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Alt 23-03-2005, 16:55   #61
621Paul
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Mittwoch, den 23.03.05

Nehmen wir einmal an, in der Welt solle alles so bleiben wie es derzeit ist – und nur die USA würden ihr Leistungsbilanzdefizit und einen Überschuss wandeln. Was müsste es dann für Anpassungsmaßnahmen geben?

(1) Wenn die USA ihr Defizit im Außenhandel in einen Überschuss wandeln, dann müsste der Rest der Welt (oder nehmen wir einmal der Einfachheit halber den Zwei-Länder-Fall mit Deutschland an) seine Überschüsse in Defizite wandeln. Deutschland würde also kein Exportweltmeister mehr sein, sondern ein Waren-Importland.
(2) Um diese Importe zu finanzieren, müsste Deutschland Kredite in den USA aufnehmen, die den Usancen entsprechend Dollar-Kredite wären. Die USA wären damit ein Waren- und ein Kapitalexportland und Deutschland in beidem ein Importland.
(3) Angesichts dieser Verschiebungen würde der US-Dollar deutlich ansteigen. Für Deutschland würde dies bedeuten:
(3.1. Für die Kredite müssen Zinsen gezahlt und erwirtschaftet werden.
(3.2. Die Kreditsumme wertet sich in heimischer Währung ständig weiter auf.
(3.3. Die Terms of trade verschlechtern sich, so dass für jeden Dollar Exporterlös ständig mehr Waren produziert und geliefert werden müssen.

Ob diejenigen, die heute überall über das „unverantwortliche Verhalten“ der USA reden, sich diese Konsequenzen schon einmal klar gemacht haben? Ich denke nein, denn schließlich leben wir heute ja im Zeitalter des Impressionismus. Und da ist es einfach wirksamer, verschwommene und gefühlsselige Bilder zu malen als die Konturen der Wirklichkeit. Oder anders gesagt: Phantasie und Vorstellungskraft werden immer wichtiger als Wissen. Denn an den Märkten passiert ohne hin eher das, was die Leute glauben als das, was den Tatsachen entspricht. Jedenfalls kurz- bis mittelfristig.

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Alt 25-03-2005, 10:05   #62
621Paul
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25.04.2005
Gegenwärtig diskutiere ich gerade mit dem Privatgelehrten Reinhard Deutsch die Situation des Weltwährungssystems. Deutsch hat in der vorletzten Ausgabe des „Smart Investors“ geschrieben, dass alle Experimente mit nicht metallgedecktem Geld in der Vergangenheit gescheitert sind. Ich habe dem entgegen gesetzt, dass alle Experiment mit metallgedecktem Geld ebenfalls gescheitert sind. Die gesamte Diskussion findet sich bei instock.de. Ich präsentiere hier ein paar Ausschnitte:

Deutsch:

„Bernd Niquet schreibt in seinem Statement: „Alle Experimente mit metallgedecktem Geld sind in der Vergangenheit ebenfalls gescheitert“ und veräppelt damit seine Leser. Amerika hat 1971 die Verpflichtung nicht erfüllt, seine Dollars jederzeit in Gold einzulösen. Wenn jemand seine Zahlungsverpflichtung nicht erfüllt nennt man so etwas normalerweise Bankrott. Wenn ich mein Darlehen nicht zurückzahle, kann ich der Bank auch nicht erklären, es täte mir leid, ihr Geldexperiment sei halt gescheitert. Die Bank würde sich wohl ebenfalls veräppelt fühlen.“

Niquet:

„Ihr Ton ist harsch, Herr Deutsch. Ich veräppele also meine Leser. Doch ich bin ihnen nicht böse, ganz im Gegenteil, denn Sie bestätigen ganz trefflich das, was ich schon immer denke: Bei allen Auseinandersetzungen ums Gold geht es gar nicht primär um das Metall, sondern um irgendwelche tiefgreifenden Verletzungen. Ich sehe, dass wir seit dem II. Weltkrieg in der breiten Masse ein Wohlstandsniveau erreicht haben, das imposant und geschichtlich einmalig ist. Und wenn man hierzu einen Vertrag brechen musste, dann war das eine richtige Entscheidung. Wir haben auch viele andere Verträge mit der Tradition gebrochen, und das alles ist uns ziemlich gut bekommen.“

Deutsch:

„Da haben Sie die Sache mit der subjektiven Wahrnehmung sehr schön auf den Punkt lieber Herr Niquet. Sie sind also nicht verletzt, wenn man Ihnen durch Betrug und Vertragsbruch Ihre Lebensersparnisse nimmt. Etwa so, wie im Märchen vom Hans im Glück, der auch froh war, als er seinen Goldklumpen endlich los wurde. Eine solche Haltung ist vielleicht schön für Sie, aber normal ist das nicht. Nun wenden Sie ein, der Vertragsbruch sei gerechtfertigt, wenn dadurch für viele Menschen ein höheres Wohlstandsniveau erreicht würde. Aber diese Frage ist noch nicht entschieden.“

Niquet:

„Es ist doch nicht richtig, dass die Abkehr vom Metallstandard den Leuten durch Betrug und Vertragsbruch ihre Lebensersparnisse nimmt. Im Gegenteil: Die Abkehr vom Goldstandard hat erst (über den Wachstumsprozess) das Bild der ganzen Ersparnisse ermöglicht, über die wir jetzt reden. Lassen Sie es uns einmal ganz konkret auf den Punkt bringen: Stimmen Sie mir zu, dass der seit dem Krieg bei uns entstandene Wohlstand deutlich größer ist als er unter einer Goldwährung hätte entstehen können? Ja oder nein?“

Deutsch:

„Nun, die „ganzen Ersparnisse“, über die wir jetzt reden, bestehen ausschließlich aus Schulden (wenn wir Sachwerte, wie Immobilien und Aktien mal außen vor lassen). Es wurde in Schulden gespart. Geldvermögen kann heute nur noch ausschließlich in Form von Schulden aufgebaut werden. Jeder 500 Euro Schein, jede Anleihe, jeder Renten- und Pensionsanspruch, jedes Festgeldkonto und jedes Sparbuch ist ein undefinierter Schuldanspruch – ist lediglich ein Beleg, dass Ihnen irgendjemand etwas schuldet. Im Metallstandard konnten Sie Ihre Lebensersparnisse in Form von Gold sicher speichern. Gold ist keine Schuld sondern in Gramm klar definiertes Eigentum, ebenso wie ein Grundstück in Quadratmeter klar definiertes Eigentum ist. Wir können in unserem heutigen Geld nicht mehr sinnvoll sparen. Das ist eine wichtige Erkenntnis. Natürlich hat erst die Abkehr vom Goldstandard diese riesigen Geldvermögen, über die wir reden, ermöglicht. In Gold hätte niemand solche Schuldversprechungen abgeben können. Um Ihre konkrete Frage zu beantworten, ob der seit dem Krieg bei uns entstandene Wohlstand nicht deutlich größer sei als er unter einer Goldwährung hätte entstehen können, so antworte ich klar mit NEIN. Unter einer Goldwährung wäre der Wohlstand wohl deutlich größer.“

Niquet:

„Es scheint mir, als wenn wir immer weiter auf den Kern der Dinge zusteuern. Aus meiner Sicht widersprechen Sie sich in ihrem letzten Beitrag heftig. Sie schreiben einerseits, dass erst die Abkehr vom Goldstandard die riesigen Vermögen, über die wir heute reden, ermöglicht haben. Und andererseits, dass unser Wohlstand nicht größer geworden ist, sondern vielmehr unter einem Goldstandard größer gewesen wäre. Wie das? Wir haben also größere Vermögen angehäuft, sind aber weniger wohlhabend. Das ist schon ein erstaunlicher Befund.

