Kazuo Ishiguros verstörender Roman über eine Gesellschaft, die Kinder als Organspender züchtet
Es sind leise Bücher. Will man beschreiben, warum die Romane des englischen Schriftstellers Kazuo Ishiguro eine so betörende Wirkung entfalten, könnte man sagen: Da ist ein Klang von Stille. Mit den ersten Zeilen wird dieser Ton angeschlagen, wie in der Eröffnung einer Cellosonate, drängender Abstieg in gefasste Melancholie. Vorsichtig, zurückhaltend setzen sie ein, die Romane von Ishiguro, aber sie alle variieren ein einziges überwältigendes Thema – was der Mensch ist in seiner Ungeschütztheit, wie er sich darin bewähren kann, vor allem vor sich selbst.
Kazuo Ishiguro stammt aus Japan und kam als Kind mit seinen Eltern nach England, das war in den sechziger Jahren. Fünf Bücher sind seit 1982 erschienen, es ist ein schmales und doch großes, vielfach preisgekröntes Werk. Alle Bücher explorieren die Möglichkeiten des Einzelnen, in Würde zu leben angesichts eines unausweichlichen Zusammenhangs von individueller Schuld und einer gesellschaftlichen Ödnis, die sich vor dem Fenster erstrecken mag, als verwüstete Zone wie in Damals in Nagasaki. Oder es handelt sich, wie in dem Roman Was vom Tage übrig blieb, um den Untergang einer Zivilisation im Faschismus – oder um den unserer Werte im Gentechnikzeitalter, wie in seinem neuen Roman Alles, was wir geben mussten.
Eine junge Frau von 31 Jahren blickt zurück auf die Zeit, als sie 13 war. Damals war Kathy eine Schülerin in einem Internat namens Hailsham. Ein Herrenhaus in schönster englischer Landschaft. Es ist ein Kosmos der Fürsorglichkeit, so scheint es, in dem Kinder mit ernsthafter Hingabe erzogen werden, ein Ort, der als Inbegriff von Kultur erscheint, bis wir langsam, auf die übliche stille Weise, durch Andeutungen, die sich in schlichten Sätzen verstecken, eine Ahnung davon gewinnen, dass in Hailsham etwas Furchtbares vor sich geht. Man könnte es den Inbegriff von Unkultur nennen: Menschenzucht. Kinder wachsen hier heran als Ersatzteillager für Organe.
Die Erzählung setzt ein als tastende Erinnerung. Der Schlafsaal, das Fußballspiel, der Schulbasar, die Intrigen der Freundinnen, die ersten Sexversuche, Beziehungsgequäle. Ein Drittel des Buches vergeht, und noch ist das Wort Organ nicht gefallen. Es gibt Hinweise, mal ist von Spende die Rede oder davon, dass viel Wert auf die Pflege der Gesundheit verwandt wird. Das könnte ein Krimi werden und ist nicht ohne Spannung. Aber kommt doch daher mit einer aufs Detail versessenen, manchmal nervenden Beharrlichkeit. Es ist eine auch sich selbst ausweichende Rede. Kathy sammelt Indizien, um zu begreifen, was sie und die Kinder von Hailsham nicht wissen durften, besser gesagt: auch nicht wissen wollten, denn es sind Kinder, die vor sich selbst wie vor den Erwachsenen verbergen, was sie doch an Wahrheit suchen über sich selbst und wovor sie sich am meisten fürchten, dem Widerschein dieser Wahrheit in den Augen ihrer Erzieher – als Ekel.
Kinder ohne Eltern. Wie sehr sie sich bemühen, ihre Erzieher bei Laune zu halten, sie haben ja sonst niemanden. Sie spielen Normalität, ohne zu wissen, was das ist. Sie rücken zusammen, sie versinken in ihrem kleinen Kosmos klebriger Beziehungen, an dessen Rändern eine Leere erscheint, wo so etwas wie eine Gesellschaft sein sollte, die sich ihr Ersatzteillager schafft und dazu wenigstens bekennt. Aber die tritt nie in Erscheinung. Es gibt keine Verantwortlichen, umso lauter stellt sich die Frage: Was vermag der Einzelne?
