte Teil der Fabriken war intakt, konnte aber wegen Rohstoffmangel nicht arbeiten. Und Rohstoffe konnten nicht gekauft werden, weil es keine Devisen gab. Ein mit den Vereinigten Staaten genial ausgeklügeltes System half Italien aus dieser Sackgasse. Aufgrund von Lohnarbeiterverträgen lieferte Amerika an Italien Rohstoffe: Wolle, Baumwolle, Kunstseide. Nach der Verarbeitung in italienischen Fabriken kehrte ein Teil der Fertigwaren als Bezahlung in die Vereinigten Staaten zurück, während der Rest für den Inlandsmarkt bestimmt war oder sogar nach anderen europäischen Ländern exportiert wurde. Ab 1946 erfreute sich die italienische Textilindustrie daraufhin einer neuen Blüte, und auch die Mailänder Börse erlebte eine Wiedergeburt. Diese Neubelebung beschränkte sich jedoch mehr oder weniger auf die Herstellung und den Handel mit Textilien und die damit verwandten Industriezweige, die direkt oder indirekt mit der Textilindustrie zu tun hatten: Warenhäuser, Textilmaschinen uns so weiter.
Als ich aus den Vereinigten Staaten kam, wo man Europa mit einem gewissen Pessimismus beurteilte, war ich sehr überrascht, eine wahre Flut von Artikeln aus Baumwolle, Seide und Wolle in den eleganten Mailänder Geschäften in der Nähe des Doms vorzufinden. Ich fragte einen meiner Freunde, einen Makler an der Mailänder Börse, um Rat. "Es ist viel zu spät, um hier noch mitzumachen" sagte er. "Die guten Sachen sind schon zu hoch gestiegen. Sie sind viel zu teuer, als daß man sie jetzt noch kaufen könnte. Und die, die nicht teuer sind, haben keinen Grund zu steigen".
Ich gab mich mit seiner Behauptung zufrieden und fand mich notgedrungen damit ab, von diesem Kuchen nichts mitkosten zu können .
Ein paar Wochen später erregte eine Notiz in der "Neuen Züricher Zeitung" meine Aufmerksamkeit. Die grosse kalifornische Automobilfirma "Kaiser-Frazer" hatte soeben einen Vertrag mit Fiat in Turin abgeschlossen, wonach die italienische Firma hunderttausend Motoren jährlich im Lohnarbeitsvertrag herstellen sollte .
So sagte ich mir, das Verfahren hat seit den Textilien also Schule gemacht. Wer ist jetzt an der Reihe? Wahrscheinlich die Autos. Einge Minuten Überlegung genügten, um meinen Plan zu fassen .
Bei Eröffnung der Börse fragte ich meinen Makler: "Sagen Sie, was ist die schlechteste Automobilaktie?" "Sie meinen doch wohl die Beste? Das ist Fiat"- "Nein die schlechteste. Erkundigen Sie sich bitte. Ich interessiere mich wirklich für die schlechteste, so merkwürdig Ihnen das auch vorkommen mag ."
"Gut" sagte er und verschwand in der Menge. Nach einigen Minuten kam er zurück. "Es heisst es wäre Isotta-Fraschini; die Firma steht schon kurz vor dem Bankrott".
"Gut, dann will ich ein Paket kaufen". Mit einem Gesicht, das viel von seiner Skepsis verriet, führte er schließlich meine Order zu 150 Lire aus.
Monate vergingen, ehe ich wieder nach Mailand kam. Mein Makler rief mich gleich an: "Gratuliere, lieber Freund, zu diesem ausgezeichneten Tip. Woher hatten Sie ihn? Sagen Sie nur nicht das Sie nichts wussten. Es ist unglaublich, Isotta steht auf 450. Sie wollen sicher verkaufen?" "Keineswegs!" Und ich gab ihm Anweisung noch mehr Isotta-Aktien zu kaufen. Diesmal fügte er sich gleich. Er versuchte, seine Überraschung zu verbergen und führte die Aufträge aus.
Da ich mich selber wunderte, daß eine so aus der Luft gegriffene Idee so rasch Erfolg gehabt hatte, machte ich mich daran, die Kursbewegungen zu verfolgen.
Die Aktie war ein Einzelfall. Sie strebte allein nach oben, denn die übrigen Börsenwerte, einschließlich Fiat, blieben konstant. Die für 150 Lire gekauften Papiere stieß ich zu ungefähr 1500 Lire ab, nachdem sie inzwischen schon bis auf 1900 Lire geklettert waren. Das Wunder ließ sich jedoch erklären. Meine Idee war richtig gewesen .
André Kostolany
__________________
Zitat:
.............................................

Die Börse ist keine Wissenschaft, sondern eine Kunst.

André Kostolany


<br>

Geändert von Börsengeflüster (19-06-2004 um 08:23 Uhr)
Börsengeflüster ist offline   Mit Zitat antworten