Und was mich an ihrer Sichtweise am meisten erstaunt, ist, dass Sie anscheinend die Konsequenz ihres eigenen Denkens noch gar nicht gezogen haben: Vermögens- und Wohlstandsmehrungen sind in ihrem System nur durch Goldfunde möglich, da alles Vermögen und aller Wohlstand nur dann substanzhaltig sind, wenn sie durch Gold gedeckt sind. Doch können Sie sich im Ernst vorstellen, in einem System zu leben, in dem man sich täglich abrackert, der Wohlstand jedoch nicht von dem abhängt, was man erschafft, sondern nur von dem, was man aus dem Boden ausbuddelt? Goldpreisänderungen (Anhebungen) kann es in ihrem System ja nicht geben, da es gar keinen Goldpreis gibt, weil das Gold selbst das Geld ist und daher immer einen Preis von 1 hat. Und selbst wenn man theoretisch so etwas denken würde, dann würde eine Goldpreisanhebung ja eine Inflation bedeuten, was wiederum per definitionem ausgeschlossen ist.“

Deutsch:

„Was Sie schreiben, ist so schief, dass ich gar nicht weiß, wie ich es wieder gerade rücken soll. Ich will es trotzdem mal versuchen – also. Geld ist kein Wohlstand. Mehr Geld bedeutet nicht mehrt Wohlstand. Das ist ja der große Irrtum im aktuellen Geldsystem, dass man glaubt, man könne durch Erzeugen von zusätzlichem Geld zusätzlichen Wohlstand erzeugen. Wohlstand kann man nicht drucken. Auch durch das Ausbuddeln von zusätzlichem Gold wird kein zusätzlicher Wohlstand erzeugt. Wir haben genug Gold, um es als Geld zu nutzen. Es muss nicht ein einziges Gramm Gold zusätzlich ausgebuddelt werden. Die Geldmenge kann und sollte für immer konstant bleiben und sich nicht mehr verändern und trotzdem kann der Wohlstand ständig wachsen, nämlich durch Produktion und Sparen (Konsumverzicht). Aber sparen eben nicht in Form von Geld als Schuld, sondern in Form von Eigentum an Realkapital (Häuser, Fabriken, Maschinen, Straßen, Brücken etc.). Ich stelle fest, dass wir in diesen elementaren Dingen viel weiter auseinander sind, als ich dachte.“

Niquet:

„Also, so einfach kommen Sie aus dieser Sache jetzt nicht mehr heraus. Wer ein neues System der Wirtschaftserklärung liefern will, dessen Denken muss folgerichtig, widerspruchsfrei und in sich geschlossen sein. Das ist bei ihnen jedoch nicht der Fall. Ich werde ihnen jetzt aufzeigen, wo die Widersprüche liegen: Wohlstand entsteht für Sie durch Produktion und Konsumverzicht (Sparen). Gespart wird in Form von Eigentum an Realkapital. Und die Geldmenge bleibt konstant und ist durch Gold gedeckt. Das ist ihr Weltbild, wenn ich richtig verstehe, was Sie schreiben.

Doch das passt nicht zusammen. In einer Geldwirtschaft kann nicht in Realkapital gespart werden. Haushalte sparen nicht in Form von „... Häuser(n), Fabriken, Maschinen, Straßen, Brücken ...“, wie Sie es schreiben. Sie sparen in Geld. Doch wenn die Geldmenge an das Gold gebunden ist, dann ist sie nur durch Goldfunde oder durch Goldpreisaufwertungen ausdehnbar. Beides gibt es bei ihnen jedoch nicht – beziehungsweise kann es nicht geben. Die Geldmenge muss also konstant bleiben. Durch das angesammelte gesparte Vermögen wird jedoch immer mehr Geld in Ersparnissen gebunden, so dass die Geldmenge bald völlig durch Ersparnisse aufgebraucht ist, die nicht mehr ausgeliehen werden. Das System ist also bereits nach ein paar Runden am Ende.“


Die Antwort von Reinhard Deutsch steht hierzu noch aus. Ich bin gespannt, wie er sich aus der Schlinge windet. Ich werde Sie in der nächsten Woche dazu informieren, falls Sie nicht Lust haben, nach Ostern die Diskussion im Original mitzulesen.

Zunächst einmal wünsche ich: Ein frohes Osterfest!

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Alt 27-03-2005, 15:06   #63
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27.03.05
Die Entmythologisierung von Ludwig Erhard

Von Dr. Bernd Niquet

Es ist schon erstaunlich: Selbst diejenigen, die uns oeffent-
lich immer vorbeten, dass wir uns schleunigst von den Mythen
und der Romantik der Vergangenheit verabschieden muessen,
sind fest in den Mythen und in der Romantik der Vergangenheit
verankert. Nur sind es eben andere weltfremde Idealvorstel-
lungen, die hier vertreten werden. Was allerdings nichts
daran aendert, dass anscheinend ein ganzes Land starr und
fest in der Vergangenheit gefesselt ist. Und selbst der
Bundespraesident macht keine Ausnahme, ja, er ist sogar ein
Vorreiter der Bewegung "Zurueck in eine goldene Vergangen-
heit".

Dort der Mythos der allumfassenden sozialen Sicherung. Und
hier der Mythos von Ludwig Erhard. Wir muessten uns nur wie-
der auf den Geist von Ludwig Erhard besinnen, so toent es
heute von ueberall her, dann wuerde schon alles gut werden.
Ja, mein Gott, haben wir denn alle voellig den Verstand ver-
loren?

Als Ludwig Erhard sein Regime begann, war Deutschland ein
zerstoertes Land mit Preiskontrollen und einem immensen wirt-
schaftlichen Nachholbedarf. Und was hat Erhard gemacht? Er
hat auf den Markt gesetzt und die Preise frei gegeben. Das
war es! Angebot und Nachfrage konnten sich jetzt frei entfal-
ten. Es wurde produziert auf Teufel komm raus, weil es ge-
winntraechtig und die Nachfrage grenzenlos war. Die Loehne
stiegen proportional zur Produktivitaet - und sie mussten es
auch tun, da ansonsten niemand das Angebot haette kaufen
koennen.

Zusaetzlich realisierte die Bundesbank eine Unterbewertungs-
strategie der D-Mark, indem sie die Aufwertungen nur bedingt
zuliess, fachte durch die damit verbundene expansive Geld-
politik die Wirtschaft noch weiter an - und fuehrte das
rekonvaleszente Land sukzessive vom Import- zum Exportwelt-
meister.