Ishiguro hatte schon im ersten Buch von 1982 sein Thema gefunden. Eine Frau, sie lebt in England auf dem Land, bekommt Besuch von ihrer Tochter. Es ist eine ungelenke Begegnung, voller stockender Dialoge, die etwas umkreisen, den Suizid einer älteren Tochter. Immer wieder schweifen die Gedanken der Mutter in die Vergangenheit, als sie – »damals in Nagasaki« – schwanger war mit dieser nun nicht mehr Lebenden, schweifen zu der Einsamkeit in einem herzlosen Wohnsilo am Rande der Stadt, und so entfaltet sich im Herzen des Buches die Geschichte ihrer dortigen Begegnung mit einer anderen Frau und deren kleiner Tochter. Es ist, als tusche die Erzählerin einzelne Szenen aufs Blatt, jede für sich eine nie formulierte Frage aufwerfend (und sie zugleich übertünchend): Wer trägt die Verantwortung, ist jemand schuld?
Erinnern wird Rechtfertigung. So wie die Rede eines anderen Ishiguro-Erzählers, des alten Malers in dem Roman vom Artist of the floating world, Künstler in einem faschistischen Staat und Seelenverwandter jenes anderen dienenden Ishiguro-Erzählers, des Butlers in dem Roman Was vom Tage übrig blieb – auch er bilanziert ein nicht gelebtes Leben im Schatten des nahen Todes. Es sind Menschen, denen der Sinn ihrer Existenz zwischen den Fingern zerrinnt und die ihn doch im Netz ihrer Erzählung aufzufangen versuchen und darin immer nur eines finden: ihre eigene Tapferkeit angesichts des Unabänderlichen, ein deshalb kindlich anrührendes Bemühen.
Man wäre versucht zu sagen, Ishiguro sei ein Moralist, aber das wäre zu streng. Romantiker, das trifft es besser. Es geht um die Reinheit des Herzens. Was ja nicht wenig ist und weshalb der Erzähler in dem Roman Als wir Waisen waren gleich als kleiner Junge auftritt, einer, der den Vater und dann die Mutter verliert und diesen Verlust in einem Spiel abfedern will, das so tut, als seien sie gar nicht tot, was zu einer lebenslangen Obsession wird: Das Kind wird zum Psychopathen, eine andere Variante von Begrenztheit. Es will seine Eltern wiedererschaffen. So wie das kleine Mädchen Kathy in der bewegendsten Szene des neuen Buches alles gibt, um sich zugleich als Mutter wie als Kind zu erfinden.
Kathy steht in einem Raum. Sie hält ein Kissen im Arm, sie wiegt sich im Rhythmus eines Liedes, das von der einzigen Musikkassette kommt, die sie besitzt. Never let me go, singt die Sängerin mit der Stimme einer Bardame, Kathy hält sich am Kissen fest, sie singt: »Lass mich niemals los…«
Klone können keine Kinder haben. Was an Bemuttern möglich ist, wäre die Betreuung todgeweihter Organspender. Darin erweist sich zunächst die Nützlichkeit der Erziehung von Hailsham, die ein gut gemeintes Experiment war, um zu zeigen, dass sich Klone, bei bester Behandlung, zu Menschen mit Seele entwickeln. Aber was nützt Seele, wenn sich ihr niemand zuwendet? Anders als Aldous Huxleys Brave New World ist dies kein Roman, der Widerstand provoziert. Er zielt über Fragen der Gentechnik hinaus auf die großen Zusammenhänge. Ishiguros hoch individualisierten Klone erweisen sich als hoch sensible Betreuer ihrer todgeweihten Freunde, was aber mehr an Emotionen freisetzt als mit Ausweidung verträglich ist. Weshalb sie sich nach kurzer Aufwallung in ihr Schicksal zurücksinken lassen. Wo wäre Trost? Nur in der Erinnerung an die glückliche Kindheit in Hailsham, die natürlich eine Täuschung ist.
Am Schluss sehen wir Kathy, wie sie allein nach Norfolk fährt, wo sich in der Mythologie von Hailsham alles ansammelt, was im Leben verloren ging. »Vielleicht war mir einfach danach, diese endlosen flachen, leeren Felder zu betrachten und diesen riesigen grauen Himmel«, sagt sie. In einem Zaun hängen Plastikfetzen. Solche Bilder zu ertragen, muss man fast eine Figur aus einem Ishiguro-Roman sein, ergeben und ohne jeden Keim von Widerstand.
Kazuo Ishiguro: Alles, was wir geben mussten
Roman; aus d. Englischen von Barbara Schaden; Blessing Verlag, 2005; 348 S., 19,90 €
Sehr empfehlenswert