Was hat das nun mit dem Heute zu tun? Nichts, aber auch gar
nichts! Heute gibt es (gluecklicherweise) kein zerstoertes
Land, keinen Nachholbedarf, keine Preiskontrollen - man muss
also nicht nur oekonomisch voellig unbelesen sein, um heutzu-
tage nach Ludwig Erhard zu rufen. Das soll Erhards Taten
nicht schmaelern, sie waren grossartig, doch sie haben mit
der Gegenwart nichts zu tun. Jetzt Erhards Wirtschaftskonzept
anwenden zu wollen, waere, als ob man zum Mond fliegen und
vorher zum vor-kopernikanischen geozentrischen Weltbild zu-
rueckkehren wuerde. Wie hat Rocko Schamoni in seinem genialen
Lied "Der Mond" so schoen singen lassen: "Die Sonne geht auf
- und die Erde geht unter ..."

Die ganze Krise unserer Wirtschaft ist damit zum grossen Teil
auch eine Krise der Wirtschaftstheorie. Das ganze neoklassi-
sche Paradigma, auf dem der Liberalismus fusst, kennt naem-
lich nur eine Art von Arbeitslosigkeit - und dies sind Frik-
tionen auf dem Arbeitsmarkt. Mit der Gegenwart hat das na-
tuerlich nichts zu tun, denn laengst gibt es auf den Arbeits-
maerkten all das, was die Unternehmen immer gefordert haben:
sinkende Loehne, befristete Arbeitsverhaeltnisse, kostenlose
Praktikantenjobs ... Kein Wunder, dass alle so ratlos sind.
Sie denken in Theorien, die Arbeitslosigkeit gar nicht thema-
tisieren kann.

Keynes, der seine Werke unter dem Einfluss der Deflation und
der Depression der Dreissiger Jahre geschrieben hat, hat uns
hingegen gelehrt, dass Arbeitslosigkeit nichts mit dem Ar-
beitsmarkt zu tun hat - und dass die Investitionen der Unter-
nehmen von der Ertragserwartungen abhaengig sind, die sich
wiederum hauptsaechlich nach den erwarteten Nachfragekompo-
nenten richten. Erstaunlich, dass sich niemand bei uns damit
beschaeftigt, sondern alle nur mit ihren Erhardschen Hirnge-
spinsten im Kopf durch die Gegend lustwandeln. Vielleicht
sollten wir lieber den Osterhasen um Rat fragen.

In diesem Sinne wuensche ich ihnen ein frohes Fest!
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Alt 06-04-2005, 16:46   #64
621Paul
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Der Glaube beherrscht die Tatsachen

Liebe Leser, ich danke sehr herzlich für das nette Feedback zu meiner Kolumne über den Tod des Papstes von letztem Montag, den 4.4. Ich finde auch, dass es eine meiner gelungensten war – auf jeden Fall eine der moralisch ergreifendsten. Doch nun sollten wir aus dem Reich der Moral wieder in das Reich der Wirklichkeit zurückkehren. Für den Papst beinhaltet das eine gute und eine schlechte Nachricht. Die schlechte lautet: Er wird keinen Eingang in die Himmelspforte finden, weil es gar keine Himmelpforte gibt. Und die gute lautet: Das wird ihn nicht bedrücken. Er merkt davon nämlich nichts, weil er ja tot ist.

Jetzt lassen Sie das bitte einmal einen Moment stehen, liebe Leser. Gehöre ich jetzt nicht eigentlich auf den Scheiterhaufen? Lassen Sie es noch einen Moment stehen – und lassen Sie an ihrem inneren Auge vorbeiziehen, was sich derzeit in Rom abspielt. Und dann können wir sogleich an die Börse zurückkehren.

Und was sehen wir jetzt? Auch an der Börse läuft das Geschehen letztlich nicht anders ab als in der Religion. Es gibt tief verwurzelte, fast schon im Unterbewusstsein festgesetzte Glaubensinhalte, denen ein überwiegender Teil der Menschen bedingungslos huldigt. Überprüfen lassen sich diese Glaubensinhalte nicht. In der Religion nicht, weil sie im Jenseits liegen. Und an der Börse nicht, weil das menschliche Handeln nicht unabhängig vom Glauben analysiert werden kann.

Immanuel Kant hat überzeugend aufgezeigt, dass man das Dasein Gottes genauso folgerichtig beweisen kann wie den entgegengesetzten Fall, nämlich dessen Nichtexistenz. Kants Schluss daraus lautete: „Ich musste das Wissen aufheben, um für den Glauben Platz zu schaffen.“ Jahrhunderte haben wir seitdem für Demokratie und Selbstverantwortung gekämpft, doch alles sieht so aus, als ob gerade im Zeitalter der maximalen Aufgeklärtheit und der Herrschaft des vermeintlich so nüchternen Geldes die alten Prinzipien weiterhin die Herrschaft über uns behalten haben.

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Alt 08-04-2005, 20:26   #65
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Ende der Diskussion

Meine Diskussion mit Reinhard Deutsch über die Zukunft des Weltwährungssystems bei instock.de ist zu Ende. Sie ist erwartungsgemäß ausgegangen wie das Hornberger Schießen: Kurz vor dem entscheidenden Schuss wurde festgestellt, dass gar kein Pulver da ist.

Man kann es fast als einen allgemeingültigen Fall betrachten: In den Bereichen menschlicher Handlungen gibt es keine Möglichkeit, Theorien an der Wirklichkeit zu überprüfen. Jeder kann alles behaupten und jeder kann an das glauben, was er will. Wer glaubt, es seien die Sterne, die die Kurse machen, wird ebenso wenig durch eine Überprüfung an der Wirklichkeit zu überzeugen sein wie derjenige, der eine Korrelation der Aktienkurse mit der Anzahl eingewachsener Zehennägeln der rechten großen Zehen ausgewachsener männlicher Mitteleuropäer im Alter von 29 bis 51 Jahren behaupten würde.

Und schafft man schon nicht die Überprüfung an der Wirklichkeit, so wird die Auseinandersetzung über Logik und Folgerichtigkeit erst recht zum Fiasko. Denn man kann es immer drehen und wenden wie man will. Im Kopf, in den Zahlen – und in den Statistiken sowieso. Die einzige Wahrheit, die es an den Märkten gibt, ist, dass es keine Wahrheit gibt. Und nicht einmal das ist eine Wahrheit.

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Alt 10-04-2005, 11:30   #66
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Vom Lob des Stillstandes

Von Dr. Bernd Niquet

Ich danke sehr herzlich fuer die vielen Zuschriften, die ich
zu meinen Kolumnen der letzten Wochen zum Zustand der Wirt-
schaft und der Wirtschaftspolitik bekommen habe. Die meisten
Leser meinten, dass wichtige Punkte hier ausgespart wurden:
die ungeheure Buerokratie, die Angstmacherei bei der Gentech-
nik, die Abneigung vieler Menschen, tatsaechlich eine neue
Arbeit annehmen zu wollen, um nur einige zu nennen. Ich will
dem gar nicht widersprechen, interessant daran ist jedoch,
dass sie sich alle letztlich auf den gleichen Punkt beziehen.

Und dieser Punkt ist das herrschende neoklassische oder neo-
liberale Denken, das sich mittlerweile anscheinend so fest
eingegraben hat in unser Denken, dass es von kaum jemandem
mehr hinterfragt wird. Neoklassik und Neoliberalismus behaup-
ten:

(1) Der Markt wird alles richten. (Bei freien Maerkten und
flexiblen Preisen findet jeder eine Beschaeftigung und
jedes Produkt einen Abnehmer.)

(2) Wenn etwas nicht funktioniert, muss es daran liegen,
dass der Markt in seiner Aufgabe behindert wird.

(3) Arbeitslosigkeit hat also stets ihre Gruende in Markt-
behinderungen und daraus folgenden Marktineffizienzen.

Konkret: An der Arbeitslosigkeit sind schuld: starre Tarif-
vertraege, nach unten inflexible Loehne, teure Lohnneben-
kosten, zu hohe Sozialhilfesaetze, Immobilitaet, Drueckeber-
gertum - also alles Dinge, die das freie Walten der Maerkte
behindert. Folglich muss hier angesetzt werden, so die herr-
schende Lehre. Dem Markt muss zum vollen Durchbruch verholfen
werden. Hartz IV ist ein Paradebeispiel dieses Denkens.

Wir muessen also reformieren, reformieren, reformieren - und
dann werden wir aus der Talsohle schon wieder heraus kommen.
Doch ist das eigentlich wirklich wahr? Liegen wir hier nicht
vielleicht einem Zerrbild auf? Kann es nicht sein, dass der
Markt es gar nicht schafft, alles zu richten? Dass wir mit
dem Makel von Unterbeschaeftigung und Unterauslastung auch
weiterhin werden leben muessen? Und dass das zwar unbefriedi-
gend ist, aber immer noch besser, als wenn man jetzt ein gan-
zes Land durch den Fleischwolf dreht?

In der oeffentlichen Diskussion werden Idealvorstellungen
produziert, die fast schon etwas Religioeses an sich haben.
Die Reformwut zeigt durchaus Aehnlichkeiten mit der Spekula-
tionswut am Neuen Markt vor einigen Jahren. Ob das Resultat
letztlich vielleicht das Gleiche sein wird? Was wuerde denn
passieren, wenn wir ploetzlich alle arbeitsrechtlichen Rege-
lungen streichen, die Buerokraten rausschmeissen, alle Inves-
titionen sofort genehmigen, Tarifvertraege abschaffen? Es
gaebe sicherlich sofort eine neue Gruenderzeit - und an-
schliessend eine grosse Gruenderkrise. Und dann? Dann koennen
wir unsere Demokratie wahrscheinlich gleich irgendwelchen
Extremisten uebereignen.

Nein, nein, ich habe hier ein ganz anderes Bild. Natuerlich
ist vieles hierzulande ein Aergernis. Doch die Unbeweglich-
keit hat auch ihr Gutes. Gerade dass bei uns vieles nicht
geht, macht unser Land so erfolgreich. Etwas pointiert aus-
gedrueckt: In einem in vieler Hinsicht unbeweglichen Sozial-
wesen, findet jedes Toepfchen irgendwie sein Deckelchen, auch
wenn das vielleicht nicht unbedingt geil, schrill oder bunt
ist. In einer voellig freien Gesellschaft hingegen finden
viele Toepfchen gleich mehrere blitzend-glaenzende Deckel-
chen. Wie das jedoch insgesamt aufgehen soll, das weiss kei-
ner so recht. Da bleibt allein der Glaube an die Kraft der
Religion. Ein schoenes Begraebnis wuensche ich! "A nette
Leich'", wie der Wiener sagt, haben wir ja (fast) schon.


++++++

Bernd Niquet ist Boersenkolumnist und Buchautor.
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Alt 11-04-2005, 14:36   #67
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Montag, den 11.04.05

Haben wir eigentlich überhaupt eine Chance, die Börse zu begreifen? Etwas verstehen oder begreifen zu können, setzt immer entweder das physische Anfassen (Be-Greifen) voraus – oder zumindest einen passenden Fundus von Begriffen.

Ich denke, dass wir schon bei den Grundbegriffen „Geld“, „Kredit“ und „Defizit“ so gründlich scheitern, dass wir uns jede weitere Diskussion über die Börse eigentlich ersparen können. Jeder versteht unter allem etwas anderes – so dass alle auf ewig aneinander vorbei säuseln. Aber letztlich ist das ja gut so, schließlich funktioniert die Börse nur dann, wenn es – trotz Konstanz und Identität aller Daten – unterschiedliche Meinungen gibt.

Über Geld oder Defizite möchte ich heute nicht reden. Am Wochenende sind mir zwei andere Begriffe aufgefallen: Globalisierung und Wildkirsche. Haben Sie schon einmal einen kirschparfümierten Tee getrunken? Erstaunlich, dass alle diese Teesorten, so künstlich sie auch immer sind, „Wildkirsche“ heißen. Weiß eigentlich überhaupt jemand, was eine Wildkirsche ist? Hat schon mal jemand so etwas gesehen oder angefasst? Ich nicht. Ich kenne nur zahme Kirschen. Wahrscheinlich ist eine Wildkirsche also genau das Gleiche wie ein Leistungsbilanzdefizit. Das kennen alle auch nur vom Hörensagen und niemand weiß so genau, was sich dahinter verbirgt und welche Auswirkungen es hat.

Dass wir in einer „globalisierten Welt“ leben, ist auch eine lustige Geschichte. „Global“ bedeutet, „auf die ganze Welt bezogen“. Und „globalisiert“? „Liberal“ ist „freiheitlich“ und „liberalisiert“ bezeichnet den Prozess, der dahin führt. Also bedeutet „globalisiert“ zu bewirken, dass die Welt sich auf sich selbst bezieht. In einer „globalisierten Welt“ zu leben heißt also in einer Welt zu leben, die darauf hingeführt wird, sich auf sich selbst zu beziehen.

Das klingt irgendwie nach dem Versuch von Schizophrenen, sich Auseinandergefallenes wieder zusammenzubasteln. So als ob die Welt nicht mehr mit sich selbst identisch war – und jetzt dorthin geprügelt werden muss. Vielleicht ist das ja auch – trotz aller Paradoxie – die richtige Erklärung. Der ums sich greifenden Schizophrenierung muss mit allen Mitteln entgegengewirkt werden. Wie unsinnig die Mittel dazu auch immer sein mögen. Der Papst hat uns das ja vorgelebt – und die Pilger leben es nach. Wir brauchen wieder ein stimmiges Weltbild!

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Alt 15-04-2005, 13:45   #68
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15.04.05
Am Dienstag fand sich in der Financial Times Deutschland ein Artikel des Kolumnisten Lucas Zeise mit dem Titel „Der wahrscheinliche Crash“. Zeise behauptet hier, dass es demnächst wahrscheinlich einen Crash an den Märkten geben wird. Seine Argumentation lautet:

„Wenn sich zu viel Geld im Umlauf befindet, gibt es grundsätzlich zwei Lösungen, wie es neutralisiert wird. Das eine ist die Inflation der Güterpreise ... Die andere Möglichkeit ist die Deflation der Asset-Preise. Das in Wertpapieren und Immobilien gebundene Geld würde einfach dahinschmelzen oder entwertet. Ein solcher Crash scheint heute die viel wahrscheinlichere Variante zu sein.“

Machen wir einen kurzen Grundkurs. Geld kommt dadurch in Umlauf, indem Zentralbanken Aktiva dauerhaft ankaufen oder auf Zeit in Pension nehmen – und dafür Geld emittieren. Spiegelbildlich kann daher, wenn „zu viel Geld in Umlauf“ ist, dieses Geld auch nur dadurch wieder aus dem Kreislauf hinaus gelangen, indem die Zentralbank das genaue Gegenteil des eben Beschrieben macht. Das Geld verschwindet aus dem Umlauf, wenn die Zentralbank Assets verkauft oder die Pensionsgeschäft zurückführt. So einfach kann das manchmal sein.

Doch wie kommt Zeise nun auf seine abweichende Sichtweise, die dadurch noch umso bizarrer ist, indem er behauptet, dass das „zu viele Geld“, was immer das sein mag, sowohl durch Inflation (der Güterpreise) als auch durch Deflation (der Assetpreise) beseitigt werden kann. Eines von beidem geht ja wohl nur. Zeise kommt darauf, weil er verwechselt, dass Assets in Geld bewertet werden, selbst jedoch kein Geld sind. Ich weiß, dass das schwer zu begreifen ist, schließlich habe ich lange genug an der Uni unterrichtet. Vermögensdeflationen schaffen kein Geld aus der Welt – und Vermögensinflationen bringen kein Geld in die Welt. Sie sind Änderungen der Vermögenspreise und haben mit dem Geldumlauf nichts zu tun. Und für die Bewertung von Vermögen gibt es tausend verschiedene Parameter – von den das Verhalten der Zentralbank nur einer von vielen ist. Geld selbst kommt nur durch Mitwirkung der Zentralbank in Umlauf und auch aus diesem wieder heraus. Keinesfalls jedoch durch die Veränderung der Vermögenspreise.

Den von Zeise geschilderten „wahrscheinlichen Crash“ gibt es also nicht. Er ist ein Hirngespinst, das aus grober Unkenntnis der Funktionsweise einer Geldwirtschaft resultiert. Gleichrangig könnte man auch behaupten, mit der Zufuhr von Vitamin C eine Börsenhausse auszulösen.

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18.04.2005
und Blindgänger in den Chefetagen

Der SPD-Vorsitzende hat ganz schön auf den Putz gehauen. Natürlich ist das Wahlkampftaktik. Doch ich glaube, jeder reflektierte Mensch wird sehen, dass Müntefering mit seinen Thesen nicht völlig daneben liegt. Wir Börsianer wissen sicherlich viel zu gut, dass wir wie Heuschreckenschwärme über Unternehmen und ganze Volkswirtschaften herfallen, unsere Ernte einfahren und hinterher wieder abziehen. Niemand von uns wird behaupten können, dass Müntefering hier nicht Recht hat mit seiner Analyse.

Die Frage ist nur, ob es eine Alternative zum gegenwärtigen Stand der Dinge gibt. Merkwürdigerweise wird diese Frage in den Medien nicht einmal andiskutiert. Es werden überall schwere Geschütze aufgefahren und der Gegner mit Glaubensbekenntnissen bombardiert. Was der Chefredakteur der „Welt am Sonntag“ hierzu geschrieben hat, ist ein Paradebeispiel dafür. Er zeigt sehr deutlich, dass unsere Medien-Elite nichts taugt.

Keese wirft Müntefering vor, zum Klassenkampf zurückkehren zu wollen und zum Antikapitalismus aufzurufen. Müntefering hat den völligen Laissez-faire-Kapitalismus kritisiert, doch Derartiges habe ich nicht aus seinen Äußerungen heraus gelesen. Wer sich mit Freud beschäftigt hat, erkennt im ausschließlichen Denken in Extremen ein neurotisches Phänomen, eine Unreflektiertheit, die einen realistischen Blick auf die Realität verstellt.

Keeses ganzer Kommentar erinnert mich an den Nachbarjungen, der brav beim Essen sitzt und das Einzige, was von ihm zu hören ist, ist „Ja Pappi, du hast Recht!“ An der freien Marktwirtschaft, so führt Keese anhand von acht Thesen aus, ist alles gut und richtig. Eine Kritik daran darf es folglich nicht geben. Ja Pappi, du hast Recht! So ein Maß an Unterwürfigkeit hätte ich in den Chefetagen nicht vermutet. Und so viel Unreflektiertheit auch nicht. Denn es ist schon rein logisch völlig unmöglich, dass ein System nur Gutes beinhaltet und die Kritik daran nur Schlechtes. Wer so etwas behauptet, ist genauso totalitär wie sein Pendant auf Seiten des Kommunismus.

Und wo bleibt eigentlich das Demokratieverständnis? 70 Prozent der Deutschen, zitiert Keese eine Forsa-Umfrage, glauben, dass der Kapitalismus außer Kontrolle gerät, wenn der Staat ihn nicht bändigt. Zählt das etwa nicht? Leben wir nicht in einer Demokratie? Nein, natürlich nicht, denn Pappi hat immer Recht. Und jeder Widerspruch ist verboten.

Ich hoffe inständig, dass es in den Führungsetagen auch innergesteuerte Menschen gibt, die sich eine eigene Meinung gebildet haben, die sich von den Dogmen befreit haben und nicht mehr gebetsmühlenartig das nachbeten müssen, was Pappi ihnen gesagt hat.

Es hat aber auch sein Lustiges. „Es ist menschlich, Geldgebern einen fairen Zins für ihr riskiertes Kapital zu gewähren“, schreibt Keese. Ist es etwa unmenschlich, das nicht zu tun? „15 Prozent nach Steuern auf das Eigenkapital wie die Deutsche Bank das anstrebt, sind angemessen, denn das hohe Risiko einer Aktie muss mit höherem Zins entgegolten werden als das niedrige Risiko eine sicheren Staatsanleihe.“ Ein Glück, dass wir jetzt jemanden haben, der das beurteilen kann.

Und: „Menschlich ist es auch, Geld zu investieren, denn das schafft Arbeitsplätze.“ An dieser Stelle muss ich jedoch alles Vorherige sofort zurücknehmen. Denn eine schärfere Kritik an den Unternehmen habe ich noch niemals vorher gehört. Nicht zu investieren, ist also unmenschlich. Das ist wirklich starker Tobak. Schade nur, dass diese Erkenntnis ausschließlich im Zuge einer Freudschen Fehlleistung das Licht der Welt erblickt hat.

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Alt 20-04-2005, 14:06   #70
621Paul
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20.04.2005
Na bitte, der deutsche Papst bekommt den deutschen Aktien ja durchaus gut. Die Abwärtsbewegung ist vorerst gestoppt. Am 11. Februar habe ich an dieser Stelle geschrieben, die Märkte könnten „...noch bis weit ins Frühjahr hinein sehr gut laufen – und zwar sowohl der Bond- als auch der Aktienmarkt. Doch anschließend könnte es kritisch werden. „Sell in may and go away“ mag daher die richtige Strategie für das Jahr 2005 sein.“

Das war natürlich wie immer falsch, jedoch nicht völlig, denn der Bondmarkt hat sich – entgegen allen Erwartungen – gut gehalten, und auch der Aktienmarkt hat seitdem nur marginal verloren. Ist der Zug also gegenüber der obigen Prognose etwas zu früh abgefahren und die Aufwärtsbewegung zu gering ausgefallen? Oder gibt es jetzt ein völlig neues Szenario?

Mir scheint der Pessimismus so hoch zu sein, dass es weiterhin lukrativ ist, investiert zu bleiben. Zwei schlechte Börsentage, mehr ist ja nicht passiert. Und: Wie der Pessimismus wirkt, sieht man am Ölpreis. Dieser kommt herunter, doch das wird nicht positiv gedeutet, sondern eben negativ, weil die Nachfrage zu gering und die wirtschaftliche Verfassung damit schlecht sei. Als ob Spekulationsblasen etwas mit der Realität zu tun hätten ...

Lustig finde ich in derartigen Zeiten immer die Marktkommentare. Die Anleger verabschieden sich aus den Aktien, heißt es dann, sie schichten ihre Anlagen von den Aktien in die Bonds um. Das muss man sehr ernst nehmen, schließlich bedeutet das, dass viel mehr Aktien verkauft als gekauft werden. Sie liegen also irgendwo herum und man muss aufpassen, dass man nicht darüber stolpert.

Es ist also nicht nur der Heuschnupfen, der uns gegenwärtig bedroht, sondern auch die überall herumfliegenden Aktien. Dass man sie jedoch nicht sieht? Es gibt so viele Sachen, die man nicht sehen kann und die es trotzdem gibt. Wie die ganzen Pupse, die die Redakteure lassen, wenn sie ihre Marktberichte verfassen. Und wie die Angst, die dadurch überall erzeugt wird.

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Alt 22-04-2005, 14:19   #71
621Paul
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Freitag, den 22.04.05
Der Markt fürchtet sich

Ein Mann kommt zum Arzt: „Herr Doktor, mir geht es so schlecht. Ich habe bestimmt viel zu hohen Blutdruck:“ Der Arzt schaut ihn an. „Sie scheinen mir eher einen zu niedrigen Blutdruck zu haben.“
„Ist ja auch egal“, antwortet der Mann, „Hauptsache es erklärt, dass ich mich so schlecht fühle.“

Der Markt fürchtet, dass die Zinsen weiter steigen. Der Markt fürchtet, dass die Konjunktur weiter schwächelt. Der Markt fürchtet, dass wir in den USA Inflation haben. Der Markt fürchtet, dass wir in Europa Deflation haben. Der Markt fürchtet, dass die Aufweichung des Stabilitätspaktes negative Auswirkungen hat. Der Markt fürchtet die Diskussion um Mindestlöhne und die Abgrenzung des Arbeitsmarktes. Die Marktteilnehmer fürchten, dass die Kurse weiter sinken werden. Die Marktteilnehmer fürchten, dass auch die guten Unternehmensgewinne daran nichts ändern. Die Marktteilnehmer fürchten, dass auch ein sinkender Ölpreis das negative Szenario nicht tangiert.

Am meisten fürchten sich die Marktteilnehmer vor ihrer eigenen Furcht. Und ich fürchte, es ist immer der Ausgangspunkt der Suche, der bereits festlegt, was letztlich gefunden werden kann. Ich fürchte, wer Furcht sucht, wird auch Furcht finden. Das ist das Fürchterliche an der fürchterlichen gegenwärtigen Marktsituation. Doch wenn das Fürchterliche dann wieder vorbei ist, werden die sich Fürchtenden erst recht das Fürchten lernen. Es ist schon eine fürchterliche Welt, in der wir leben. So fürchterlich hoffnungslos. So hoffnungslos, dass das einzig Sichere die Furcht zu sein scheint. Doch nicht einmal das ist sicher. Ist das nicht fürchterlich?

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Alt 30-04-2005, 15:51   #72
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24.04.05

Mehr Beschaeftigung nur ueber Wachstum?

Von Dr. Bernd Niquet

Ein Dogma beherrscht unsere Gesellschaft. Es ist so fest ein-
zementiert, dass es sogar die kirchlichen Dogmen hinter sich
laesst. Dieses Dogma lautet: Neue Arbeitsplaetze gibt es nur
ueber Wachstum. Das klingt natuerlich auf den ersten Blick
sehr plausibel. Ein Mehr an Arbeitsplaetzen kann nur aus ei-
nem Mehr an Sozialprodukt entstehen. Wenn man mehr Wasser im
Teekessel haben moechte, dann muss man den Wasserhahn erneut
aufdrehen. Es gibt nach einer dunklen Nacht erst dann wieder
Helligkeit, wenn die Sonne morgens aufgegangen ist.

Der letzte Satz zeigt, wie falsch auch die auf den ersten
Blick einleuchtendste Weisheit sein kann. Denn die Sonne geht
nicht auf, sie ist der Fixpunkt unseres Universums. Wer also
ueber das Auf- und Untergehen der Sonne redet, der redet
theoriefern, der redet fuer Kinder, der redet in der Alltags-
sprache, die zwar trefflich fuer den Alltag geeignet ist,
aber spaetestens dann scheitern muss, wenn es gilt, eine
wirklich entscheidende Frage wissenschaftlich zu loesen.

Und genauso ist es mit der Arbeitslosigkeit. Das ist eine
wirklich wichtige Frage. Und wie wird darueber geredet? Ich
habe keine Patentloesung anzubieten; ich mache nur eine kurze
Bestandsaufnahme. Und diese zeigt: Es gibt keine einzige
Wirtschaftstheorie, die die Beschaeftigungsfrage mit Wachstum
verknuepft. Das muss man sich erst einmal auf der Zunge zer-
gehen lassen. Daher noch einmal:

Es gibt keine einzige Wirtschaftstheorie, die die Beschaefti-
gungsfrage mit Wachstum verknuepft. Alle Wirtschaftstheorien,
die den Weg von der Unterbeschaeftigungssituation zur Vollbe-
schaeftigungssituation thematisieren, sind statische Theori-
en. Das heisst: Das Thema Arbeitslosigkeit sowie das Thema
der Verbesserung dieser Situation wird dadurch analysiert,
indem statische Situation miteinander verglichen werden, in-
dem "Maengel" aufgedeckt und Beseitigungsprozesse simuliert
werden. Doch Wachstum hat mit allem nichts, aber auch gar
nicht zu tun.

(Der Vollstaendigkeit halber sei angefuegt: Sobald diese
Theorien dynamisiert werden, um Wachstumsprozesse zu analy-
sieren, setzt man jedoch das, was eigentlich gezeigt werden
soll, naemlich dass es Vollbeschaeftigung geben kann, (durch
die Annahme einer gegebenen Ressourcenmenge) immer bereits
voraus. Doch wenn ich Vollbeschaeftigung voraussetze, dann
kann ich keine Unterbeschaeftigung analysieren. Das ist si-
cherlich leicht einzusehen.)

Das heisst: Unsere gesamte oeffentliche - wie wissenschaft-
liche - Diskussion ueber das zentrale Problem unserer Volks-
wirtschaften geschieht im voellig theoriefreien Raum. Das
weist einerseits auf eine kolossale Unwissenheit der oeffent-
lichen Meinungstraeger und andererseits auf eine voellige
Degenerierung der Scientific Community. Warum ist das so?
Weil es entsetzlich schwierig ist, die Grundlagen des wirt-
schaftswissenschaftlichen Denkens klar herauszuarbeiten. Weil
es moeglicherweise keine positive Theorie gibt, die einen Weg
zum Abbau der Arbeitslosigkeit aufzeigt. Und weil es letzt-
lich viel einfacher ist, die eigenen Interessen durchzusetzen
als die Dinge gegeneinander abzuwaegen.

Dabei ist jeder Zugang zur Wirtschaft, jede einzige wirt-
schaftliche Erkenntnis, stets nur durch den Blick einer theo-
retischen Brille moeglich. Wir alle haben diese Brillen auf,
doch gleichzeitig bestreiten wir alle in nicht zu uebertref-
fender Heftigkeit, eben keine Brille aufzuhaben, sondern der
Wirklichkeit direkt ins Auge zu sehen. Dies ist einerseits
ein ernuechternder Befund, andererseits jedoch vielleicht
auch gar nicht so schlecht. Mein akademischer Lehrer, Hajo
Riese, sagt an dieser Stelle immer: Der Unterschied zwischen
Sozialismus und Kapitalismus ist, dass letzterer auch ohne
die Einsicht der Wissenschaft funktioniert. Oder anders for-
muliert: Dem Markt ist es egal, was man ueber ihn denkt. Er
funktioniert voellig unabhaengig davon.

Und ich bin geneigt, darauf noch einen draufzusetzen: Viel-
leicht ist eine gewisse Unfaehigkeit, den Markt zu verstehen,
sogar ein wichtiges Systembestandteil jeder Marktwirtschaft.
Denn wenn die einen nicht daemlich waeren, dann koennten die
anderen keine ueberdurchschnittlichen Gewinne erwirtschaften.
Die wirkliche Tragik liegt also wie immer bei allen Marktge-
schichten in der Verteilungsfrage.


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Alt 01-05-2005, 11:51   #73
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Deutschland - gefangen zwischen Ideal und Untergang

Von Dr. Bernd Niquet

In dieser Woche haben die Wirtschaftsforschungsinstitute ihr
Fruehjahrsgutachten vorgelegt. Ich war bei der Praesentation
dabei - und habe ganz genau hingehoert. Denn die Argumenta-
tion der Wissenschaftler ist wirklich interessant.

Deutschland befindet sich nicht in einer konjunkturellen
Krise, sagen die Forscher. Es gibt auch keinen Strukturbruch
bei den Investitionen. Wir haben einfach ein Wachstumsprob-
lem. Das Trendwachstum in Deutschland liegt bereits seit An-
fang der 90er Jahre zu niedrig.

Heraus kommen wir da nur, so die Institute, wenn die Reformen
weiter gehen, wenn wir die Wachstumskraefte staerken, der
Staatshaushalt konsolidiert und die Staatsquote gesenkt wird.
Doch wie soll das funktionieren? muss man jetzt fragen. Ers-
tens reformieren wir bereits seit etlichen Jahren wie zu
Luthers besten Zeiten. Und zweitens, wenn jetzt auch noch der
Staatsverbrauch zurueckgeht, wer soll dann ueberhaupt noch
als Nachfrager auftreten?

An dieser Stelle muss ich noch einmal auf das theoretische
Weltverstaendnis der herrschenden Lehre der Wirtschafts-
wissenschaft eingehen. Zum letzten Mal fuer einige Zeit, ich
verspreche es. Doch es ist wirklich so wichtig.

Bei voellig flexiblen Preisen und vollkommenen Maerkten
herrscht - bis auf eine gewisse Sucharbeitslosigkeit - ten-
denziell stets annaehernd Vollbeschaeftigung, so das Weltbild
unserer herrschenden Lehre. Denn jede Veraenderung wird durch
Preisanpassungen sofort korrigiert. Gehen Produktion und Be-
schaeftigung temporaer zurueck, dann sinken die Preise und
die Nominal-Loehne, womit der Realwert des Einkommens und da-
mit auch die Nachfrage stabil bleiben. Und letztlich ist
nichts passiert; der Markt hat alles wieder korrigiert und
angepasst.

Abweichungen von diesen Anpassungsmassnahmen kann es nach
dieser Sichtweise nur dann geben, wenn die Maerkte nicht
richtig funktionieren - sprich: Wenn die Preise und Loehne
nicht flexibel genug reagieren. Aus diesem Grund - UND GENAU
AUS DIESEM GRUND - wird heute ein Reformprogramm nach dem an-
deren eingefordert. Sobald nur alle genug flexibel sind, wird
sich alles zum Guten wenden, erzaehlen uns die Politik, die
Wissenschaft und die Unternehmerverbaende an jedem Tag stets
von neuem.

Was allerdings kaum jemand dabei thematisiert, ist, dass hier
auch das Geld, die Zeit und die Erwartungen eine Rolle spie-
len. In Zeiten grosser Unsicherheit und negativer Zukunfts-
erwartungen wird Geld gehortet - bei den Haushalten in Form
von Nichtkonsum und bei den Unternehmen als nicht investierte
Gewinne. Gewinne, die an den Kapitalmaerkten angelegt, ins
Ausland verschoben oder sonst wo gebunkert werden. Und ein
Angstsparen bei den Haushalten, das genau die gleiche Wirkung
hat.

Die Nachfrage faellt aus, und die Reformprogramme machen aus
der kleinen Krise recht bald eine grosse Krise. Ein ganzes
Volk dreht sich selbst durch den Fleischwolf. Und uebrig
bleiben lauter Schnitzel, von denen die einen nur noch den
Untergang sehen - und die anderen ebenso zwanghaft am selbst-
konstruierten Ideal der Selbstheilungskraefte des Marktes
festhalten. Und wenn das eben nicht funktioniert, dann ist
keineswegs die Theorie schuld, sondern dann muessen dem Markt
nur erst recht Beine gemacht werden.


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Alt 08-05-2005, 12:37   #74
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Sonntag, der 8. Mai. 2005
Die entscheidende Unterscheidung

Von Dr. Bernd Niquet

Deutschland zerfleischt sich derzeit in einer Diskussion
ueber unser Wirtschafts- und Finanzmarktsystem. Ich habe den
Eindruck, dass hier vieles durcheinander geworfen wird. Ich
denke, die entscheidende Unterscheidung, die zu treffen ist,
muss die zwischen Unternehmern und Kapitalanbietern sein.
Letztere nenne ich in Tradition der Berliner Schule der Geld-
wirtschaft am liebsten "Vermoegensbesitzer".

Die Vermoegensbesitzer sind die Eigentuemer oder Verwalter
aller angesparten Vermoegen. Ihr Ziel ist es, weltweit anzu-
legen und dadurch eine Vermoegenssicherung und Vermoegens-
mehrung zu erzielen. Sie sind diejenigen, die die Bedingungen
setzen nach denen ein Engagement entweder lukrativ oder das
eben nicht ist. Sie sind diejenigen, die die Renditeanforde-
rungen stellen. Sie sind die Maechtigen. Sie sind die Bestim-
mer. Sie sind die Treiber der Meute.

Die Unternehmer sind hingegen eher arme Schweine. Sie sind
die Getriebenen. Sie brauchen das Kapital. Sie sind Kapital-
nachfrager. Und um das Kapital zu bekommen, muessen sie Leis-
tung zeigen. Wenn sie Arbeitsplaetze abbauen und/oder die
Rendite erhoehen, dann machen sie dies nicht, weil sie es
wollen, sondern weil sie es muessen, um wirtschaftlich ueber-
leben zu koennen. Weil die Bestimmer ihnen sonst das Kapital
entziehen, sie aufkaufen oder ansonsten durch den Fleischwolf
drehen.

Die Reizfigur Josef Ackermann, an deren Verhalten sich letzt-
lich die ganze Debatte entzuendet hat, ist aus dieser Sicht-
weise sicherlich eher ein Getriebener als ein Treiber. Er
ist, pointiert ausgedrueckt, eher ein Opfer als ein Taeter.
Dass die Deutsche Bank eine derartig hohe Rendite erwirt-
schaften muss, hat weniger mit den nationalen Unternehmens-
bedingungen zu tun als mit den weltweit liberalisierten
Finanzmaerkten. Schafft es Ackermann nicht, die Rendite zu
steigern, dann wird dem Unternehmen zuerst das Kapital entzo-
gen und der Aktienkurs in den Keller getrieben. Anschliessend
wird es dann aufgekauft und verliert seine Selbstaendigkeit.
Und ob damit den Arbeitnehmern der Deutschen Bank geholfen
ist, das sollten alle Ackermann-Kritiker durchaus einmal ganz
genau bedenken.

Die wirklichen Verursacher der gegenwaertigen Krise - also
sozusagen "die Schuldigen" - sind daher keinesfalls die Un-
ternehmen. Und schon gar nicht die vielen kleinen und mit-
telstaendigen Unternehmer in unserem Land. Sie muessen viel-
mehr knueppeln und buckeln, um im dem ungeheuren Konkurrenz-
kampf bestehen zu koennen.

Das wirkliche Problem liegt in den voellig liberalisierten
Finanzmaerkten. Die voellige Freiheit aller Kapitalbewegungen
treibt nicht nur die Nationalstaaten in einen gnadenlosen
Konkurrenzwettbewerb um Niedrigsteuern, sondern eben auch die
Unternehmen in eine Spirale aus immer niedrigeren Kosten und
immer hoeherer Rendite. Sie alle werden ausgepresst wie die
Zitronen (um einmal einen pflanzlichen und keinen tierischen
Vergleich zu bringen). Und wenn der Saft versiegt ist - dann
tschuess. Hopp uff, abgespritzt - und ab zur naechsten.

In all dem gibt es natuerlich Unschaerfen. Es gibt Unterneh-
mer, die ausschliesslich mit Eigenkapital arbeiten, und es
gibt Vermoegensbesitzer, die selbst zu Unternehmern werden -
wie beispielsweise die Private-Equity-Gesellschaften. Sie je-
doch alleine an den Pranger zu stellen, ist unfair und
falsch. Das wirkliche Problem liegt woanders. Und es ist
nicht nationalstaatlich, sondern nur international zu loesen.
Das ist das Schlimme, und das macht es fast unloesbar -
momentan jedenfalls.

Wir brauchen in Europa dringend eine in allen Staaten iden-
tische Steuerlast. Und wir werden auch nicht umhin kommen,
die internationalen Kapitalbewegungen auf irgendeine Art wie-
der einzufangen und zu kontrollieren. Das ist meine feste
Ueberzeugung. Das klingt natuerlich nach den Rezepten von
Gestern. Doch nicht alles, was neu ist, ist auch gut. Der
Neoliberalismus hat den Zauberbesen befreit. Und derzeit
erleben wir voellig machtlos, wie er uns alle heftig ab-
buerstet.


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Alt 15-05-2005, 13:02   #75
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Pfingsten, den 15.05.2005
Sich taeglich in den Staub werfen

Von Dr. Bernd Niquet

60 Jahre ist das Ende des Zweiten Weltkriegs her. Die Wunden
sind noch nicht verheilt. Es kann keinen Schlussstrich geben.
Es ist richtig, denke ich, dass wir Deutschen den Kopf senken
und demuetig bleiben.

Betrachtet man unser Wirtschaftsleben moeglichst unvoreinge-
nommen, dann sieht man hier erstaunlicherweise ganz aehnliche
Mechanismen. Mir faellt das ganz besonders auf, wenn ich den
Chefredakteur der Welt am Sonntag lese. Und die Dame, die an
jedem zweiten Montag ihren Kommentar in der Financial Times
Deutschland abgibt. Oder die Lobbyisten der Industrie und der
Kapitaleigner: Hier werfen sich Menschen vor aller Augen
staendig in den Staub. Wenn wir nicht machen, was die Inves-
toren wollen, sagen sie uns, dann wird es bald aus sein mit
uns.

Jetzt haben wir einen deutschen Papst und es ist spannend, ob
das hierzulande zu einem verstaerkten Zulauf zu den Kirchen
fuehrt. Haben wir eine neue Religiositaet zu erwarten?

Alles sieht danach aus, als ob das, was wir gemeinhin als
"Kapitalismus" bezeichnen, zur neuen Religion geworden ist.
Die Gleichheit des Denkens ist jedenfalls ins Auge springend:
Das Dasein und die guetige Regentschaft Gottes laesst sich
nicht beweisen. Man kann nur daran glauben - oder eben nicht.
Ein Aufbegehren gegen Gott wird jedoch unter die groesst-
moegliche Strafe gestellt. Es wird zwar Kreativitaet und
Eigensinn gefordert, doch nur in dem Rahmen, sich selbst-
staendig zu Gott zu bekennen. Ansonsten wird voellige Demut
gefordert. Wir sollen zu Kreuze kriechen, uns in den Staub
werfen und allen eigenstaendigen Gedanken abschwoeren. Wir
sollen keine anderen Goetter haben neben dem einzigen und
wirklichen Gott.

Es ist die Erkenntnis, die uns aus dem Paradies vertreiben
hat. In diesem und in jenem Falle. Deswegen sind wir Busse
schuldig. Das ganze Leben muessen wir Abbitte leisten. Das
ganze Leben ist eine grosse Prozession. Es reicht jedoch
nicht, sich selbst zu kasteien, nein, wir muessen bei unserer
Prozession mit der Zunge den Boden ablecken, um den Vertre-
tern Gottes in unserem Land einen wuerdigen Empfang zu bie-
ten.

Und wir muessen aufblicken zu den selbsternannten Maertyrern,
die sich, wie die Obengenannten, frisch aus dem Staub gekro-
chen, oeffentlich ans Kreuz schlagen, um fuer uns alle das
Leiden auf sich zu nehmen. Sie sind die wirklichen Helden un-
serer Zeit. Ihr Glaube ist so stark und so ueberirdisch, dass
er von keiner Logik dieser kleinen Welt erreicht werden kann.
Und sie predigen die Unterwerfung, doch schaffen es genau da-
durch, sich ueber die anderen zu erheben.

Sie haengen am Kreuz und halten uns ihre Predigt. Das ist
auch gut und richtig so. Denn von der selbstbewussten und
freien Politikerkaste wollen wir uns doch alle schon laengst
nichts mehr sagen lassen.

In diesem Sinne wuensche ich ein schoenes Pfingstfest. Welche
religioese Bedeutung hat eigentlich Pfingsten? Ich habe gera-
de einmal nachgeschlagen: Pfingsten gilt als Fest der Herab-
sendung des Heiligen Geistes. Besser kann man die aktuelle
Gegenwart in unserem Land sicherlich nicht beschreiben.

In diesem Sinne wuensche ich ein schoenes Pfingstfest. Und:
Ducken Sie sich, damit Sie nicht allzu viel abbekommen!


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